Die Putin-Show
Wie der Krieg in der Ukraine für Russen aussieht. Ein Tag im Leben einer normalen Medienkonsumentin.
Von «The Economist» (Text), Oliver Fuchs (Übersetzung) und Matthieu Bourel (Illustration), 25.05.2022
Nachdem Wladimir Putin im Jahr 2000 das erste Mal zum Präsidenten gewählt worden war, veränderte er nur wenig im Büro, das er von seinem Vorgänger Boris Jelzin geerbt hatte. Ein Besucher bemerkte jedoch, dass er den Stift auf dem Schreibtisch durch eine Fernbedienung für den Fernseher ersetzt hatte. Der neue Präsident Russlands schien besessen von den Medien und beendete seine Arbeitstage jeweils damit, die Berichterstattung über sich selbst zu verfolgen.
Eine seiner ersten Amtshandlungen war es, die Fernsehsender des Landes unter die Kontrolle des Kremls zu bringen. Darunter auch NTV, ein unabhängiger Sender im Besitz eines Oligarchen, der den neuen Präsidenten in einer Satiresendung namens «Kukly» (Marionetten) mit wenig schmeichelhaften Darstellungen als Zwerg aufs Korn genommen hatte.
Nach mehr als zwei Jahrzehnten an der Macht ist heute Putin selber der Puppenspieler. Der Staat kontrolliert die TV-Sender, Zeitungen und Radiosender des Landes. Der Kreml gibt den Redaktoren und Produzenten metodichki durch, Anweisungen, worüber sie zu berichten haben und wie. Nun, da sich das junge Publikum ins Internet verlagert, versucht der Kreml auch da die Konversation zu kontrollieren. Er tut das, indem er soziale Netzwerke und Nachrichtenaggregatoren unter Druck setzt, digitale Medien, die nicht kooperieren, blockiert oder untergräbt – und beliebte Plattformen wie die Messaging-App Telegram mit staatlich abgesegneten Inhalten flutet. Propaganda hat Putins Regime lange Zeit gestützt. Jetzt treibt sie seine Kriegsmaschinerie an.
Seit der Präsident am 24. Februar eine «spezielle Militäroperation» in der Ukraine angekündigt hat, ist die Kontrolle über den Informationsfluss noch strenger geworden. Zensurgesetze verbieten Berichte, die sich auf nicht staatliche Quellen berufen. Den Krieg als «Krieg» zu bezeichnen, ist eine Straftat. Demonstranten werden schon festgenommen, wenn sie Schilder mit acht Sternchen hochhalten, der Anzahl der Buchstaben im Russischen für «Nein zum Krieg».
Viele soziale Netzwerke und Plattformen aus westlichen Staaten, darunter Facebook, Twitter und Instagram, wurden verboten oder blockiert. Die letzten verbliebenen unabhängigen Medien mit Einfluss wurden vom Netz genommen. Dozhd, ein Online-Fernsehsender, hat seine Streams eingestellt; «Nowaja Gaseta», eine liberale Zeitung, deren Herausgeber kürzlich den Friedensnobelpreis erhielt, erscheint nicht mehr; Echo Moskwy, ein beliebter liberaler Radiosender, sendet nicht mehr auf seiner langjährigen Moskauer Frequenz auf 91.2 FM.
In dem Masse, wie sich Putins Regime von einer Autokratie mit relativen Freiheiten in eine immer absolutere Diktatur verwandelt, ändert sich auch die Propaganda, die es verbreitet. Fernsehmoderatoren und Gäste stellen die «spezielle Militäroperation» als Teil eines grösseren Konflikts zur Verteidigung Russlands dar. In den staatlichen Medien wird seit langem mantraartig von der angeblichen Absicht des Westens gesprochen, Russland zu untergraben – und von Putins Bemühungen, das Mutterland zu schützen. Früher zielte die Propaganda vor allem darauf ab, die Bürgerinnen passiv zu halten, Zweifel an der Realität zu säen und von politischer Partizipation abzuschrecken. Heute versucht sie zunehmend, die Bevölkerung für Putins Krieg zu mobilisieren, indem sie die Menschen davon überzeugt, dass Russland angegriffen wird und der Sieg der einzige Ausweg ist. «Die alten Regeln des autoritären Lebens brechen zusammen, jetzt wird aktive Anteilnahme verlangt», sagt der russische Politologe und Soziologe Greg Yudin.
Wie in jedem Land hängt das exakte Bild, das die Menschen von der Welt haben, von den Medien ab, die sie konsumieren. Für Russinnen, die das Bedürfnis danach haben – und ein wenig technisches Verständnis –, sind Informationen, die nicht vom Regime kontrolliert werden, immer noch zugänglich. Wer jedoch die offiziellen Nachrichten verfolgt, wie es die Verfasser dieser Recherche am 11. Mai taten, sieht eine Welt, die ausschliesslich vom Kreml geschaffen wurde.
Hier ist ein Tag im Leben eines Zuschauers der Putin-Show.
8.00 Uhr morgens
Sie wachen auf in Ihrer Wohnung in einem neuen Hochhaus am Stadtrand von Moskau. Es ist ein grauer Tag, bewölkt und kühl. Ihre schon etwas ältere Mutter hat eine Ausgabe der «Iswestija», einer beliebten konservativen Tageszeitung, auf den Küchentisch gelegt. Beim Überfliegen der Titelseite stossen Sie auf vertraute Storys: ukrainische Nazis, westliche Intrigen, russisches Heldentum.
«Meine Vorfahren haben das Vaterland gegen den Nazismus verteidigt, und ich werde es auch verteidigen», sagt Wladimir Maschkow, ein berühmter Schauspieler. Das erinnert Sie an Ihren eigenen Grossvater, der im Grossen Vaterländischen Krieg (1941–1945) an der Front gefallen ist, und an die Geschichten Ihrer Grossmutter, die davon erzählte, wie sie die Belagerung von Leningrad überlebte, indem sie Tapetenkleister ass.
«Was eine Basis des berüchtigten ‹Asow› verrät». Sie lesen, dass «Asow», ein ukrainisches Bataillon mit rechtsextremen Verbindungen, eine Spur von Kriegsverbrechen und Morden an Zivilisten hinterlassen hat. Der Zeitung zufolge haben britische Truppen die Gruppe aufgebaut und ausgebildet und dabei ihre Nazi-Ideologie und den Hang zu neuheidnischen Kulten gefördert.
«Ärztliche Taten». Sie freuen sich zu erfahren, dass freiwillige Sanitäter aus Russland in der Volksrepublik Donezk im Einsatz sind. Russen retten Leben in der Ukraine, heisst es in dem Bericht. Sie fragen sich: Könnte ich selber mehr tun, um die gute Sache zu unterstützen?
«Minus und Plus». Sie erfahren, dass Russlands Haushaltsüberschuss dank der sprudelnden Öleinnahmen 800 Milliarden Rubel erreicht hat. So viel zu den westlichen Sanktionen.
11.30 Uhr
Sie scannen Ihr Handy, während Sie in einer Klinik arbeiten. Der Tab mit den Nachrichten, die auf VK, Russlands beliebtestem sozialem Netzwerk, trenden, führt Sie in einen Channel zur «Situation rund um die Ukraine».
«Vizepremier der Krim: Der Süden der Ukraine wird russisch werden». Der Behördenvertreter erklärt, es sei der Wille der Menschen im Süden der Ukraine, sich wieder dem Mutterland anzuschliessen, weil die ukrainische Herrschaft nur Unterdrückung und Leid gebracht habe. Sie sitzen daheim in Ihrer Wohnung in Moskau und erinnern sich an Ihren Urlaub an der Krimküste im letzten Sommer. Und daran, wie froh die Menschen dort darüber waren, zu Russland zu gehören.
«Anhänger des ‹Rechten Sektors› in Kaliningrad verhaftet». Sie sehen, wie Beamte des russischen Sicherheitsdienstes einen ukrainischen Nazi-Sympathisanten festnehmen, der einen Terroranschlag am Tag des Sieges geplant hatte. Wie schlimm wäre wohl die Situation geworden, wenn Russland den Nationalsozialismus in der Ukraine noch länger hätte schwelen lassen? Vielleicht hatte Putin recht: Russland hatte wirklich keine andere Wahl.
«In Donezk wird es einen Platz geben, der nach dem russischen Helden Nurmagomed Gadschimagomedow benannt ist». Gadschimagomedow war einer der ersten russischen Soldaten, die während der Spezialoperation getötet wurden. Er wurde gerade einmal 25 Jahre alt. Gadschimagomedow starb bei der Erfüllung seiner Pflicht.
«Putin gratulierte Puschilin zum DNR-Tag und drückte seine Zuversicht über den Sieg aus». Sie erfahren, dass es genau acht Jahre her ist, dass die Volksrepublik Donezk mit der Ukraine gebrochen hat. Acht Jahre! Hoffentlich kommt bald der Sieg.
Sowjetische Fernsehnachrichten der 1970er- und 1980er-Jahre waren langweilig. Moderatoren lasen in grauen Studios monotone khroniki (Wochenschauen) vor. Während die Funktionäre der Kommunistischen Partei hofften, das Medium Fernsehen zur Mobilisierung des Volkes nutzen zu können, war das Ergebnis ein Schlafmittel.
Nach Putins Amtsantritt erschuf das russische Fernsehen bald eine Welt, in der «nichts wahr und alles möglich ist», wie es der britische Autor Peter Pomerantsev beschrieben hat. Diese Propaganda hatte eine psychedelische Wirkung, sie säte immerfort Zweifel bei den Zuschauern: War das, was sie gerade sahen, wahr oder falsch? Viele zogen sich in der Folge aus dem politischen Leben zurück.
Die Kriegspropaganda der Regierung hingegen dient heute zunehmend als Stimulans. «Sie brauchen jetzt eine Mobilisierung, eine starke Unterstützung für ein Unternehmen dieses Ausmasses», sagt Andrei Kolesnikow von der Carnegie Endowment for International Peace, einem amerikanischen Thinktank.
Die staatlichen Medien hatten sich über die westlichen Warnungen vor einer bevorstehenden Invasion lustig gemacht, und die Journalistinnen und Moderatoren schienen zunächst fassungslos, als sie von Putins Befehl erfuhren. «Viele dachten, es würde alles im Rahmen der Informationskriegsführung bleiben», sagt Maria Borzunova, die auf dem Online-Fernsehsender Dozhd eine Sendung über die staatlichen Medien moderierte.
Einige Journalisten verliessen das Land unter dramatischen Umständen, wie Marina Owsjannikowa, eine Produzentin von Channel One, Russlands wichtigstem Fernsehsender, deren On-Air-Protest im Westen Schlagzeilen machte. Die meisten Medienschaffenden aber sorgten dafür, dass die Maschine weiterlief, sei es aus Treue zum System, zu den Kollegen oder zu ihren Liebsten. «Ich war angewidert», sagt uns ein Journalist bei einer staatlichen Nachrichtenagentur. «In den Tagen nach dem 24. Februar dachte ich ständig: ‹Ich muss weg› … aber ich habe eine Familie, ein Kind und eine Hypothek.»
Zu Beginn des Krieges bestand die Berichterstattung aus Triumphgeheul. Die Journalisten deuteten an, dass die «Spezialoperation» innerhalb weniger Tage oder Wochen abgeschlossen sein würde. Kommentatoren stellten die Staatlichkeit der Ukraine infrage, sie warnten vor Nazis, beschuldigten den Westen, besagte Nazis zu fördern – und bestanden darauf, dass das ukrainische Volk auf seine Befreiung warte. Viele wiederholten eine der ersten Erklärungen Putins für den Einmarsch: Hätte Russland keinen Präventivschlag durchgeführt, wäre es angegriffen worden.
Je länger sich der Konflikt hinzieht, desto hysterischer wird der Ton. Zwar werden die Kämpfe in der Ukraine nach wie vor als «militärische Spezialoperation» bezeichnet. Doch heisst es, das sei nur eine Front im Krieg gegen den Westen. Die Sanktionen dienen als Beweis dafür, dass der Westen Russland zu Fall bringen will. Die Erinnerung an vergangene Traumata wird zur Versicherung, dass Russland alle Schwierigkeiten überstehen wird. Putin wird in den Medien oft als Oberbefehlshaber bezeichnet und nicht als Präsident wie in Friedenszeiten. «Sie reden viel darüber, wie Russland die neue Weltordnung erschafft, wie dies sein Moment in der Geschichte ist, um die Hegemonie der USA zu brechen», sagt Francis Scarr, der die russischen Medien für den «BBC Monitoring Service» verfolgt.
Grausamkeiten kommen vor, aber sie sind spiegelverkehrt zu den Bildern, die das Publikum im Westen sieht. Die Zivilisten in Butscha, einer Stadt nördlich von Kiew, wurden nicht von den russischen Streitkräften massakriert, die das Gebiet kurzzeitig besetzt hielten, sondern von ukrainischen Soldaten. Westliche Geheimdienste arrangierten die Leichen auf den Strassen, damit Journalistinnen sie dort finden würden. «Manchmal habe ich das Gefühl, dass wir auf zwei verschiedenen Planeten voll mit denselben Dingen und Orten leben», sagt Zhanna Agalakova, eine ehemalige Korrespondentin von Channel One, die als Reaktion auf den Krieg gekündigt hat. Russische Medien «berichten über ein Mariupol, in dem russische Panzer mit Blumen empfangen werden». Westliche Medien «berichten von einer zerstörten Stadt und von Menschen, die durch Strassen laufen, die mit Leichenteilen übersät sind».
Den russischen Zuschauern wird erzählt, dass die russischen Truppen besonders darauf achten, Opfer unter der Zivilbevölkerung zu vermeiden, was allerdings schwierig ist, weil sich ukrainische Nazis bevorzugt in Wohnblocks verstecken. Das russische Fernsehen nutzt diese angebliche Vorsicht, um zu erklären, warum die Operation so lange dauert. Wenn Opfer überhaupt erwähnt werden, dann werden sie zu Helden stilisiert.
Der Untergang des russischen Flaggschiffs Moskwa im Schwarzen Meer wurde als Unfall dargestellt, der nichts mit den Kampfhandlungen zu tun hatte. In den offiziellen Nachrichten wurde er überhaupt nur kurz erwähnt.
Im Jahr 2014 wurde mit ähnlichen Behauptungen versucht, Russlands Annexion der Krim und seinen ersten Einmarsch in der Ostukraine zu rechtfertigen. Damals war der «Nazismus» jedoch lediglich eine Bedrohung für russischsprachige Menschen in der Ukraine. Die aktuelle Erzählung konzentriert sich auf die Bedrohung für Russland selbst. Die Existenz als Nation, die russische Geschichte, die russische Kultur und das Recht, Russin zu sein, werden angegriffen. Parallelen zum Grossen Vaterländischen Krieg knüpfen an die Erinnerung an einen gerechten existenziellen Kampf gegen den Nazismus an.
Verräter im Inneren ernten Verachtung. Die offiziellen Medien sprechen von der Säuberung des Landes und greifen dabei auf die Sprache zurück, die während Stalins Terror in den 1930er-Jahren oder während der Kampagne gegen «Kosmopoliten» (sprich: «Juden») nach dem Zweiten Weltkrieg verwendet wurde. Die Rhetorik ist von einer neuen Religiosität durchdrungen. Moderatorinnen beschwören die Idee eines heiligen Krieges und erklären den Zuschauern, dass Gott auf Russlands Seite gegen die bösen westlichen Mächte steht, die das Land umzingelt haben.
18.00 Uhr
Während Sie auf der Heimfahrt im Stau auf der Dritten Ringstrasse stehen, hören Sie die Nachrichten im Radio. Wie seit dem 24. Februar üblich, dominiert die Spezialoperation in der Ukraine.
«Es ist 18 Uhr in Moskau. – News! – Aus dem Studio, Stepan Grishin. – Die Ukraine war eine Basis für die Entwicklung von Bestandteilen biologischer Waffen und für den Test neuer Proben. – Das russische Verteidigungsministerium hat neue Vorwürfe gegen die USA wegen ihrer militärisch-biologischen Aktivitäten nahe unserer Grenzen erhoben. – Gemäss den russischen Streitkräften haben sie [die USA] bereits versucht, im Donbass künstlich eine Epidemie auszulösen. – Boris Belin hat die Details.»
Das Gerede über Biolabors klingt unglaublich, wie aus einem Science-Fiction-Film. Aber so ist das mit so vielem im Leben seit dem Beginn der Pandemie. Sie wissen immer noch nicht genau, wer George Soros ist, aber wenn er etwas damit zu tun hat, muss es etwas Schlimmes sein. Es überrascht Sie jedenfalls nicht, dass die Amerikaner so etwas tun würden.
21.00 Uhr
Nach dem Abendessen sitzen Sie vor dem Fernseher. Sie zappen durch die Channels – und landen bei einer Talkshow, die von Wladimir Solowjow moderiert wird.
Sein Monolog vor einer eleganten Studiokulisse hat eine Reihe klarer Botschaften. Der Westen will nichts Geringeres als die völlige Zerstörung Russlands. Herr Putin hat das Vertrauen des russischen Volkes, und es ist an der Zeit, dass auch Sie ihm Ihre Unterstützung zeigen! Sie erheben sich, aber nur, um sich ein Bier aus dem Kühlschrank zu holen.
Mikhail Katsurin, ein Restaurantbesitzer in Kiew, wurde am 24. Februar durch das Grollen von Explosionen geweckt. Ein paar Tage später telefonierte er mit seinem Vater, der in einer kleinen Stadt in Russland lebt. «Ich rief an und sagte: ‹Papa, sie haben angefangen, uns zu bombardieren, Russland ist in die Ukraine einmarschiert›», erinnert sich Katsurin. «Er sagte: ‹Nein, Misha, das ist alles ukrainische Propaganda – in Wirklichkeit ist es eine friedliche Operation, und russische Helden retten euch vor den Nazis.›»
Viele Ukrainer und russische Kriegsgegnerinnen haben bei Gesprächen mit Freunden und Verwandten in Russland Ähnliches erlebt. Seit Beginn des Krieges schauen die Russen mehr Fernsehnachrichten. Von den zehn meistgesehenen Sendungen in der ersten Maiwoche waren neun Nachrichtensendungen und Talkshows zu aktuellen Ereignissen, während es ein Jahr zuvor nur fünf waren. Vor dem Krieg korrelierte die TV-Nutzung tendenziell mit höheren Zustimmungswerten für Putin.
Channel One hat Unterhaltungsformate durch Aktualität ersetzt. Nachrichten und politische Talkshows laufen ohne Unterbrechung von morgens bis abends, abgesehen von einer kurzen Gesundheitssendung am Vormittag. An die Stelle von Unterhaltungsformaten sind Sendungen wie «Anti-Fake» getreten, in denen Diskussionsteilnehmer westliche «Desinformation» entlarven. Beliebte Moderatoren des staatlichen Fernsehens wie Wladimir Solowjow, ein giftsprühender Falke, herrschen über kleine Multimedia-Imperien, die sich in den sozialen Netzwerken und im Radio ausbreiten.
Meinungsumfragen zeigen eine weitverbreitete Unterstützung für die spezielle Militäroperation, bis zu 80 Prozent soll sie betragen. Doch diese Zahlen sind zweifelhaft. «Die öffentliche Meinung setzt das Vorhandensein einer öffentlichen Sphäre voraus, die in Russland jedoch zerstört wurde», sagt der Soziologe Yudin. Anstatt die Präferenzen zu messen, sind Umfragen zu einem Mittel der Kontrolle geworden. Eine offene Diskussion über den Krieg ist so gut wie unmöglich. «Wir spüren, dass etwas passiert, über das wir nicht sprechen können, weil wir an unserem Gefühl der Normalität festhalten müssen», sagt Yudin. «Es ist, als läge da ein Toter vor uns, über den wir aber nicht reden können.»
Trotz der Bemühungen der Propagandamaschine sind die Russen nicht bereit, sich massenhaft zu opfern. Es gibt Berichte von Soldaten, die sich weigern, an die Front zu gehen. Zwei Teenager wurden Anfang Mai verhaftet, weil sie Molotowcocktails auf ein Rekrutierungsbüro geworfen hatten. Es war einer von neun Vorfällen dieser Art seit Kriegsbeginn, wie die «Novaya Gazeta Europe» berichtet, die Erbin der berühmten russischen Zeitung, die zur Schliessung gezwungen wurde. Der Kreml hat bisher davon abgesehen, den Krieg zum Krieg zu erklären und eine Generalmobilmachung sowie eine allgemeine Wehrpflicht auszurufen – die Regierung weiss, dass dies unpopulär wäre. «Sie sagen: ‹Für Russland, für den Sieg› – aber was ist ein Sieg?», fragt Andrei Kolesnikow von der Carnegie-Stiftung für Internationalen Frieden.
Die Russinnen können weiterhin auf inoffizielle Informationen zugreifen. YouTube ist nicht verboten worden. Das Team des Oppositionsführers Alexei Nawalny hat dort ein grosses Publikum; viele Moderatoren von Echo Moskwy, dem beliebten liberalen Radiosender, senden jetzt auf der Website. Bei Telegram gibt es Kanäle aller politischen Richtungen. Mithilfe virtueller privater Netzwerke (VPN) können sogar blockierte Websites aufgerufen werden. Nach Angaben des Datenunternehmens Appfigures stiegen die russischen Downloads der zehn beliebtesten VPN-Programme im Monat nach Kriegsbeginn auf 700’000 pro Tag, davor waren es durchschnittlich 16’000 pro Tag. «Menschen mit Gadgets haben die Möglichkeit, alles zu sehen und zu lesen», sagt Kolesnikow.
Dennoch zeigen die Verbote Wirkung. Vor dem Krieg nutzten etwa 30 Prozent der Russen täglich Instagram. Nach Angaben des Forschungsunternehmens Mediascope war dieser Anteil bis Ende April auf noch 10 Prozent gesunken. Vor dem Krieg hatte Echo Moskvy landesweit ein Publikum von 3 Millionen. Seine Wiedergeburt auf YouTube kommt auf gerade mal 550’000 Follower. Viele Russinnen, vor allem ältere, haben weder die Mittel noch die Fähigkeiten, VPN zu benutzen, und die westlichen Sanktionen machen es schwierig, für sie zu bezahlen. Und viele Menschen konsumieren die offiziellen Informationen aus freien Stücken.
Fehlinformationen, und zwar nicht nur die von Putin, machen sich die Eigentümlichkeiten des menschlichen Geistes zunutze. Menschen neigen dazu, Geschichten zu glauben, die sie in ihren Überzeugungen bestärken, ein Prozess, der als «motivierte Argumentation» bekannt ist. Auch blosse Wiederholung kann eine Aussage glaubwürdiger erscheinen lassen. Im heutigen Russland werden diese Mechanismen durch Gewalt und Unterdrückung zusätzlich verstärkt. Wenn man die offizielle Erzählung hinterfragt, verlässt man seine Komfortzone und begibt sich in Gefahr. «Menschen wollen keine inoffiziellen Medien sehen, und wenn sie sie sehen, wollen sie ihnen nicht glauben», sagt Kolesnikow. «Das ist ein psychologischer Schutzmechanismus.»
Der Beitrag erschien im Magazin «The Economist» am 17. Mai 2022 unter dem Titel «The Putin Show».