Kassandra ruft
Mit ihrem Gedicht zur Amtseinsetzung von Präsident Biden wurde Amanda Gorman als Dichterin weltbekannt. Dann folgte ein hässlicher Streit um die Übersetzung ihrer Texte. Nun liegt ihre erste grosse Gedichtsammlung auf Englisch und Deutsch vor – und verbindet Innovationskraft mit klassischen Dichtertugenden.
Von Daniel Graf, 10.06.2022
Am 19. Januar 2021 wusste quasi noch niemand, wer Amanda Gorman ist. Am 20. Januar 2021, dem Tag von Joe Bidens Amtseinsetzung, sprach die halbe Welt von ihr. Fünfeinhalb Minuten hatte der Vortrag ihres Gedichtes «The Hill We Climb» zur Inauguration des neuen US-Präsidenten gedauert. Fünfeinhalb Minuten, die eine Dichterin ohne Verlagsveröffentlichung zu einer weltbekannten Autorin machten.
Richtig in Wallung geriet die literarische Welt aber erst einen guten Monat später. Bevor Gormans Gedicht international in verschiedenen Übersetzungen als Buch erschien, brach ein wochenlanger hitziger Streit los, der unter dem Namen Gorman-Debatte in die Literaturgeschichte einging, obwohl es dabei fast so selten ums Debattieren ging wie um Literatur.
Im Zentrum der Auseinandersetzung standen plötzlich diejenigen, die sonst im Literaturbetrieb gerne übersehen werden: die Übersetzerinnen. Gegenstand der Kontroverse waren angebliche Forderungen von Aktivistinnen, wonach Weisse nun nicht mehr die Werke einer schwarzen Autorin übersetzen dürften, und es dauerte ein wenig, bis die Frage lauter wurde, wer das wo eigentlich behauptet haben soll. Insgesamt war die Gorman-Debatte nicht unbedingt eine Sternstunde des Feuilletons, generierte aber reichlich Texte und Emotionen.
Im Vergleich zu den Polemiken des Frühjahrs 21 ist es nun, da hierzulande Amanda Gormans Gedichtsammlung «Call Us What We Carry / Was wir mit uns tragen» in einer zweisprachigen Ausgabe erscheint, geradezu beschaulich im Blätterwald. Das «Zeit Magazin» fragt Gorman am Telefon, welcher Vogel sie gerne wäre, könnte sie denn einer sein (Spoiler: ein Kolibri) und verkündet: «Seit sie bei Joe Bidens Amtseinführung ein Gedicht vortrug, ist sie eine Stilikone.» Und der «Spiegel» konstatiert: «Mehr Priesterin als Literatin». Als Dichterin, so scheint es, ist Gorman hiesigen Medien dann doch nicht ganz so wichtig. Aber vielleicht ist ihnen ja auch einfach die Lyrik nicht ganz so wichtig.
Jedenfalls ist «Call Us What We Carry» ein Gedichtband, über den zu diskutieren und zu streiten sich tatsächlich lohnen würde – einschliesslich der Übersetzungen von Marion Kraft und Daniela Seel. Das Inaugurations-Gedicht, das die umfangreiche Sammlung beschliesst, nimmt in dem Band buchstäblich nur einen marginalen Raum ein. Zu entdecken ist darin eine Dichterin mit breitem Formenspektrum und einer Dringlichkeit in den Themen, die Amanda Gorman literarisch wie politisch als eine der relevanten Autorinnen der Gegenwart ausweisen. Und dass sie mit ihrer Lyrik weltweit auch ein Publikum erreicht, das sich in der Regel um die Relevanz-Rankings des Feuilletons wenig schert, ist dazu kein Widerspruch – eher im Gegenteil.
Natürlich ziehen sich die grossen Themen des Inaugurations-Gedichts auch durch «Call Us What We Carry»: Geschichte und Gegenwart des Rassismus, der Zustand der US-amerikanischen Gesellschaft, die Verantwortung aller für die Eindämmung sozialer Fliehkräfte. Aber Gorman verhandelt ebenso die globalen Krisen der vergangenen Jahre: die Pandemie, die Klimakrise. Und sie macht sichtbar, wie eng all diese Themen miteinander zusammenhängen, historisch und gegenwärtig.
Ein «ship» ist viel mehr als ein Schiff
Wie Gorman den Band komponiert hat, welche literarischen Verfahren sie wählt, mit welchen Formen sie experimentiert und wie sie rote Fäden durch den Band zieht, kann man vielleicht exemplarisch an einem ihrer Leitmotive vor Augen führen: dem Schiff beziehungsweise «ship» (denn die verschiedenen Bedeutungen, die diese Silbe im Englischen annehmen kann, werden hier wichtig).
Das Buch beginnt programmatisch mit einem «Schiffsmanifest» – was bereits zeigt, wie sehr Gormans Lyrik traditionelle, ja archaische Bilder der Literatur in neue Kontexte überführt. Das Eröffnungsgedicht führt auch gleich die vielleicht wichtigste Technik in Gormans Schreiben vor: die wortspielerische Verschiebung zwischen zwei Wörtern, die sich nur minimal unterscheiden.
Our greatest test will be
Our testimony.
This book is a message in a bottle.
This book is a letter.
This book does not let up.
This book is awake.
This book is a wake.
Unsere grösste Prüfung wird sein,
Zeugnis abzulegen.
Dieses Buch ist eine Flaschenpost.
Dieses Buch ist ein Brief.
Dies Buch lässt nicht locker.
Dieses Buch ist wachsam.
Dieses Buch weckt auf.
Das Schiff als poetologische Leitmetapher wird dann zur ark, zur Arche, die zugleich die Bundeslade meinen kann: ein Bild für die Erinnerung, das Archiv, das Bewahren der Quellen. Wenn einige Seiten später dann das legendäre Walfangschiff «Essex» auftaucht, das Herman Melville zu seinem Roman «Moby Dick» inspirierte, hat Gormans Gedicht plötzlich nicht mehr die klassische Versform, sondern selbst die Form eines Wals – genau wie am Ende des Bandes ein weiteres solches Figurengedicht in seinen Umrissen ein Sklavenschiff abbildet. Und zwischen diesen Experimenten mit der Visuellen Poesie steht «Another Nautical»: noch ein nautisches Gedicht also, in dem Gorman in Wirklichkeit nicht Schiffsrouten, sondern die englische Wortbildung erkundet.
Das englische Suffix -ship hat keinen Bezug zu Schiffen.
Vielmehr meint es «Qualität, Kondition, Fähigkeit, Amt».
Von dort aus spielt sie Wörter wie «relationship», «leadership», «hardship» durch: «Add -ship to the end of a word & it transforms its meaning.» Und dann schliesst das Gedicht, wieder in Minimalvariation zum vorigen Vers, mit einer hoch verdichteten Punchline:
Add -ship to the end of a world & it transforms our meaning.
Hier also werden nicht mehr Wörter verändert, sondern unser Selbstverständnis: Wir sind diejenigen, die Verantwortung für die Welt zu übernehmen haben – um das Ende der Welt zu verhindern.
«Fügen wir -ship ans Weltende an», übersetzen Marion Kraft und Daniela Seel die erste Vershälfte – und betonen damit, was Gorman nur anklingen lässt. Aber man darf Gormans grammatisches Schema auch konsequent durchspielen und worldship bilden – was dann wiederum auch worship (Verehrung) anklingen lässt. Womöglich ist hier also gar nicht die sarkastische Lesart gemeint, die die deutsche Übersetzung dem Vers zu unterlegen scheint, sondern der Aufruf zu einer Wertschätzung und Demut gegenüber dem Planeten. Im Ergebnis läuft es auf dasselbe hinaus: einen flammenden Appell an den Menschen, sich nicht als Krone der Schöpfung (und als Champion der Vernichtung) aufzuführen, sondern als Bewahrerin der Erde – «preservation» lautete schon im «Schiffsmanifest» der Auftrag. Und dieses Verantwortungs-Pathos – nicht sein zynisches Gegenteil – prägt Gormans gesamten Band.
Dokumente der Marginalisierten
Aber zurück zur Form. Es lohnt – Stichwort Visuelle Poesie – noch einmal grundsätzlich nach Gormans Verhältnis zu den literarischen Avantgarden zu fragen. Weil die experimentellen Formen bei ihr ganz andere Konnotationen erhalten.
Da ist etwa die sogenannte Erasure-Technik in der Tradition der Konkreten Poesie. Hier werden vorgefundene Texte so bearbeitet, dass Wörter und Buchstaben ausgestrichen und unlesbar gemacht werden, sodass aus dem Verbliebenen ganz neue Sätze entstehen. Streicht man zum Beispiel, wie das Ronald Johnson getan hat, bei «Paradise Lost» ein paar Buchstaben, entsteht «radi os».
Bei Gorman ist das weder übermütiges Spiel noch rückt sie kanonischen Werken der Weltliteratur zuleibe, sondern sie bearbeitet Tagebücher und Briefe, die Black Americans und andere Angehörige von Minderheitengruppen während des Ersten Weltkriegs oder in den darauffolgenden Jahren der Influenza-Pandemie geschrieben haben – Jahre, die zugleich eine Zeit eskalierender rassistischer Gewalt in den USA waren. Die Quellen also, die Gorman überhaupt erst aus den Archiven erschliesst, sind Dokumente der Marginalisierten, der bisher nicht Gehörten. Ihre erasure dient, wie sie in einem programmatischen Text verdeutlicht, gerade nicht der Auslöschung, «sondern einer Ausdehnung». Da ist es wieder, das Archiv, als Quelle für eine Komplementär- und Gegengeschichte:
Der Stift versucht dabei, die Körper, die Wahrheit, die
Stimmen, die schon immer existierten, aber aus der
Geschichte & der Vorstellungskraft verbannt wurden,
zu verstärken, zu beschwören, zu entdecken, offenzulegen.
In diesem Fall streichen wir, um zu finden.
Hier also werden, im engsten Sinne des Wortes, literarische Techniken neu definiert.
Ähnliches gilt für das schon erwähnte Figurengedicht, jene visuelle Poesieform, die es seit der Antike gibt, im Barock besonders beliebt war, dann noch einmal von der Konkreten Poesie wiederbelebt wurde und heute im Grunde eher unter Niedlichkeitsverdacht steht.
Ein Gedicht in Umrissen des Kapitols
Doch während die Avantgarden des 20. Jahrhunderts das visuelle Gedicht meist in Richtung einer White-Cube-kompatiblen Konzeptkunst entwickelten, die vor allem die Sprache selbst zum Gegenstand hatte, ist das Figurengedicht bei Amanda Gorman durch und durch realitäts- und geschichtsgesättigt. Die sprachverliebte Selbstgenügsamkeit etwa eines Apfelgedichts der Konkreten Poesie erscheint neben dem existenziell aufgeladenen Bildgedicht bei Gorman geradezu als harmlose Spielerei einer privilegierten einstigen Dichter-Avantgarde. Das Schiffswrack aus dem erwähnten Walgedicht wird bei Gorman auch zur Metapher für schwarze Leben unter den Bedingungen des Rassismus:
Wie viel mehr Wrackteile haben wir in uns. Wohin wir auch blicken, wird ein Körper zerstört.
Und wenn Gorman auch ein Bildgedicht in den Umrissen des Kapitols schreibt, dann kommt dabei gleich noch eine weitere ihrer poetischen Grundverfahren zum Einsatz: die chronologische Überblendung. Denn die mob violence am Capitol Hill, von der in diesem Text die Rede ist, bezieht sich auf Unruhen von 1919 und der Satz «the / worst was yet to come» auf die rassistische Gewalt des sogenannten Red Summer – und doch ist evident, welche Assoziationen der letzten Jahre zugleich mit aufgerufen sind.
Die existenzielle Amplitude von Gormans Gedichten geht dann auch Hand in Hand mit dem gewaltigen Anspruch, den sie an die Literatur stellt – und an sich selbst. «Wir schreiben als Tochter einer / sterbenden Welt», heisst es programmatisch in einem Gedicht mit dem nicht minder programmatischen Titel «Weckruf». Die Dichterin, das heisst bei Amanda Gorman ganz klassisch und unironisch: Kassandra-Rolle, Dichter-Seherin, Wächteramt.
Das Pathos, das mit diesem Selbstauftrag unweigerlich verknüpft ist, macht dann auch die Fallhöhe dieser Texte aus. Sie provoziert geradezu die Frage nach Ge- und Misslingen. Und womöglich mindert sie bei manchen Kritikern die Nachsicht gegenüber dem Missglückten.
Eine unvollständige Mängelliste:
Liest man sehr viel Gorman am Stück, kann man tatsächlich den Eindruck bekommen, dass da alles, was sich klanglich ähnelt, auch garantiert zwangsverheiratet wird («We are no prophet. / We are no profit.»). Wenn die Menschen in den Pandemie-Gedichten nur noch online kommunizieren können, landen sie als «Zoombies» auch gleich noch in der Kalauerhölle. Was mit reichlich rhetorischem Tremolo daherkommt, ist stellenweise halt doch nur Glückskeks-Philosophie. Es gibt Abschnitte in diesem Buch, wo man sehr lange lesen muss, bis man einmal wieder mit einer echten Powerline belohnt wird. Dem Formzwang der Figurengedichte entweicht sie manchmal allzu leicht, indem sie einfach mitten im Wort umbricht. Und all die Fussnoten, Anmerkungen und Erläuterungen setzen manchmal auch zur grossen Erklärung an, wo man ruhig der Leserin zutrauen könnte, dass sie das selbst schon gecheckt hat.
Aber darf in einem umfassenden ersten Gedichtband nichts schiefgehen? Würde man einer jungen Autorin das Risiko ausreden wollen, das mit dem poetischen Aufs-Ganze-Gehen verbunden ist?
Neben der Innovationskraft, die Gorman althergebrachten Bildern und Formen der Lyrikgeschichte verleiht, ist ihre grosse Stärke eine klassische Dichtertugend: die Fähigkeit, einen ganzen Diskurs in einem schlagenden Bild, in einer einzigen Formel zu verdichten.
Da steht in einem langen, thematisch und historisch weit ausgreifenden Amerika-Gedicht die geniale Wendung «scars and stripes», fortgeführt in dem Vers «Schools scared to death». Da verdichtet sich die Klimakrise in dem Satz «Our future needs us / alarmed». Oder in der Doppelzeile
Es ist die Zukunft, die wir retten,
vor uns, für uns.
Da kommt der von Bruno Latour bis Dipesh Chakrabarty philosophisch ausgestaltete Gedanke, wonach der Mensch ein Mikrobiom ist, fest verankert in der Natur und keinem Lebewesen überlegen, auf eine kürzestmögliche, nicht verlustfrei übersetzbare Formel:
We are not me –
We are we.
Da sind Verse, die ein ganzes Empowerment-Konzept so prägnant auf den Punkt bringen, dass sie womöglich demnächst auf T-Shirts gedruckt werden:
There is power in being robbed
& still choosing to dance.
Und dann, immer wieder, gelingt ihr das genaue Gegenstück von Auf-den-Punkt-Bringen: die produktive Irritation. Etwa wenn wir glauben, von Phänomenen der Gegenwart zu lesen, nur um dann festzustellen, dass der Passus aus einer 100 Jahre alten Quelle stammt.
Und die Übersetzung?
Ein derart klang- und wortspielversessenes Schreiben wie das von Amanda Gorman wäre für die Übertragung in andere Sprachen schon für sich genommen eine gigantische Herausforderung. Weil für Gormans Texte noch zahllose Anspielungen und Zitate, aber auch visuelle Komponenten hinzukommen, hat das deutsche Übersetzerinnen-Duo aus Marion Kraft und Daniela Seel eine Aufgabe übernommen, die sich nicht sinnvoll über das Vorrechnen einzelner Verlustgeschäfte bewerten lässt.
Vor allem Gormans ausgeprägte Vorliebe für Alliterationen, also Gleichklänge am Wortanfang, haben Kraft und Seel an vielen Stellen überzeugend ins Deutsche geholt:
It is easy to harp,
Harder to hope.
Lamentieren ist leicht,
härter, zu hoffen.
Wo Gorman ganze Konsonanten-Kaskaden ablässt, die sich nicht 1:1 übertragen lassen, gelingt es den Übersetzerinnen durch Kreativität, denselben Effekt nachzubilden («… kolonisiert, / kategorisiert, / klargespült, / kontrolliert, / kaltgemacht, …»). Gormans geniale Formel über das erste Corona-Jahr unter Trump – «Unprecedented & unpresidented» – funktioniert durch leichte Abwandlung auch in der deutschen Fassung: «Ohne Präzedenz & ohne Präsident». Selbst ein Wortspiel wie «segreGATED» retten die Übersetzerinnen ins Deutsche hinüber: «segREGIERT». Und weil an einigen Stellen unvermeidlich Reime und Gleichklänge verloren gehen, übersetzen sie teilweise auch einfach kompensatorisch – und reimen andernorts, wo es Gorman nicht tut.
Umso bedauerlicher ist es, dass die Übersetzung manchmal gerade dort schwächelt, wo das Original gar keine sprachsystematischen Zwänge aufweist. Ein vergleichsweise banales Beispiel: «Was für ein Wrack die Menschheit ist» heisst ein Kapitel in der deutschen Fassung, was inhaltlich völlig richtig ist. Im Original steht da aber nicht das Abstraktum «Menschheit», sondern «What a Piece of Wreck Is Man» – was rhetorisch und rhythmisch ungleich stärker ist. Die Abweichung im deutschen Text ist dann umso verwunderlicher, als in den Anmerkungen sogar erklärt ist, dass Gorman hier auf Hamlets Satz «Welch ein Meisterstück ist der Mensch» anspielt.
Oder das Eröffnungsgedicht «Schiffsmanifest», das mit den Zeilen endet:
& the poet, the preserver
Of ghosts & gains,
Our demons & dreams,
Our haunts & hopes.
Here’s to the preservation
Of a light so terrible.
Die beiden Schlussverse lauten in der deutschen Fassung:
Ein Hoch auf die Bewahrung
eines so schrecklichen Scheins.
Dass light hier als «Schein» übersetzt wird, tilgt nicht nur die Parallele zum Schluss des Bandes, wo es in einem komplementären Gedicht heisst «Here’s to the preservation / Of a light so terrific.» Es führt auch inhaltlich in die Irre. Um Scheinhaftes geht es im Eröffnungsgedicht nicht, sondern um ein schmerzendes, aber nötiges Licht der Erkenntnis, das schrecklich ist, weil es all die «Heimsuchungen & Hoffnungen» umfasst, weil es ungeschönt die Wahrheiten einer blutigen Geschichte und Gegenwart beleuchtet.
Der immense Anspruch von Gormans dichterischem Programm ist nichts Geringeres, als die Fahne der Aufklärung und des Versprechens auf eine bessere Welt hochzuhalten, mit allem Pathos, der dem klassischen Selbstverständnis als kassandrische Wächterin innewohnt. Amanda Gorman ist eine Konservative mit progressiver Agenda, eine Künstlerin, die ganz im Sinne Gustav Mahlers, unter Tradition nicht die Anbetung der Asche, sondern das Weitertragen der Fackel versteht.
In dem eben erwähnten Komplementärgedicht zum Anfangstext mit dem Namen «What We Carry» lauten die Schlussverse:
We walk into tomorrow,
Carrying nothing
But the world.
Das ist Gorman-Pathos in Reinform – aber es ist kein selbstzufriedenes, genügsames, sondern, ganz im Gegenteil, darin steckt ein glühender Appell an den Menschen, seine Verantwortung für den Planeten wahrzunehmen.
Poetologisch gewendet heisst das auch: Hier spricht eine junge Lyrikerin mit einem kaum noch für möglich gehaltenen Sprachvertrauen, einem unerschütterlichen Glauben an die Kraft des appellativen Wortes und die Möglichkeit zur Veränderung. Das kann man in abgeklärter Souveränität als naiv belächeln. Aber es sagt dann immer auch etwas über einen selbst.
Amanda Gorman: «Call Us What We Carry / Was wir mit uns tragen». Gedichte. Zweisprachige Ausgabe. Aus dem amerikanischen Englisch von Marion Kraft und Daniela Seel. Hoffmann und Campe, Hamburg 2022. 432 Seiten, ca. 41 Franken.