Universalschmerz
Wie wird aus einer fantastischen Idee eine (bis auf wenige Momente) miserabel erzählte Geschichte? Der Film «Everything Everywhere All at Once» führt es vor.
Von Theresa Hein, 16.06.2022
Das Bedürfnis, in einem bestimmten Bereich des Lebens sehr gut oder gleich perfekt zu sein, kennen wohl viele Menschen. Geradezu befreiend ist es aber, wenn man anerkennt, mit dieser oder jener Fähigkeit im Mittelfeld zu liegen. Wer das schafft, kann nämlich damit aufhören, einer idealen Vorstellung von sich selbst hinterherzuhecheln.
Damit sind wir schon beim Grundgedanken des Films «Everything Everywhere All at Once» des Regieduos Daniel Kwan und Daniel Scheinert, der heute in die Deutschschweizer Kinos kommt. Der Erfolg dieses Films ist enorm. Mit den bescheidenen Etiketten «Kinoerfolg des Frühsommers» und «Film des Jahres» wurde der Film in der deutschsprachigen Medienlandschaft bedacht. Die «New York Times» hat «Everything Everywhere All at Once» nicht weniger als drei Rezensionen (eine allgemein, eine spezifisch-thematisch, eine szenisch) gewidmet. Der Film ist jetzt schon derjenige mit dem höchsten Einspielergebnis (etwa 80 Millionen Dollar) der Produktionsfirma A24, die unter anderem den Oscargewinner «Moonlight» und den Independentfilm «Lady Bird» in ihrem Programm weiss.
«Everything Everywhere All at Once» ist die Geschichte über das menschliche Bedürfnis, ein immer noch besseres Leben zu haben. Ein Kassenschlager ist der Film ausserdem. Und ein Kritikerliebling.
Aber ist es ein guter Film?
Weil es um das Leben mit und in Paralleluniversen geht, ist die Genrezuschreibung des Films entsprechend schwierig. Weder Science-Fiction noch Fantasy trifft so richtig zu, am ehesten könnte man vielleicht sagen, es handle sich bei dem Film um «Speculative Fiction», mit Spekulation angereicherte Fiktion. Das trifft es auch deswegen gut, weil es die meiste Zeit um die verhängnisvolle Frage des «Was wäre, wenn?» geht – die Frage danach, wie sich das eigene Leben verändert hätte, wenn man zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt im Leben eine andere Entscheidung getroffen hätte.
Die von Michelle Yeoh gespielte Evelyn Wang steht im Mittelpunkt des Films. Evelyn ist chinesische Einwanderin erster Generation, besitzt mit ihrem Mann Waymond in den USA einen Waschsalon und ist zu einer zweifelhaften Ehre gekommen: Sie kann zwischen unzähligen Paralleluniversen hin- und herspringen. Zu Hause in «ihrem» und «unserem» Universum, zum Zeitpunkt, an dem wir Zuschauerinnen in den Film einsteigen, hat Evelyn das Gefühl, auf ganzer Linie zu versagen. Es knirscht ziemlich zwischen ihr und ihrer lesbischen Tochter Joy (Stephanie Hsu). Evelyn hat sich entschlossen, ihrem Vater und Joys Grossvater nichts von Joys Freundin zu erzählen, was ihr Joy nicht ganz zu Unrecht als Scham auslegt. Evelyns Mann Waymond (Ke Huy Quan) will die Scheidung, weil das einzige emotionale Thema, das er mit seiner Frau teilt, die Steuererklärung ist. In jener Steuererklärung hat Evelyn unter anderem eine Karaokemaschine abzusetzen versucht, weswegen eine Mitarbeiterin der Finanzbehörde (Jamie Lee Curtis) mit Frustbäuchlein und kanariengelbem Wollpullover Familie Wang die Hölle heissmacht.
Mittelmass wird Heldentum
«Ich bin in nichts gut», hören wir Evelyn einmal verzweifelt sagen. Genau deswegen, wird ihr erklärt, könnte es gerade ihr gelingen, die Paralleluniversen und ihr eigenes Universum zu retten. Denn wer «in nichts gut» ist, ist zu allem in der Lage. Absolute Mangelhaftigkeit als Superpower: Evelyn Wang wird Antiheldin und Heldin in einer Person. Eine grossartige Idee. Leider wird sie bis auf einen liebevoll inszenierten Nebenstrang ziemlich verschenkt.
Kurz zusammengefasst: In den Paralleluniversen wird Evelyn behandelt wie eine Auserwählte, die alle Universen vom Bösen in Form einer Frau namens Jobu Tupaki befreien soll. Weil Evelyn notgedrungen auch kämpfen lernen muss wie eine Superheldin, schnappt sie sich aus all den Leben, die ganz anders abgelaufen sind als ihr eigenes, jeweils eine Fertigkeit, in der dann die Parallel-Evelyn brilliert. Die Evelyn aus «unserem» Universum hat am Ende des Films die gesteigerte Lungenkapazität aus ihrem Leben als Opernsängerin, die Reaktionsgeschwindigkeit aus ihrem Leben als Mixed-Martial-Arts-Grösse sowie die innere Ruhe eines Felsens, der sie in einem weiteren Universum zu sein verdammt ist.
Ausserdem kann Evelyn erstaunlich geschickt mit ihren Füssen Gegner ausschalten, weil in einem Paralleluniversum ihre Hände nutzlos geworden sind – anstelle von Fingern besitzt sie Hotdogs. Und auch wenn sie alle diese Fähigkeiten zurück in ihrem Heimatuniversum verloren hat, ist sie um eine wesentliche Erfahrung reicher, die man ansprechen kann, ohne zu viel zu verraten (weil sie so naheliegend ist): Es ist nicht nur müssig, sich zu wünschen, ein anderes Leben zu führen. Der Wunsch lenkt auch noch vom Leben im Hier und Jetzt ab.
Wem das bis zu diesem Punkt noch nicht zu abgefahren klingt, der hat gute Chancen, «Everything Everywhere All at Once» zu mögen. Die ausufernde Handlung allein ist allerdings keine Schwäche des Films. Zwei andere Entscheidungen sind es, die dieser ungewöhnlichen Reise durch die Universen, die ja durchaus interessant wäre, ihren Reiz nehmen. Einerseits ist da der Humor, der verhängnisvollerweise ziemlich im Zentrum steht. Der Film weiss zwar ganz offensichtlich, dass er Quatsch macht, so sehr wird der Klamauk in jeder Szene überbetont. Über die Flatulenz-Witzchen des Films «Swiss Army Man» (der erste Spielfilm des Regie-Duos Kwan/Scheinert, in dem Daniel Radcliffe eine pupsende Leiche spielte) geht der Humor aber nicht wesentlich hinaus. Natürlich, nachträgliche Tiefgründigkeit lässt sich diesem Film leicht attestieren, es gibt genügend Metaebenen. Nur ändert das nichts am Humorniveau.
Ein besonders schmerzhaftes Beispiel, im Wortsinn: Damit ein «Sprung» in ein anderes Universum gelingt, muss ein Mensch etwas ganz Absurdes und Seltsames tun. Ein wild gewordener Sicherheitsbeamter, der Evelyn umbringen will, setzt sich, um in ein anderes Universum zu gelangen, mit nacktem Hintern auf einen kleinen, eindeutig geformten Briefbeschwerer. Natürlich erreicht man so ein neues Universum – der Banalität. Ein high five zwischen den beiden Regisseuren (die sich aufgrund ihrer gleichen Vornamen nur «Daniels» nennen lassen) ist an dieser Stelle beinahe hörbar.
Gibt es noch eine Alternative zu «Claire de lune»?
Im Vorfeld dieser Aktion ist der Wachmann schon eine Weile mit verpixeltem, nacktem Unterkörper herumgelaufen. Was zur zweiten Schwachstelle des Films führt, ebenfalls eine bewusste Entscheidung der Regisseure: Er ist viel zu lang.
Drei kleine, eingeblendete Zwischenüberschriften, die da lauten «Everything», «Everywhere» und «All at Once», kündigen an, wie lange der Film noch in etwa andauert. Wer beim zweiten Zwischentitel noch im Kino ist, ist zäh. Wer beim dritten noch da ist, hasst es entweder, aus dem Kino zu gehen, oder ist sehr verliebt in Michelle Yeoh (beides nachvollziehbare Gründe). Szenen aus einem Universum, in dem Michelle Yeoh und Jamie Lee Curtis anstelle ihrer Finger Hotdogs besitzen, sind immer wieder eingeblendet und werden keine Spur lustiger.
Die Kampfsequenzen erreichen eine Dauer, bei der egal wird, wie sorgsam sie choreografiert sind. Unendlich viele Filmzitate, von Stanley Kubrick über Wong Kar-Wai bis zu den Wachowskis, sind beinahe immer als Zitat um des Zitats willen erkennbar und wirken dadurch prätentiös. Hinzu kommt grosses Mitleid, das sich bei den Zuschauern für den Komponisten Claude Debussy einstellt: Gefühlt jedes Mal, wenn in einer US-amerikanischen Produktion klassische Musik gefragt ist, läuft «Claire de lune» irgendwo im Hintergrund. (Die neue «Stranger Things»-Staffel und «Everything Everywhere All at Once» sind nur zwei aktuelle Beispiele.)
Es mag Filme geben, bei denen 139 Minuten wie im Flug vergehen. «Everything Everywhere All at Once» zählt nicht dazu.
Es ist wahr, dass der Film nichts ähnelt, was man in den vergangenen Jahren im Kino sehen konnte. Michelle Yeoh, Stephanie Hsu und besonders der ehemalige Kinderstar Ke Huy Quan, der den empfindsamen Ehemann Waymond so verletzlich spielt, dass man ihm über den Kopf streicheln möchte, geben eine beeindruckende Familie Wang ab. Gerade dieser Erzählstrang, der schönste des Films, gerät aber in den Hintergrund.
Die Interaktionen der verschiedenen Wang-Generationen in drei Sprachen (Mandarin, Kantonesisch und Englisch) und die schmerzhaften, aber alltäglichen rassistischen Mikroaggressionen, denen Evelyn in ihrem Waschsalon ausgesetzt ist, sind sehr einprägsam. Ebenso wie all das unausgesprochene transgenerationale Trauma, das sich zwischen Evelyn, ihrem Vater und ihrer Tochter andeutet, aber über die Andeutung nicht hinausgeht. Der Film über die Familie Wang in «unserem» Universum ist der Film, den man eigentlich hätte sehen wollen.
Es ist von einer unbeabsichtigten Ironie, dass «Everything Everywhere All at Once» an seiner eigenen Methode zerbricht: Als Zuschauerin stellt man sich die Was-wäre-wenn-Frage nämlich nicht aufs eigene Leben bezogen – sondern adressiert sie unwillkürlich an die Macher des Films: Was, wenn die Regisseure sich entschieden hätten, den Film um 50 Minuten zu kürzen? Wenn sie sich dazu hätten durchringen können, ein paar Witze auf Pausenhof-Niveau wegzulassen? Wenn sie etwas Mut zum Weniger gehabt hätten?
Was, fragt man sich beim Verlassen des Kinosaals, wäre da wohl herausgekommen?
Die Antwort: ein wunderbarer, verrückter Film. Bestimmt existiert er in irgendeinem Paralleluniversum.
Daniel Kwan, Daniel Scheinert (Regie): «Everything Everywhere All at Once». Mit: Michelle Yeoh, Stephanie Hsu, Ke Huy Quan, Jenny Slate, Jamie Lee Curtis. USA 2022. 139 Minuten. Kinostart Deutschschweiz: 16. Juni. Romandie: 7. September 2022.