Es gibt so vieles, wir kennen so wenig!
Immer nur Frisch und Dürrenmatt? Eben nicht! Es gibt so vieles, so Gutes mehr. Höchste Zeit für die Wiederentdeckung von Schweizer Theaterstücken. Serie «Zu Unrecht vergessen», Auftakt.
Von Daniel Binswanger, Simon Strauss (Text) und Yann Kebbi (Illustration), 20.05.2022
Im Unterschied zu den meisten anderen Gegenden der Erde subventionieren Deutschland, Österreich und die Schweiz Schauspielhäuser auf grosszügige Weise. Nirgendwo sonst wird Theater so entschieden gefördert. Wir leisten uns eine weitverzweigte theatrale Infrastruktur, als wäre ihre Fortexistenz integraler Teil der Staatsräson. Warum? Weil wir uns als Gesellschaft im 21. Jahrhundert offenbar immer noch darüber einig sind, dass es ein besonders schützenswerter Vorgang ist, wenn reale Menschen auf einer Bühne zu frühneuzeitlichen Königen oder antiken Rachegöttinnen werden – oder zu zeitgenössischen Performerinnen. Weil wir immer noch daran glauben, dass eine humane Kraft in der Verwandlung liegt.
Wie ja auch die christliche Tradition auf dem Glauben an eine Verwandlung beruht, so fusst die antike Tradition des Schauspiels auf einer magischen Setzung von Realität. Vielleicht ist sie uns deshalb nach wie vor so nah. Auch der gröbste Atheist würde ja nicht fordern, dass in unseren Breitengraden Kirchen abgerissen werden sollen, und so akzeptiert wohl auch ein Grossteil der bühnenfremden Gesellschaft eben, dass es Schauspielhäuser gibt.
Das Theater ist eine Schule des Sehens, ein Laboratorium der Gefühle. Warum nur beschränkt es sich in der deutschsprachigen Welt auf einen so kleinen Kanon? Höchste Zeit, das zu ändern. Zur Übersicht.
Sie lesen: Auftakt
Es gibt so vieles, wir kennen so wenig!
Folge 2
Paul Haller
Folge 3
Elsie Attenhofer
Folge 4
Maja Beutler
Tatsächlich liegt im Theater ein anarchistisches Potenzial verborgen: nämlich das Versprechen einer universalen Einfühlung. An amerikanischen Universitäten wird daran zwar inzwischen vielerorts gezweifelt, aber dass sich eine Person trotz unterschiedlicher Hautfarbe und Geschlecht ins Gegenüber hineinversetzen kann, geschieht im Theater ständig. Robert Lepage, der kanadische Theatermagier und fantasievolle Bilderpoet, hat vor kurzem das Spiel mit den Identitäten, die Vorstellung, «dass wir uns in jeden anderen verwandeln können», als «fundamentalen Wesenskern des Theaters» beschrieben.
Das bedeutet: Das Theater ist der anarchistische Platz unter der Sonne. Es ist eben nicht nur eine Schule des Sehens, sondern vor allem auch ein Laboratorium der Gefühle, ein Umschlagplatz des Mitfühlens, der Furcht und des Zitterns um jemand anderen, Fremden, in den man sich hineinversetzt und in der man sich spiegelt. In der Nachahmung der Wirklichkeit durch das Spiel liegt ein Versprechen begründet: Den Schein unseres Daseins teilen wir alle. Das Unrecht in der Welt geht jede etwas an. Und die einzige Hoffnung auf Widerstand dagegen ruht auf unserer Einbildungskraft, der aussergewöhnlichen menschlichen Fähigkeit, sich einen anderen Zusammenhang vorstellen zu können als den, in dem man lebt.
Und doch scheint das deutschsprachige Theater dieses bewusstseinserweiternde Potenzial heute zu vernachlässigen. Statt sich selbstbewusst als Werkstatt der Existenzen darzustellen, rutscht es zunehmend ab in die Nische der marktkonformen PR. Symptom (oder Auslöser?) dieser Entwicklung ist der Umstand, dass immer weniger Gewicht auf dramatische Texte gelegt wird – sich das Theater also von seiner literarischen Urgattung entfernt.
Stattdessen scheint inzwischen kein Stoff mehr vor einer dramaturgischen Aneignung sicher; ohne mit der Wimper zu zucken, bringt man Sachbücher auf die Bühne. Die Theaterverlage reagieren auf das gestiegene Interesse, indem sie statt neuer Theaterstücke in ihren Vorschauen immer mehr Vorlagen ankündigen, die sich angeblich zur Dramatisierung eignen. Hauptaugenmerk fällt dabei auf das Kinoprogramm und die Bestsellerlisten. Während es immer mehr unabhängige Verlage gibt, die für die Wiederentdeckung vergessener Literatur brennen, und während auch an den Opern der Kanon in regelmässigen Abständen erweitert wird, scheint man sich in den Dramaturgien unserer Stadt- und Staatstheater darauf geeinigt zu haben, lieber die altbekannten Klassiker zu spielen und hin und wieder ein paar neue Dramatisierungen und Dekonstruktionen von allgemein beliebten Stoffen dazwischenzuschieben.
Aber hier soll die Sache von der anderen Seite angegangen werden: Wir wollen nicht klagen und kritisieren, was es auf den Bühnen zu sehen gibt, sondern davon schwärmen, was es zu sehen geben könnte. Welche reichen Schätze auf dem Feld der Theaterliteratur zu entdecken wären. Nehmen wir an, wir könnten einen Spielplan frei gestalten, ohne nur auf Zuschauerzahlen, Besetzungszwänge oder Spielzeitmottos achten zu müssen. Das einzige Kriterium wäre, dass der Spielplan ausgefallen literarisch sein müsste, sich deutlich unterschiede von den herkömmlichen Programmen mit ihren «Woyzecks», «Macbeths» und «Handlungsreisenden». Nicht nur den Laien müsste doch eigentlich erstaunen, mit welcher Einfallslosigkeit an unseren Theatern immer wieder dieselben Stücke aufgeführt werden, als umfasste der allgemein spielbare Kanon nur etwa fünfzehn Autoren.
Was könnte man stattdessen alles spielen!
Jetzt, heute, hier, wo die Sehnsucht nach Erzählung und Identifikation, zumindest nach den Massstäben des allgemeinen Serienkonsums zu urteilen, bei einer jüngeren Generation wächst wie lange nicht mehr. Was liessen sich da für Stoffvergleiche anstellen, was für Wirkungsgeschichten aufzeigen – auf den Zeitgeist eben nicht nur mit Aktualitätsversprechen antworten, sondern mit einer enthusiastischen Gegenfrage. Nicht darüber verzweifeln, was das mit uns zu tun haben könnte, sondern neugierig danach suchen, womit wir immer noch nicht fertiggeworden sind.
Was könnte man stattdessen also spielen?
Das ist die Ausgangsfrage einer Initiative, die unter dem Titel «Spielplanänderung» mit Neugier versucht, den konventionellen Spielplanmacherinnen zu Unrecht in Vergessenheit geratene Theaterstücke ins Gedächtnis zu rufen. Sie will dafür sorgen, dass verschiedene Werke aus ihrem unverdienten Exil befreit und als Kronzeugen einer anderen Welt ins Zentrum eines imaginären Spielplans gestellt werden. Es geht dabei nicht um Kuriositäten, um Abseitiges oder Obskures, sondern um Werke europäischer Theaterkunst, die auf unsere Bühnen gehören, weil sie dieser Zeit etwas zu sagen oder ästhetisch Aufregendes zu bieten haben.
Keine kritische Revision des Höhenkamms also, sondern ein enthusiastisch werbender und Spannungsverhältnisse herstellender Blick in die Magazine: Gibt es wirklich niemanden neben Strindberg und Ibsen? Wen kennen wir ausser Beckett und Ionesco? Könnte sich das repräsentative Interesse an Geschlechtergerechtigkeit nicht auch inhaltlich zeigen? Mehr Dramatikerinnen gespielt werden? Welche jüdischen Theaterautoren haben wir vergessen? Welche Dramenfragmente lohnen einen zweiten Blick? Wie viel Sturm und Drang geht dem Theater verloren, wenn es keinen Byron spielt? Welche Sprache fehlt uns ohne die Sätze von Anna Gmeyner? Oder die von Alexander Blok? Welche fremden Seelen lernen wir kennen bei George Sand, Dagny Juel oder Aphra Behn? Was für ein funkelnder Gegenkanon liesse sich bilden mit Lope de Vega, Alexander Ostrowski, Franz Molnár, Leonora Carrington und George Bernard Shaw? Wie noch einmal anders könnte man auf die deutsche Geschichte schauen durch die Augen von Jakob Lenz und Max Herrmann-Neisse?
Und vor allem: Was hat die Schweizer Dramatik neben Frisch und Dürrenmatt noch zu bieten? Das ist die Ausgangsfrage einer «Langen Nacht der vergessenen Stücke», die kuratiert vom Regisseur und Autor Zino Wey am 18. Juni von 16 Uhr an in Kooperation mit der Republik bis weit nach Mitternacht am Schauspiel Bern stattfinden soll. Ein Abend mit wehenden Fahnen, verwegenen Spielerinnen, deklamierenden Musikern, tanzenden Schülern, wiederentdeckten Dramatikerinnen und kreischenden Sirenen. Eine Hommage an das unbekannte Schweizer Theater – Zufallsfunde, Rechercheergebnisse, echte Neoklassiker. Ein hitziges Diskursprogramm, eine Texttafelrunde, ein retrofuturistisches Popkonzert – das alles und noch viel mehr: mit Texten unter anderem von Maja Beutler, Annemarie Schwarzenbach, Otto F. Walter, Paul Haller, Heinrich Henkel.
«Die lange Nacht der vergessenen Stücke. Swiss Edition». Samstag, 18. Juni, ab 16 Uhr. Eine Kooperation des Schauspiels Bern mit der Republik. Hier finden Sie alle Details. Und hier gibts die Tickets.
Im Vorfeld jener langen Nacht publiziert die Republik über die nächsten Wochen Essays über relevante, verstörende, faszinierende Werke aus den Archiven des Schweizer Theaterschaffens – die heute zu Unrecht vergessen oder vom Vergessen bedroht sind.
Den Auftakt macht kommende Woche Republik-Redaktorin Theresa Hein mit einem Text über «Cromwell» von Annemarie Schwarzenbach. In dem unveröffentlichten Stück geht es weniger um den republikanischen Rebellen und späteren Diktator Oliver Cromwell als um seine Lieblingstochter Elisabeth – eine Frau, die versucht, Einfluss geltend zu machen und für den Frieden zu kämpfen –, aber nur so lange, bis ihr der diktatorische Herrscher und ihre eigene Rolle als Tochter (und Frau) dazwischenkommen. Das 1932 von der 24-jährigen Schwarzenbach verfasste Stück ist gerade angesichts ihrer eigenen Biografie interessant und wirft ein grelles Licht auf wieder sehr aktuelle, existenzielle Widersprüche in Zeiten kriegerischer Konflikte.
Die Schriftstellerin und Spoken-Word-Poetin Ariane von Graffenried und der Lyriker und Dramaturg Martin Bieri nehmen sich «Wer wirft den ersten Stein?» und «Die Lady mit der Lampe» vor, zwei Erfolgsstücke von Elsie Attenhofer. «Wer wirft den ersten Stein?» wurde 1944 uraufgeführt und setzte sich schonungslos kritisch mit der Schweizer Flüchtlingspolitik während des Zweiten Weltkrieges und dem ihr zugrunde liegenden Antisemitismus auseinander. Es ist ein verblüffendes Exempel politischen Theaters, auch deshalb, weil die Produktion damals enormen Erfolg hatte und durch die ganze Schweiz tourte.
Die Autorin Ariane Koch setzt sich mit der kürzlich gestorbenen Berner Schriftstellerin Maja Beutler und ihrem Drama «Lady Macbeth wäscht sich die Hände nicht mehr» auseinander. Beutler schuf ein erzählerisches Werk, schrieb Dramen und war eine der wichtigen literarischen Vorreiterinnen des Feminismus in der Schweiz. Ihre «Lady Macbeth» soll das erste Stück einer Frau gewesen sein, das auf der grossen Bühne des Zürcher Schauspielhauses gezeigt wurde. Ariane Koch zeichnet nach, auf wie vielfältige Weise Beutlers Werk heute fortwirkt, obwohl es im Theater kaum mehr zu sehen ist.
Der Schriftsteller Jonas Lüscher schliesslich widmet sich dem einzigen Drama des grossen Aargauer Mundartdichters Paul Haller, «Marie und Robert». Es erzählt von einer unmöglichen Liebe, die scheitern muss an wirtschaftlicher Not, der Enge der Familienverhältnisse und quälend schuldhaften Verstrickungen. Bis heute erschüttert Hallers Sprache durch ihre Direktheit und lyrische Kraft. Als Mundartstück schloss sich das Werk jedoch quasi selbsttätig aus dem dramatischen Kanon aus.
Was diese Texte, die «Lange Nacht der vergessenen Stücke», diese Initiative ausmachen soll, ist, ein Gefühl für den Reichtum zu vermitteln. Im Sinne eines: «Es gibt so vieles, wir kennen so wenig!» Angetrieben von einer Goldgräberstimmung, lautet die Forderung: mehr Vielfalt! Nicht nur innerhalb der Ensembles, sondern auch bei den monatlichen Programmankündigungen. Die vergessenen oder noch gar nie entdeckten Stücke, die empfohlen werden, bilden in ihrer stilistischen, dramaturgischen und programmatischen Unterschiedlichkeit den Entwurf eines Spielplans jenseits des konventionellen Kanons. Sie machen Lust auf ein ausgefallen literarisches Theater.
Ein Theater, das sich aus den verschiedenen Sprachräumen, Ideengeschichten und Wertevorstellungen speist, das sich durch ästhetische und ideologische Traditionen anregen lässt und sowohl der wissenschaftlichen Musealisierung als auch der pop-populistischen Preisgabe der Texte entgegentritt. Es geht um die Wiederentdeckung verloren gegangener Geschichten, ausgeschlossener Figuren und vernachlässigter Sprechweisen.
Es geht darum, jetzt, in diesem Moment, noch einmal so zu tun, als wäre mit diesem, unserem Theater alles möglich.
Simon Strauss ist Schriftsteller und Theaterkritiker, er hat in Cambridge und Basel Altertumswissenschaften und Geschichte studiert. Er ist Feuilletonredaktor bei der «Frankfurter Allgemeinen». Der hier veröffentlichte Text beruht zu Teilen auf dem Vorwort des von Strauss herausgegebenen Sammelbandes «Spielplan-Änderung», in dem 30 Stücke jenseits des konventionellen Kanons vorgestellt werden.