Amanda Gorman an einer Benefizgala im vergangenen September in New York. Calla Kessler/NYT/Redux/laif

Kassandra ruft

Mit ihrem Gedicht zur Amtseinsetzung von Präsident Biden wurde Amanda Gorman als Dichterin weltbekannt. Dann folgte ein hässlicher Streit um die Übersetzung ihrer Texte. Nun liegt ihre erste grosse Gedicht­sammlung auf Englisch und Deutsch vor – und verbindet Innovations­kraft mit klassischen Dichter­tugenden.

Von Daniel Graf, 10.06.2022

Synthetische Stimme
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Am 19. Januar 2021 wusste quasi noch niemand, wer Amanda Gorman ist. Am 20. Januar 2021, dem Tag von Joe Bidens Amts­einsetzung, sprach die halbe Welt von ihr. Fünfeinhalb Minuten hatte der Vortrag ihres Gedichtes «The Hill We Climb» zur Inaugura­tion des neuen US-Präsidenten gedauert. Fünfeinhalb Minuten, die eine Dichterin ohne Verlags­veröffentlichung zu einer welt­bekannten Autorin machten.

Richtig in Wallung geriet die literarische Welt aber erst einen guten Monat später. Bevor Gormans Gedicht international in verschiedenen Über­setzungen als Buch erschien, brach ein wochenlanger hitziger Streit los, der unter dem Namen Gorman-Debatte in die Literatur­geschichte einging, obwohl es dabei fast so selten ums Debattieren ging wie um Literatur.

Im Zentrum der Auseinander­setzung standen plötzlich diejenigen, die sonst im Literatur­betrieb gerne übersehen werden: die Übersetzerinnen. Gegenstand der Kontro­verse waren angebliche Forderungen von Aktivistinnen, wonach Weisse nun nicht mehr die Werke einer schwarzen Autorin übersetzen dürften, und es dauerte ein wenig, bis die Frage lauter wurde, wer das wo eigentlich behauptet haben soll. Insgesamt war die Gorman-Debatte nicht unbedingt eine Stern­stunde des Feuilletons, generierte aber reichlich Texte und Emotionen.

Im Vergleich zu den Polemiken des Frühjahrs 21 ist es nun, da hierzulande Amanda Gormans Gedicht­sammlung «Call Us What We Carry / Was wir mit uns tragen» in einer zwei­sprachigen Ausgabe erscheint, geradezu beschaulich im Blätter­wald. Das «Zeit Magazin» fragt Gorman am Telefon, welcher Vogel sie gerne wäre, könnte sie denn einer sein (Spoiler: ein Kolibri) und verkündet: «Seit sie bei Joe Bidens Amts­einführung ein Gedicht vortrug, ist sie eine Stil­ikone.» Und der «Spiegel» konstatiert: «Mehr Priesterin als Literatin». Als Dichterin, so scheint es, ist Gorman hiesigen Medien dann doch nicht ganz so wichtig. Aber vielleicht ist ihnen ja auch einfach die Lyrik nicht ganz so wichtig.

Jedenfalls ist «Call Us What We Carry» ein Gedicht­band, über den zu diskutieren und zu streiten sich tatsächlich lohnen würde – einschliesslich der Über­setzungen von Marion Kraft und Daniela Seel. Das Inaugurations-Gedicht, das die umfang­reiche Sammlung beschliesst, nimmt in dem Band buch­stäblich nur einen marginalen Raum ein. Zu entdecken ist darin eine Dichterin mit breitem Formen­spektrum und einer Dringlich­keit in den Themen, die Amanda Gorman literarisch wie politisch als eine der relevanten Autorinnen der Gegen­wart ausweisen. Und dass sie mit ihrer Lyrik welt­weit auch ein Publikum erreicht, das sich in der Regel um die Relevanz-Rankings des Feuilletons wenig schert, ist dazu kein Wider­spruch – eher im Gegenteil.

Natürlich ziehen sich die grossen Themen des Inaugurations-Gedichts auch durch «Call Us What We Carry»: Geschichte und Gegen­wart des Rassismus, der Zustand der US-amerikanischen Gesell­schaft, die Verant­wortung aller für die Eindämmung sozialer Flieh­kräfte. Aber Gorman verhandelt ebenso die globalen Krisen der vergangenen Jahre: die Pandemie, die Klima­krise. Und sie macht sichtbar, wie eng all diese Themen miteinander zusammen­hängen, historisch und gegenwärtig.

Ein «ship» ist viel mehr als ein Schiff

Wie Gorman den Band komponiert hat, welche literarischen Verfahren sie wählt, mit welchen Formen sie experi­mentiert und wie sie rote Fäden durch den Band zieht, kann man vielleicht exemplarisch an einem ihrer Leit­motive vor Augen führen: dem Schiff beziehungsweise «ship» (denn die verschiedenen Bedeutungen, die diese Silbe im Englischen annehmen kann, werden hier wichtig).

Das Buch beginnt programma­tisch mit einem «Schiffs­manifest» – was bereits zeigt, wie sehr Gormans Lyrik traditionelle, ja archaische Bilder der Literatur in neue Kon­texte überführt. Das Eröffnungs­gedicht führt auch gleich die vielleicht wichtigste Technik in Gormans Schreiben vor: die wort­spielerische Verschiebung zwischen zwei Wörtern, die sich nur mini­mal unterscheiden.

Our greatest test will be
Our testimony.
This book is a message in a bottle.
This book is a letter.
This book does not let up.
This book is awake.
This book is a wake.

Unsere grösste Prüfung wird sein,
Zeugnis abzulegen.
Dieses Buch ist eine Flaschenpost.
Dieses Buch ist ein Brief.
Dies Buch lässt nicht locker.
Dieses Buch ist wachsam.
Dieses Buch weckt auf.

Amanda Gorman: «Call Us What We Carry / Was wir mit uns tragen».

Das Schiff als poeto­logische Leit­metapher wird dann zur ark, zur Arche, die zugleich die Bundes­lade meinen kann: ein Bild für die Erinnerung, das Archiv, das Bewahren der Quellen. Wenn einige Seiten später dann das legendäre Walfang­schiff «Essex» auftaucht, das Herman Melville zu seinem Roman «Moby Dick» inspirierte, hat Gormans Gedicht plötzlich nicht mehr die klassische Versform, sondern selbst die Form eines Wals – genau wie am Ende des Bandes ein weiteres solches Figurengedicht in seinen Umrissen ein Sklaven­schiff abbildet. Und zwischen diesen Experimenten mit der Visuellen Poesie steht «Another Nautical»: noch ein nautisches Gedicht also, in dem Gorman in Wirklichkeit nicht Schiffs­routen, sondern die englische Wort­bildung erkundet.

Das englische Suffix -ship hat keinen Bezug zu Schiffen.

Vielmehr meint es «Qualität, Kondition, Fähigkeit, Amt».

Von dort aus spielt sie Wörter wie «relation­ship», «leader­ship», «hard­ship» durch: «Add -ship to the end of a word & it transforms its meaning.» Und dann schliesst das Gedicht, wieder in Minimal­variation zum vorigen Vers, mit einer hoch verdichteten Punch­line:

Add -ship to the end of a world & it transforms our meaning.

Hier also werden nicht mehr Wörter verändert, sondern unser Selbst­verständnis: Wir sind diejenigen, die Verant­wortung für die Welt zu über­nehmen haben – um das Ende der Welt zu verhindern.

«Fügen wir -ship ans Welt­ende an», übersetzen Marion Kraft und Daniela Seel die erste Vers­hälfte – und betonen damit, was Gorman nur an­klingen lässt. Aber man darf Gormans gramma­tisches Schema auch konsequent durch­spielen und worldship bilden – was dann wiederum auch worship (Verehrung) anklingen lässt. Womöglich ist hier also gar nicht die sarkas­tische Lesart gemeint, die die deutsche Über­setzung dem Vers zu unter­legen scheint, sondern der Aufruf zu einer Wert­schätzung und Demut gegenüber dem Planeten. Im Ergebnis läuft es auf dasselbe hinaus: einen flammenden Appell an den Menschen, sich nicht als Krone der Schöpfung (und als Champion der Vernich­tung) auf­zuführen, sondern als Bewahrerin der Erde – «preservation» lautete schon im «Schiffs­manifest» der Auftrag. Und dieses Verantwortungs-Pathos – nicht sein zynisches Gegen­teil – prägt Gormans gesamten Band.

Dokumente der Marginalisierten

Aber zurück zur Form. Es lohnt – Stichwort Visuelle Poesie – noch einmal grund­sätzlich nach Gormans Verhältnis zu den literarischen Avant­garden zu fragen. Weil die experimen­tellen Formen bei ihr ganz andere Konno­tationen erhalten.

Da ist etwa die sogenannte Erasure-Technik in der Tradition der Kon­kreten Poesie. Hier werden vorgefundene Texte so bear­beitet, dass Wörter und Buch­staben ausgestrichen und unlesbar gemacht werden, sodass aus dem Verbliebenen ganz neue Sätze ent­stehen. Streicht man zum Beispiel, wie das Ronald Johnson getan hat, bei «Paradise Lost» ein paar Buch­staben, entsteht «radi os».

Bei Gorman ist das weder über­mütiges Spiel noch rückt sie kano­nischen Werken der Welt­literatur zuleibe, sondern sie bearbeitet Tage­bücher und Briefe, die Black Americans und andere Angehörige von Minderheiten­gruppen während des Ersten Weltkriegs oder in den darauf­folgenden Jahren der Influenza-Pandemie geschrieben haben – Jahre, die zugleich eine Zeit eskalierender rassistischer Gewalt in den USA waren. Die Quellen also, die Gorman überhaupt erst aus den Archiven erschliesst, sind Doku­mente der Marginali­sierten, der bisher nicht Gehörten. Ihre erasure dient, wie sie in einem programma­tischen Text verdeutlicht, gerade nicht der Auslöschung, «sondern einer Ausdehnung». Da ist es wieder, das Archiv, als Quelle für eine Komplementär- und Gegen­geschichte:

Der Stift versucht dabei, die Körper, die Wahrheit, die
Stimmen, die schon immer existierten, aber aus der
Geschichte & der Vorstellungs­kraft verbannt wurden,
zu verstärken, zu beschwören, zu entdecken, offenzulegen.
In diesem Fall streichen wir, um zu finden.

Hier also werden, im engsten Sinne des Wortes, literarische Techni­ken neu definiert.

Ähnliches gilt für das schon erwähnte Figuren­gedicht, jene visuelle Poesie­form, die es seit der Antike gibt, im Barock besonders beliebt war, dann noch einmal von der Konkreten Poesie wieder­belebt wurde und heute im Grunde eher unter Niedlichkeits­verdacht steht.

Ein Gedicht in Umrissen des Kapitols

Doch während die Avant­garden des 20. Jahrhunderts das visuelle Gedicht meist in Richtung einer White-Cube-kompatiblen Konzept­kunst entwickelten, die vor allem die Sprache selbst zum Gegen­stand hatte, ist das Figuren­gedicht bei Amanda Gorman durch und durch realitäts- und geschichts­gesättigt. Die sprach­verliebte Selbst­genügsamkeit etwa eines Apfelgedichts der Konkreten Poesie erscheint neben dem existenziell aufgeladenen Bild­gedicht bei Gorman geradezu als harmlose Spielerei einer privilegierten einstigen Dichter-Avantgarde. Das Schiffs­wrack aus dem erwähnten Wal­gedicht wird bei Gorman auch zur Metapher für schwarze Leben unter den Bedingungen des Rassis­mus:

Wie viel mehr Wrackteile haben wir in uns. Wohin wir auch blicken, wird ein Körper zerstört.

Und wenn Gorman auch ein Bild­gedicht in den Umrissen des Kapitols schreibt, dann kommt dabei gleich noch eine weitere ihrer poetischen Grund­verfahren zum Einsatz: die chronologische Über­blendung. Denn die mob violence am Capitol Hill, von der in diesem Text die Rede ist, bezieht sich auf Unruhen von 1919 und der Satz «the / worst was yet to come» auf die rassistische Gewalt des sogenannten Red Summer – und doch ist evident, welche Assozia­tionen der letzten Jahre zugleich mit aufgerufen sind.

Die existenzielle Ampli­tude von Gormans Gedichten geht dann auch Hand in Hand mit dem gewaltigen Anspruch, den sie an die Literatur stellt – und an sich selbst. «Wir schreiben als Tochter einer / sterbenden Welt», heisst es programmatisch in einem Gedicht mit dem nicht minder programma­tischen Titel «Weckruf». Die Dichterin, das heisst bei Amanda Gorman ganz klassisch und unironisch: Kassandra-Rolle, Dichter-Seherin, Wächter­amt.

Das Pathos, das mit diesem Selbst­auftrag unweigerlich verknüpft ist, macht dann auch die Fall­höhe dieser Texte aus. Sie provoziert geradezu die Frage nach Ge- und Misslingen. Und womöglich mindert sie bei manchen Kritikern die Nach­sicht gegenüber dem Miss­glückten.

Eine unvollständige Mängelliste:

Liest man sehr viel Gorman am Stück, kann man tatsächlich den Ein­druck bekommen, dass da alles, was sich klang­lich ähnelt, auch garantiert zwangs­verheiratet wird («We are no prophet. / We are no profit.»). Wenn die Menschen in den Pandemie-Gedichten nur noch online kommuni­zieren können, landen sie als «Zoombies» auch gleich noch in der Kalauer­hölle. Was mit reichlich rheto­rischem Tremolo daher­kommt, ist stellen­weise halt doch nur Glücks­keks-Philosophie. Es gibt Abschnitte in diesem Buch, wo man sehr lange lesen muss, bis man einmal wieder mit einer echten Power­line belohnt wird. Dem Formzwang der Figuren­gedichte entweicht sie manch­mal allzu leicht, indem sie einfach mitten im Wort umbricht. Und all die Fuss­noten, Anmerkungen und Erläuterungen setzen manchmal auch zur grossen Erklärung an, wo man ruhig der Leserin zutrauen könnte, dass sie das selbst schon gecheckt hat.

Aber darf in einem umfassenden ersten Gedicht­band nichts schief­gehen? Würde man einer jungen Autorin das Risiko ausreden wollen, das mit dem poetischen Aufs-Ganze-Gehen verbunden ist?

Neben der Innovations­kraft, die Gorman alther­gebrachten Bildern und Formen der Lyrik­geschichte verleiht, ist ihre grosse Stärke eine klassische Dichter­tugend: die Fähigkeit, einen ganzen Diskurs in einem schlagenden Bild, in einer einzigen Formel zu verdichten.

Da steht in einem langen, thematisch und historisch weit ausgreifenden Amerika-Gedicht die geniale Wendung «scars and stripes», fort­geführt in dem Vers «Schools scared to death». Da verdichtet sich die Klima­krise in dem Satz «Our future needs us / alarmed». Oder in der Doppel­zeile

Es ist die Zukunft, die wir retten,
vor uns, für uns.

Da kommt der von Bruno Latour bis Dipesh Chakrabarty philoso­phisch ausgestaltete Gedanke, wonach der Mensch ein Mikrobiom ist, fest verankert in der Natur und keinem Lebe­wesen überlegen, auf eine kürzest­mögliche, nicht verlustfrei übersetzbare Formel:

We are not me –
We are we.

Da sind Verse, die ein ganzes Empowerment-Konzept so prägnant auf den Punkt bringen, dass sie womöglich demnächst auf T-Shirts gedruckt werden:

There is power in being robbed
& still choosing to dance.

Und dann, immer wieder, gelingt ihr das genaue Gegen­stück von Auf-den-Punkt-Bringen: die produktive Irritation. Etwa wenn wir glauben, von Phäno­menen der Gegen­wart zu lesen, nur um dann festzu­stellen, dass der Passus aus einer 100 Jahre alten Quelle stammt.

Und die Übersetzung?

Ein derart klang- und wortspiel­versessenes Schreiben wie das von Amanda Gorman wäre für die Über­tragung in andere Sprachen schon für sich genommen eine gigantische Heraus­forderung. Weil für Gormans Texte noch zahllose Anspielungen und Zitate, aber auch visuelle Komponenten hinzu­kommen, hat das deutsche Übersetzerinnen-Duo aus Marion Kraft und Daniela Seel eine Aufgabe über­nommen, die sich nicht sinnvoll über das Vorrechnen einzelner Verlust­geschäfte bewerten lässt.

Vor allem Gormans ausgeprägte Vorliebe für Allitera­tionen, also Gleichklänge am Wortanfang, haben Kraft und Seel an vielen Stellen überzeugend ins Deutsche geholt:

It is easy to harp,
Harder to hope.

Lamentieren ist leicht,
härter, zu hoffen.

Wo Gorman ganze Konsonanten-Kaskaden ablässt, die sich nicht 1:1 über­tragen lassen, gelingt es den Übersetzerinnen durch Krea­tivität, denselben Effekt nach­zubilden («… kolonisiert, / kategorisiert, / klargespült, / kontrolliert, / kaltgemacht, …»). Gormans geniale Formel über das erste Corona-Jahr unter Trump – «Unprecedented & unpresidented» – funktioniert durch leichte Abwandlung auch in der deutschen Fassung: «Ohne Präzedenz & ohne Präsident». Selbst ein Wortspiel wie «segreGATED» retten die Übersetze­rinnen ins Deutsche hinüber: «segREGIERT». Und weil an einigen Stellen unvermeidlich Reime und Gleich­klänge verloren gehen, übersetzen sie teilweise auch einfach kompen­satorisch – und reimen andern­orts, wo es Gorman nicht tut.

Umso bedauerlicher ist es, dass die Übersetzung manchmal gerade dort schwächelt, wo das Original gar keine sprach­systematischen Zwänge aufweist. Ein vergleichs­weise banales Beispiel: «Was für ein Wrack die Mensch­heit ist» heisst ein Kapitel in der deutschen Fassung, was inhaltlich völlig richtig ist. Im Original steht da aber nicht das Abstrak­tum «Mensch­heit», sondern «What a Piece of Wreck Is Man» – was rheto­risch und rhythmisch ungleich stärker ist. Die Abweichung im deutschen Text ist dann umso verwunder­licher, als in den Anmer­kungen sogar erklärt ist, dass Gorman hier auf Hamlets Satz «Welch ein Meister­stück ist der Mensch» anspielt.

Oder das Eröffnungs­gedicht «Schiffs­manifest», das mit den Zeilen endet:

& the poet, the preserver
Of ghosts & gains,
Our demons & dreams,
Our haunts & hopes.
Here’s to the preservation
Of a light so terrible.

Die beiden Schlussverse lauten in der deutschen Fassung:

Ein Hoch auf die Bewahrung
eines so schrecklichen Scheins.

Dass light hier als «Schein» übersetzt wird, tilgt nicht nur die Parallele zum Schluss des Bandes, wo es in einem komplementären Gedicht heisst «Here’s to the preservation / Of a light so terrific.» Es führt auch inhaltlich in die Irre. Um Schein­haftes geht es im Eröffnungs­gedicht nicht, sondern um ein schmerzendes, aber nötiges Licht der Erkenntnis, das schrecklich ist, weil es all die «Heim­suchungen & Hoffnungen» umfasst, weil es ungeschönt die Wahrheiten einer blutigen Geschichte und Gegenwart beleuchtet.

Der immense Anspruch von Gormans dichterischem Programm ist nichts Geringeres, als die Fahne der Aufklärung und des Versprechens auf eine bessere Welt hoch­zuhalten, mit allem Pathos, der dem klassischen Selbst­verständnis als kassan­drische Wächterin inne­wohnt. Amanda Gorman ist eine Konser­vative mit progressiver Agenda, eine Künstlerin, die ganz im Sinne Gustav Mahlers, unter Tradition nicht die Anbetung der Asche, sondern das Weiter­tragen der Fackel versteht.

In dem eben erwähnten Komplementär­gedicht zum Anfangs­text mit dem Namen «What We Carry» lauten die Schlussverse:

We walk into tomorrow,
Carrying nothing
But the world.

Das ist Gorman-Pathos in Rein­form – aber es ist kein selbst­zufriedenes, genügsames, sondern, ganz im Gegenteil, darin steckt ein glühender Appell an den Menschen, seine Verant­wortung für den Planeten wahr­zunehmen.

Poetologisch gewendet heisst das auch: Hier spricht eine junge Lyri­kerin mit einem kaum noch für möglich gehaltenen Sprach­vertrauen, einem unerschütter­lichen Glauben an die Kraft des appella­tiven Wortes und die Möglichkeit zur Veränderung. Das kann man in abgeklärter Souveränität als naiv belächeln. Aber es sagt dann immer auch etwas über einen selbst.

Zum Buch

Amanda Gorman: «Call Us What We Carry / Was wir mit uns tragen». Gedichte. Zweisprachige Ausgabe. Aus dem amerikanischen Englisch von Marion Kraft und Daniela Seel. Hoffmann und Campe, Hamburg 2022. 432 Seiten, ca. 41 Franken.