«Wie bekommen wir alle diese Krisen bloss unter einen Hut?»

Pandemie und Krieg werfen die bisherige Weltordnung über den Haufen. Der Wirtschafts­historiker Adam Tooze über ein globales Macht­vakuum, rote Linien im Umgang mit China und die Erneuerung der Globalisierung unter dem Zeichen der atomaren Bedrohung.

Ein Interview von Daniel Binswanger, Elia Blülle (Text) und Cole Wilson (Bild), 20.05.2022

Synthetische Stimme
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Britischer Geschichtsprofessor, Verfasser von Standardwerken und Analytiker der Weltpolitik: Adam Tooze.

Adam Tooze, wir erleben zwei Megakrisen. Einerseits die Pandemie, anderseits den Krieg in der Ukraine. Gehen wir auf eine neue Weltordnung zu?
Es scheint mir viel zu optimistisch, überhaupt eine Welt­ordnung voraus­zusetzen.

Also eine Weltunordnung?
Auch die Unordnung impliziert noch eine Ordnung, die eigentlich gelten müsste. Die gibt es derzeit aber nicht. In den 1990er- und 2000er-Jahren wussten alle, wo die Macht liegt und wie die Regeln lauten. Diese gelten aber spätestens seit der Finanzkrise 2008 nicht mehr – und deshalb reden wir jetzt über etwas Aufgebrochenes. Vielleicht von einem Aggregat­zustand?

Wie sieht dieser Aggregat­zustand aus?
Es gibt ein globales Macht­vakuum. Unsere Institutionen und unsere Modelle sind angesichts der gegenwärtigen Heraus­forderungen miserabel aufgestellt. Denken Sie an die Pandemie: Man hätte sich zum Beispiel vorstellen können, dass durch eine weltweite Impf­kampagne neue globale Strukturen entstünden, aber eine solche Impf­kampagne hat es nie wirklich gegeben. Oder nehmen Sie die Finanz­krise: Vor 2008 haben wir es verpasst, eine übergeordnete politische Struktur zu schaffen, die den globalen Finanz­markt hätte regulieren können. Man hat sich eingebildet, das sei gar nicht nötig. Das Ergebnis war, dass 2008 nationale Institutionen wie die US-Notenbank komplett improvisiert auf die globale Finanzkrise reagieren mussten. Was den Krieg in der Ukraine betrifft, hat meine Kollegin, die Historikerin Mary Sarotte, schon treffend festgestellt, dass wir gerade das Scheitern aller Versuche für eine tragfähige europäische Sicherheits­ordnung erleben.

Zur Person

Adam Tooze, 54 Jahre alt, ist Geschichts­professor an der Columbia University in New York. Er ist der Autor von «Crashed», inzwischen eines der Standard­werke über die Geschichte der Finanzkrise. Letztes Jahr hat er mit «Welt im Lockdown» eine voluminöse Geschichte der Pandemie vorgelegt – noch bevor ein Ende der Pandemie überhaupt abzusehen war. Sein ursprüngliches Spezial­gebiet ist die deutsche Volks­wirtschaft während und zwischen den Weltkriegen. Da Tooze in Deutschland aufgewachsen ist, spricht er fliessend Deutsch. Als versierter Analytiker der Weltpolitik betreibt er auch «Ones & Tooze», den Ökonomie-Podcast zum Welt­geschehen der Zeitschrift «Foreign Policy».

Es findet also ein kumulatives Scheitern von global governance statt, weil die Bewältigung der globalen Probleme nicht funktioniert?
Frustration finde ich den besseren Begriff, um die gegenwärtige Situation zu beschreiben. Scheitern setzt einen Endpunkt voraus. Und gerade diese Endpunkte fehlen: Klima­konferenzen oder Institutionen wie die Welthandels­organisation WTO scheitern. Aber die Politik setzt nach dem jeweiligen Scheitern sofort wieder an, um neue Lösungs­versuche zu lancieren. Sie rollt den Stein hoch, er fällt runter, dann rollt sie ihn wieder hoch, und er fällt wieder runter. Sisyphus­arbeit. Das ist ein besseres Bild.

Ein Beispiel?
Das Kyoto-Protokoll sollte 1997 unter der Prämisse der Klima­gerechtigkeit einen globalen Rahmen für die Klima­politik schaffen, wurde dann aber zunächst von den USA sabotiert. Als man an der Konferenz in Kopenhagen 2009 versuchte, China und Indien einzubinden, haben die sich gesperrt. Und in Paris haben sich die Staaten 2015 letztlich geeinigt, sich nicht zu einigen. Man beschloss, nichts Gemeinsames zu tun, sondern einfach alle dazu einzuladen, etwas zu unternehmen. Das Pariser Klima­abkommen war eine Antwort auf die real existierende Unordnung in der globalen Klima­politik, der man eine Struktur überstülpen wollte. Das blieb nicht wirkungslos, aber das Abkommen entspricht bestimmt nicht mehr derselben Vorstellung von globaler Ordnung, die noch in den 1990er-Jahren leitend war. Die jährlichen Klima­konferenzen sind ein Prozedere, eine anhaltende Verhandlung, und keine in sich schlüssige Lösung für eine globale Klimapolitik.

Hier kommen wir zum Schlagwort, mit dem im Kontext des russischen Angriffs­krieges in der Ukraine jetzt alle um sich werfen: Deglobalisierung.
Von Deglobalisierung kann doch nicht die Rede sein. Putin involviert über die atomare Drohung die ganze Welt – und das entspricht dem Gegenteil einer Deglobalisierung. Man könnte sogar von einer Erneuerung der Globalisierung unter atomarer Bedrohung sprechen.

Will heissen?
Warum sollen sich die Menschen in Argentinien oder Tansania irgend­welche Gedanken über die Ukraine machen? Vielleicht wegen der Getreide­märkte, aber sonst? Die globale Relevanz dieses Krieges versteht sich nicht von selbst. Sie wird primär durch die atomare Bedrohung und auch durch die Disruption der Liefer­ketten hergestellt. Denken Sie an die Energie­märkte: Was macht der deutsche Minister für Wirtschaft und Klima­schutz, Robert Habeck, wenn er sich um neue Gasquellen bemüht? Er reist nach Katar und besorgt sich Flüssiggas in Doha. Auch die Waffen­lieferungen in die Ukraine sehen nicht nach Deglobalisierung aus, sondern lassen neue globale Liefer­ketten entstehen.

Wie zu Zeiten der Weltkriege?
Schon der Erste Weltkrieg wurde vielfach als Bruch mit der ersten Globalisierung beschrieben, aber auch diese Darstellung hängt davon ab, wohin man schaut. Nie waren das britische Weltreich, Frankreich und Russland so eng mit den amerikanischen Finanzen verkoppelt wie nach dem Ersten Weltkrieg. Heute geschieht Vergleichbares: Die Welt wird nicht deglobalisiert, sondern sie globalisiert sich in eine andere Richtung. Wir erleben eine gewalt­tätige Verschiebung in der Geometrie der Macht­systeme.

Es scheint aber, als würde die Vorstellung einen Rückschlag bekommen, dass die Welt durch den Handel immer enger zusammen­wächst. Oder wird die von Ihnen beschriebene Geometrie einfach chaotisch weiter­wuchern und werden wir letztlich genauso vernetzt bleiben wie bisher?
Die Toleranz für Wildwuchs nimmt ab. Im Zuge der Pandemie und des Krieges müssen sich plötzlich alle für stabile Liefer­ketten interessieren. Das war vor fünf, zehn Jahren noch nicht der Fall. Vor allem aber sollte uns jetzt eines klar werden: Wenn wir über Globalisierung redeten, dann redeten wir primär über die Integration Chinas in die Weltwirtschaft. Diese Entwicklung – und das erstaunliche Wachstum der ostasiatischen Volks­wirtschaften in Chinas Nachbarschaft – hat die Welt seit den 1990er-Jahren so grundlegend wirtschaftlich verändert wie kein anderes Ereignis. Global ist China von grösserer Bedeutung als das, was gerade mit den Beziehungen zu Russland geschieht.

Russland gegen den Westen ist – abgesehen von der atomaren Bedrohung – also nicht die entscheidende Konflikt­linie?
Für die Europäer ist der russische Angriffs­krieg in der Ukraine ein Zivilisations­bruch. Das will ich nicht leugnen. Unter globalen Bedingungen sollte man seine eigenen Krisen- und Schock­erfahrungen aber überdenken. Es ist für die allermeisten Menschen auf der Welt nicht einleuchtend, dass dieser Krieg eine Zeitenwende darstellen soll. Es ist ja nicht wahr, dass der russische Angriffs­krieg in der Ukraine der einzige grosse Krieg seit dem Zweiten Weltkrieg ist. Das ist eine Binnensicht Europas – und angesichts der Jugoslawien­kriege auch für Europa nicht adäquat.

Die Sanktionen sind bis anhin erstaunlich wenig destruktiv für die russische Wirtschaft. Wie lautet Ihre wirtschaftliche Prognose?
Für das Wirtschafts­wachstum sind die Sanktionen eine Katastrophe. Ein beträchtlicher Teil der Bildungs­elite hat sich abgesetzt. Georgien ist heute voll mit brillanten Russen, was fatal ist für Russlands längerfristige Entwicklung. Aber die russische Wirtschaft ist viel zu gross und komplex, um auf einen Schlag einzubrechen. So läuft das nicht. Eine grosse Volks­wirtschaft passt sich an, stellt um, justiert. So war das auch im Iran, als das Land mit Sanktionen eingedeckt wurde. Die realwirtschaftlichen Effekte werden sich erst nach einer Weile zeigen. Klar ist: Die Einkünfte aus dem Energie­sektor helfen enorm. Die Preise sind so hoch, dass Russland gar nicht umhinkommt, Geld zu verdienen.

Was bedeutet der Krieg für die restliche Weltwirtschaft?
Die Angebotsprobleme, die aufgrund der Corona-Pandemie bereits letztes Jahr da waren, sind noch schwer­wiegender geworden. Das stellt fragile Schwellen­länder vor eine harte Probe. Die hohen Lebensmittel- und Energie­preise, die steigenden Zinsen, der ungeheuer starke Dollar erzeugen einen massiven Druck. Und anders als in der Pandemie gibt es keinen Grund zur Annahme, dass die amerikanische Notenbank den armen Nationen zu Hilfe eilt und ihre Geldpolitik zu ihren Gunsten anpasst.

Welche Konsequenzen hat das?
Sri Lanka zum Beispiel schlittert in eine Wirtschafts­krise. Den Menschen mangelt es an Treibstoff, Lebens­mitteln und Medikamenten. Es kommt zu gewalt­tätigen Protesten. Ganze Länder werden von Öl­zulieferungen abgeschnitten. Alle Flug­gesellschaften Nigerias haben vorletzte Woche gedroht, den inländischen Flugverkehr einzustellen. Und Nigeria ist immerhin die grösste Volks­wirtschaft Afrikas. Ein riesiges Land mit schlechten Verkehrs­verbindungen. Ohne Flüge geht nichts. Solche und vergleichbare Effekte werden wir in den nächsten Monaten weltweit sehen. Die Prognosen des Internationalen Währungs­fonds sind sehr pessimistisch. Vor allem müssen wir uns auf eine lange und harte Preis­adjustierung – ich will das Wort Inflation nicht gebrauchen – einstellen.

Warum scheuen Sie den Begriff der Inflation?
Bei einer Inflation steigen die Preise und Löhne umfassend. Natürlich gab es in der Geschichte noch nie eine Inflation, die zu einem völlig gleichmässigen Anstieg führte, aber derzeit entwickeln sich die Preise über die verschiedenen Waren­kategorien und Dienst­leistungen extrem unterschiedlich. Ein Grund dafür ist auch der enorme Nachfrage­schub – und zwar weg vom Dienstleistungs­sektor hin zu jenen Gütern, deren Herstellung immer weniger menschliche Arbeit erfordert. Deshalb steigen in den USA bestimmte Güterpreise. Die Löhne steigen auch, aber nicht im gleichen Masse. Die Reallöhne fallen sogar auf beiden Seiten des Atlantiks. Konservative fordern nun, dass Unter­nehmen die Löhne tief halten sollen, um die Inflation zu dämmen. Das ist entlarvend: Sie zeigen, dass Inflation nur in Güter­kategorien gedacht wird, während eine Inflation im wahren volks­wirtschaftlichen Sinne alles umfasst – auch die Löhne.

Wir möchten noch ein grosses Schlagwort ins Spiel bringen, nämlich «Wandel durch Handel». Das ist das Mantra insbesondere der deutschen Aussen­politik, gemäss dem man geglaubt hat, Russland einzubinden und zu zivilisieren. Muss man heute sagen, die Deutschen waren naiv?
Ich halte dieses Narrativ für wenig überzeugend. Seit dem Beginn der Ostpolitik in den späten Sechziger­jahren war es in Deutschland umkämpft. Bestimmt hat man sich etwas gar gutgläubig darauf verlassen, dass Handel die Demokratisierung befördern würde. Ich würde aber nicht sagen, dass die Deutschen insgesamt die Blauäugigsten waren. In den Neunziger­jahren waren die US-Amerikaner in dieser Hinsicht wohl noch einiges naiver – nicht unbedingt, was Russland betrifft, sondern vor allem mit Bezug auf China, das man über die Welthandels­organisation WTO einzubinden versuchte. Aber auch damals waren nicht alle nur naiv. Der republikanische Politiker Bob Zoellick zum Beispiel, der diese Politik für die Bush-Regierung anführte, glaubte nicht, dass Handel ohne weiteres zu Demokratisierung führt. Eher würde er sagen, dass Handel Anstösse für eine Politik in eine richtige Richtung geben kann.

Wie gibt man solche Anstösse?
Handel kann primär jene Partei innerhalb des Macht­apparates eines Handels­partners stärken, die am politischen Wandel interessiert ist. Letztlich betreibt eine Regierung mit einer entsprechenden Aussenhandels­politik ein Machtspiel: Sie stärkt bestimmte Fraktionen innerhalb eines Partner­landes, indem diese wirtschaftlich eingebunden werden. In China und Russland hat dieses Vorgehen grosse Wirkung gezeigt.

Inwiefern?
Es kommt nicht von ungefähr, dass es nun so viele verzweifelte und empörte Russinnen und Russen gibt, die ihre Lebens­visionen scheitern sehen, die oft durch ausländische Investitionen und durch Handel ermöglicht wurden. Im Übrigen investierten nicht nur die Deutschen. Sie waren hauptsächlich am Gas interessiert, das nur ein Fünftel der russischen Exporte von fossilen Rohstoffen ausmacht. Das grosse Geschäft haben die Amerikaner, die Briten und die Franzosen mit dem Erdöl vorangetrieben. Die Ölkonzerne Exxon, BP, Shell und Total waren alle tief drin im Russland­geschäft.

Waren diese Konzerne nicht einfach fahrlässig?
Mit BP hatte ich zeitweise sehr viel zu tun. Wenn ich die Verantwortlichen zur Rede stellte, dann war klar, so schien mir, dass sie nicht naiv waren. Sie wussten, worauf sie sich einliessen, und versuchten ihre Kontakte zu nutzen, um Veränderungen zu bewirken. Sie rechneten damit, dass diese neue Realität längerfristig dominieren würde. In dieser Hinsicht haben sich die Konzerne verkalkuliert – nicht nur dort, sondern auch in China.

Weshalb?
Auf der anderen Seite dieser gewagten Wette standen Gegen­spieler, die sich sagten: Wir wissen genau, was ihr vorhabt. Ihr wollt uns entmachten und uns verändern. Also gut, dann gehen wir die Wette ein – und setzen gegen euch.

Und die Gegen­spieler haben gewonnen?
Die russische Machtelite hat sich mit den neuen Einkommens­flüssen ein schönes neues Moskau gebaut, eine tolle neue Stadt, die in den letzten 20 Jahren entstanden ist. Die Elite wettete darauf, dass sie mit diesen Erfolgen eine mehrheits­fähige Partei oder zumindest eine wichtige, grosse Minderheit an sich binden und auf deren Basis ein autoritäres Regime errichten kann. Die Chinesen und die Russen haben beide dieses Spiel gespielt. Bei dieser Betrachtungs­weise ist das heutige Ergebnis weniger das Resultat von Naivität als von einer riskanten Strategie, die der Westen verfolgt hat.

Hat der Westen somit alles richtig gemacht?
Was man kritisieren muss, ist die Tatsache, dass schon seit einer Weile klar war, dass wir diese Wette verlieren werden.

Wann wurde das klar?
Allerspätestens an der Münchner Sicherheits­konferenz im Februar 2007. Putin hat dort klipp und klar gesagt: Leute, hört mir zu. Ich habe ein ganz anderes Verständnis von dem, was sich hier ereignet. Kurz darauf hat er in Georgien bewiesen, dass er es todernst meint.

Sie sagen also, eigentlich hätte man bereits 2007 aufwachen müssen? Das liegt sehr weit zurück.
Dass die Deutschen auch darüber hinaus auf Russland zugingen, finde ich nachvollziehbar. Aber eine Frage stellt sich auf alle Fälle: Wie ist es möglich, dass man es nach der Krim-Annexion im Jahr 2014 zugelassen hat, dass der Anteil der russischen Gaslieferungen weiter anstieg? Das hat mit der Strategie «Wandel durch Handel» an sich aber nichts zu tun. Es ist mehr ein Versagen der Taktik. Man hätte spätestens ab 2014 damit rechnen müssen, dass die Situation entgleisen kann. Das würde ich kritisieren, nicht die Idee von Wandel durch Handel an sich. In anderen Feldern hat sie funktioniert.

Zum Beispiel?
Innerhalb der EU. Schauen Sie sich Spanien an, Portugal, das Baltikum. Das sind Länder, die aus ganz anderen Verhältnissen kamen, politisch, ökonomisch und sozial. Mittlerweile bestimmen sie mit, was es heisst, europäisch zu sein. Es ist nicht nur eine Frage der Konvergenz innerhalb Europas. Diese Länder machen heute Europa. Die Balten zum Beispiel haben einen ungeheuer disproportionalen Einfluss auf die europäische Politik.

Wenn man darüber spricht, welche äusseren Einflüsse zur Konsolidierung des russischen Regimes und zum Krieg geführt haben, dann spricht man über die Europäische Union, über Deutschland. Dann gibt es aber noch Länder wie die Schweiz, die in dieser Gleichung oft gar nicht vorkommen. Wie würden Sie deren Rolle beschreiben?
(zögert lange) Ich überlege sehr sorgfältig, welche Begriffe ich verwende, weil man schnell in polemische Diskurse verfällt. Also lassen Sie mich Abstand nehmen und überblicken, was für terminologische Möglichkeiten es gäbe. Man könnte von Nutzniessern, von Trittbrett­fahrern oder auch von Profiteuren sprechen, die letztlich die Macht­frage anderen überlassen und sich dadurch neutral verhalten können, auch in Bezug auf möglicher­weise unrecht­mässig angeeignete Ressourcen. Aber natürlich eröffnet diese Schweizer Neutralität auch die Möglichkeit, vermittelnd tätig zu sein. Man denke an die Rolle der Schweizer Unter­nehmen im weltweiten Waren­handel. Das ist eine profitable, aber auch hochgradig nützliche Funktion.

Können Sie das konkretisieren? Denken Sie an Logistik- und Handels­firmen oder eher an Finanz­institute?
Ich denke primär an die Handelsfirmen, insbesondere das Business des Rohstoff­handels, das in der Schweiz konzentriert ist. Für die globalen Märkte in ihrer heutigen Form sind diese Unternehmen essenziell. Die Welt­wirtschaft, so wie wir sie seit einem halben Jahrhundert kennen, wird von diesen Unter­nehmen stark mitbestimmt. Daran kann man eigentlich nichts kritisieren. Ich meine, was sollen die Schweizer sonst tun? Die Frage ist, inwieweit die Schweiz eine Rolle spielt als Schwach­stelle und Schlupf­loch. Als Gehilfin destruktiver Tendenzen und Ermöglicherin von Korruption. Aber warum sollte man sich diese Gelegenheit entgehen lassen?

Nun ja …
Problematisch wird es, wenn die Schweizer Neutralität Macht­effekte in anderen Ländern erzeugt. Die Schweiz hat für den Kompromiss zwischen den russischen Eliten – wie auch London, Zypern und alle anderen finanziellen Schlupflöcher – eine wesentliche Rolle gespielt. Nicht immer, nicht ständig und nicht für alle, aber Finanz­oasen dienen genau diesem Zweck: Sie ermöglichen einen Eliten­kompromiss zwischen den Oligarchen und der Putin-Führung. Im russischen Fall bedeutet das konkret: Die Schweiz trug dazu bei – natürlich nur als eine Spielerin in einem sehr komplexen Netz –, dass seit den Neunziger­jahren einige hundert Milliarden Dollar, vielleicht sogar deutlich mehr, aus Russland abfliessen konnten.

Immerhin hat sich Bern den Sanktionen gegen Russland angeschlossen.
Es ist bemerkenswert, dass die Schweiz sich bereit erklärt hat, mit den Sanktionen gegenüber Russland so weit zu gehen. Das erwartet man im Grunde gar nicht. Aber auch andere neutrale Staaten überdenken ihre Politik jetzt grundsätzlich. Schweden stellt voraussichtlich einen Antrag auf Nato-Mitgliedschaft. (Anmerk. d. Red: Das Interview wurde geführt, bevor Schweden und Finnland ihren Antrag am 18. Mai offiziell einreichten.) Der Begriff Zeiten­wende ist vielleicht ein wenig hoch gegriffen, aber trotzdem nicht ganz falsch.

Halten Sie es für möglich, dass die aktuellen Krisen die Funktions­weise neutraler Staaten und das damit einhergehende Trittbrett­fahren unter Druck setzen werden?
Das wäre zu begrüssen. Abgesehen von der ideellen Perspektive stellt sich jetzt auch die Macht­frage auf eine andere Weise. Insgesamt bin ich skeptisch gegenüber der Idee einer Block­bildung. Aber es gibt in der gegenwärtigen Situation politische Fragen, bei denen völlig klar ist, was Brüssel und Washington wollen. Und es ist ebenfalls klar, dass es schwierig und zum Teil auch kostspielig werden könnte, wenn sich eine Regierung oder wenn sich Unternehmen auf die falsche Seite stellen. Die amerikanischen Behörden haben in Sachen Sanktionen eine Reputation und sind in der Lage, über ihren Finanzplatz enorme Hebel­wirkung zu erzeugen. Das zeigen die riesigen Geldstrafen gegen europäische Banken. Nicht nur der Schweiz, auch anderen neutralen Staaten wird heute klar, dass ihre Haltung ab einem bestimmten Punkt nicht mehr vertretbar ist, weil der Kollateral­schaden zu gross wird.

Sie fürchten, die Neutralität könnte aus der Zeit fallen?
Die zunehmende Komplexität und Schwierigkeit einer neutralen Position ist ein stehendes Thema der neueren Geschichte. Es wäre auch vorstellbar gewesen, dass wir auf ein Zeitalter zusteuern, in dem sich die Neutralität generalisiert. Aber das ist offensichtlich nicht der Fall. Selbst in der Privat­wirtschaft ist die Neutralität nicht mehr sakrosankt. Niederländische Hightech-Firmen etwa stehen unter massivem Druck Washingtons, ihre weltweit einzigartigen Geräte nicht mehr nach China zu liefern. Oder HSBC: Der global tätigen, in Hongkong verwurzelten Bank wird von ihrem grössten chinesischen Aktionär geraten, sich aufzuteilen – in einen westlichen und einen asiatischen Teil.

Die Handel-durch-Wandel-Wette ist in Bezug auf Russland und China also definitiv gescheitert. Wäre jetzt die Zeit gekommen, die Wirtschafts­beziehungen zu China noch einmal zu überdenken?
Das ist die zentrale Frage, auf die man nun überall nach Antworten sucht. Wir müssen aber unbedingt einen kalten von einem heissen Krieg unterscheiden. Die Realisten unter den Theoretikern der internationalen Beziehungen haben eine gewisse Neigung, das gleichzusetzen, was ich problematisch finde. Zwei Dinge sind am heissen Krieg in der Ukraine überraschend und verwirrend. Einerseits haben wir bis heute nicht wirklich eine Ahnung, warum Putin diesen Krieg gestartet hat. Er ist dermassen dumm und fehlkalkuliert. Anderseits wirft der erfolgreiche ukrainische Widerstand alles über den Haufen und schafft eine sehr verwirrende Situation. Deshalb sollten wir nicht voreilige Schlüsse für andere Konflikte ziehen. Und wir sollten die Lage nicht noch verworrener machen, indem wir den China-Taiwan-Konflikt mit der Situation in der Ukraine verwechseln.

Aber ein Angriff auf Taiwan ist ein Szenario, mit dem wir rechnen müssen?
Sollte dieser Angriff erfolgen, würde sich die Welt komplett verändern. Aber ein solcher Angriff steht nicht unmittelbar bevor. Das ist jedenfalls die Einschätzung des amerikanischen Nachrichten­dienstes. Allerdings stellt sich trotzdem die Frage, wie sich unsere Beziehungen zu China gestalten sollen. Die USA haben China bereits 2020 den Wirtschafts­krieg erklärt und dem Land – oder genauer seinem Technologie-Champion Huawei – mit Sanktionen jede Möglichkeit genommen, sich essenzielle Mikrochips zu beschaffen. Das ist eine Form des Wirtschafts­krieges, die mindestens so scharf ist wie der momentane Wirtschafts­krieg gegen Russland. Und zwar gegen eine Firma, die viel wichtiger ist als alles, was Russland im verarbeitenden Sektor zu bieten hat. Huawei war weltweit der viertgrösste private Investor im Forschungs- und Entwicklungs­bereich. Die USA haben also eine Firma vom Status von Microsoft ruiniert – gezielt und taktisch klug.

Der Wirtschaftskrieg droht vor allem auch, die notwendige Dekarbonisierung zu verzögern. Für die Energie­wende braucht es China.
China ist der Leitmarkt. Das gilt in einem generellen Sinn, aber es gilt auch in einem sehr konkreten Sinn – zum Beispiel für die Autofirma VW, weil der entscheidende Markt für Elektro­fahrzeuge in China entsteht. Tesla ist gut und recht, aber das Durchschnitts-Elektroauto wird ein No-Name-Billig­produkt sein, das in China rumfährt. Eine Grossfirma wie VW hat keinen Plan B, falls das Geschäft in China stillsteht. Der VW-Vorstands­vorsitzende, Herbert Diess, spricht das ganz offen aus. Er sagt: Wir müssen mit China im Geschäft bleiben, anders geht es gar nicht. Die Vernetzung mit China ist heute so intensiv, dass eine Abkoppelung für eine ganze Reihe von westlichen Gross­firmen eine existenzielle Frage wäre.

Wie also sähe eine vernünftige westliche Politik gegenüber China aus?
Wir müssen rote Linien ziehen und sehen, wie die andere Seite reagiert. Zum Beispiel müssen wir ein offenes Gespräch über die Uiguren in Xinjiang führen, auch wenn das China nicht passt. Und die Europäische Union sollte auch die chinesischen Sanktionen gegen ihre Parlamentarier nicht tolerieren und deshalb auch das Investitions­abkommen, das mit China geschlossen wurde, nicht ratifizieren. Wir dürfen nicht klein beigeben.

Das war eine umfassende Tour d’Horizon zur globalen Lage. Lässt sich die Weltunordnung nur noch mit einem solchen Panorama­blick einfangen?
Es bleibt unbefriedigend, aber die Reflexion über diese Unübersichtlichkeit hat einen Wert. Die Situation ist zerfahren, brüchig und dynamisch. Themen- und Stimmungs­wechsel erfolgen sehr heftig und schnell. Wir springen von der Klimapolitik zur Pandemie zum Krieg in der Ukraine. Gleichzeitig wird die Bandbreite der öffentlichen Aufmerksamkeit immer schmaler. Ein Bewusstsein für die Heterogenität all dieser Probleme zu entwickeln, wird zunehmend zur Heraus­forderung. Und dabei lautet die entscheidende Frage immer: Wie bekommen wir all diese Krisen bloss unter einen Hut?

Es wäre die Rolle der Politik, eine Antwort zu geben.
Theoretisch, ja. Aber die Schwierigkeit liegt darin, dass die Macht­zentren fehlen. Es ist unglaublich, wie wenig Kapazität es in der Politik für eine Synthese all dieser Probleme gibt – gerade in Washington, das bis heute das scheinbare Zentrum der Macht bleibt. Die haben auch kein Spreadsheet, wo drinsteht, wie all diese Probleme zu lösen sind. Es gibt keinen Masterplan, wie oft vermutet wird. Das ist manchmal ziemlich ernüchternd.