Liebe Schweiz, willst du mit mir gehen?
Die EU hätte vom Bundesrat gerne Antworten auf zehn konkrete Fragen, bevor sie neue Verhandlungen aufnimmt. Doch dieser dürfte im Moment wenig Interesse haben, sich festzulegen.
Von Priscilla Imboden, 17.05.2022
Vielleicht haben Sie als Kind auch einmal einem Schwarm in der Schule ein Zettelchen zugesteckt, auf dem stand: Willst du mit mir gehen? Darunter drei Kästchen zum Ankreuzen: ja, nein, vielleicht.
Die politische Version eines solchen Briefs hat die EU vor ein paar Tagen der Schweiz zugesteckt. Denn die Schweiz behauptet zwar, sie wolle eine Beziehung zur EU haben. Aber wenn es darum geht, diese offiziell zu machen, druckst sie herum. Davon hat die EU jetzt genug. Sie will eine verbindliche Antwort.
Deshalb hat die EU-Kommission der Staatssekretärin Livia Leu in einem Brief zehn konkrete Fragen gestellt, auf die sie schriftliche Antworten erwartet. Je nachdem, wie diese ausfallen, will die EU entscheiden, ob es sich lohnt, mit der Schweiz neu über institutionelle Fragen zu verhandeln. Der Brief, der via Radio SRF an die Öffentlichkeit ging und auch der Republik vorliegt, ist von Juraj Nociar unterschrieben, dem Generalsekretär des für die Schweiz zuständigen EU-Kommissars Maroš Šefčovič.
Der Fragebogen zeigt, wie viel noch unklar ist, nachdem der Bundesrat Ende Februar einen zaghaften Versuch unternommen hat, die Eiszeit zwischen Bern und Brüssel zu beenden. Man wolle die strittigen Fragen mit der EU einzeln in jedem Abkommen klären, teilte er damals mit. Ergänzt mit den Themen Gesundheit und Strom strebe man eine Art Bilaterale III an.
Zwei Mal reiste Livia Leu seither nach Brüssel, um zu sondieren, ob auf dieser Basis neue Verhandlungen aufgenommen werden können. Aus diesen Gesprächen ist bisher wenig an die Öffentlichkeit gedrungen. Wie sich nun aber herausstellt, waren sie wenig konkret. In Brüssel zerbricht man sich offenbar den Kopf darüber, was die Schweiz genau will.
Im Brief will die EU nun unter anderem vom Bundesrat wissen, wie genau dieser die Rolle des Europäischen Gerichtshofs versteht. Sie will wissen, wo der Bundesrat Ausnahmen fordert in den Fragen der dynamischen Rechtsübernahme und der Streitbeilegung. Sie will wissen, ob der Bundesrat einverstanden ist, das Verbot der staatlichen Beihilfen in alle bisherigen und zukünftigen Marktzugangsabkommen zu integrieren. Und die EU will wissen, welche Ausnahmen und Sicherheitsgarantien der Bundesrat in welchen Abkommen will.
Es sind sehr grundsätzliche und konkrete Fragen. Bei der Lektüre fragt man sich, ob Livia Leu und Juraj Nociar bei ihren Treffen nur über das Wetter oder die Vorzüge des belgischen Biers geredet haben.
Mit dem Brief macht die EU einmal mehr klar: Sie will nicht nur übers Wetter reden. Sie will genau wissen, wo die Schweiz steht und wie es bald zu einer Einigung kommen könnte. Dies bekräftigte Maroš Šefčovič wenige Tage nach dem Briefversand, als er eine Delegation der SP Schweiz empfing. Er sei bereit, in die Schweiz zu reisen und mit verschiedenen Akteuren zu sprechen, sagte er. Aus seiner Sicht sei es möglich, sich im kommenden Jahr zu einigen.
Das wäre ein kleines Wunder.
Die ehrliche Antwort der Schweiz auf den Brief aus Brüssel wäre nämlich: Nein, ich will nicht mit dir gehen. Aber mach mir bitte keine Probleme deswegen.
Denn 2023 sind nationale Wahlen. Weil sich Aussenminister Ignazio Cassis (FDP) Sorgen um seinen Posten machen muss, will er im Wahljahr lieber keine Schlagzeilen machen rund um ein neues Abkommen mit der EU, das wohl kaum viel anders aussehen würde als das alte. Auch die SP könnte, wenn sie weiter an Stimmen verliert, einen Bundesratssitz verlieren. Die an sich betont proeuropäische Partei kämpft zudem mit internen Differenzen, da die Gewerkschaften wegen des Lohnschutzes erbitterten Widerstand leisten gegen ein neues Abkommen.
So kommt es, dass die Landesregierung trotz Lippenbekenntnissen kein Interesse hat, bald wieder konkrete Diskussionen mit der EU zu führen. Sie hat in erster Linie die kurzfristige Politperspektive im Blick. Das zeigt sich daran, dass sie die Verhandlungen ohne Plan B abbrach. Dass sie neun Monate wartete, bis sie einen neuen Plan vorlegte. Und dass dieser Plan dürftig ausfiel und vor allem darauf ausgerichtet schien, das politisch als gefährlich eingestufte Wort «Rahmenabkommen» zu begraben.
Der Bundesrat tut so, als wäre nun alles anders. Dabei bleibt fast alles gleich. Die umstrittenen Punkte sind dieselben – es sind sogar noch weitere dazugekommen mit dem Wunsch der EU, die Schweiz solle einen «regelmässigen und fairen» Kohäsionsbeitrag leisten. Einziges Resultat des bundesrätlichen Verhandlungsabbruchs bis jetzt: Es kommt vermutlich teurer.
Doch statt einer Einigung tauchen noch mehr Schwierigkeiten auf, wie der Brief aus Brüssel zeigt: Die EU will offensichtlich das Freihandelsabkommen von 1972 modernisieren und ins Paket aufnehmen. Da wäre der Widerstand der Bauern gewiss, da sie um den Grenzschutz für landwirtschaftliche Produkte fürchten müssten.
Und vor dem Stromabkommen, das die Schweiz anstrebt, liegt ein Stolperstein, der schwierig aus dem Weg zu räumen ist: Die Schweiz hat im Gegenzug zur EU den Strommarkt nicht liberalisiert – das scheiterte vor mehr als zehn Jahren in einer Volksabstimmung. Die Skepsis in der Bevölkerung gegen solche Vorhaben ist seither gestiegen. Wie dieser Widerspruch aufgelöst werden soll, steht in den Sternen.
Das alles weiss die Landesregierung, sie spricht aber lieber nicht davon. Der Bundesrat ist führungsschwach wie selten in den letzten Jahrzehnten. Jeder kümmert sich vor allem um die eigenen Dossiers, übergeordnete Fragen werden ausgeblendet, solange kein allzu grosser Druck da ist. Das zeigt sich exemplarisch an der Europapolitik. Da ist kein Wille, die Beziehungen mit der EU zu regeln, obwohl dies für die Zukunft des Landes die wichtigste aller aussenpolitischen Fragen ist.
Um die arg strapazierten Beziehungen mit Europa zu kitten, bräuchte es wohl einen neuen Bundesrat.
Bis dahin bleiben als einzige relevante politische Akteure die Parteien. Die Bundesratsparteien tragen alle Verantwortung an der aktuellen Situation: Sie haben das Rahmenabkommen zerpflückt und kritisiert, ohne eigene Vorschläge zu bringen. Bis der Bundesrat, der dabei passiv zuschaute, wenig überraschend zum Schluss kam, es sei nicht mehrheitsfähig, und Brüssel die Tür zuknallte. Die Parteien bekunden nun auch wenig Lust, der SVP ihr Lieblingsthema im Wahljahr sozusagen auf dem Silbertablett zu servieren: den Kampf gegen die Annäherung an die EU.
Doch Fortschritte sind nur möglich, wenn sich die Koalition wieder formiert, die in den letzten Jahrzehnten für geordnete Verhältnisse mit der EU sorgte: die FDP, die Mitte und die SP. Gemeinsam mit der GLP, die mittlerweile am konsequentesten für ein Abkommen mit Europa kämpft, muss sie Druck aufbauen und den Bundesrat verpflichten, eine Lösung zu finden.
Im Moment fehlt dazu die nötige Motivation. Denn die Konsequenzen aus der aktuellen Situation kommen schleichend. Wenn die bilateralen Verträge nicht aufdatiert werden, verlieren Schweizer Firmen nach und nach ihren wichtigsten Exportmarkt. Arbeitsplätze, Forschungstätigkeiten, Firmensitze werden aus der Schweiz verschwinden, Talente abwandern, Zukunftstechnologien anderswo entwickelt werden.
Eile bekundet nur die Wissenschaft, die den Anschluss an das EU-Forschungsprogramm Horizon Europe zu verlieren droht. Eine rasche Lösung scheint hier immer unwahrscheinlicher: Wie zu hören ist, blockieren Frankreich und verschiedene osteuropäische Länder den Zugang der Schweiz zu diesen Programmen.
Nur ein starkes Signal aus Bern kann die Blockade lösen.
Liebe Schweiz, willst du mit mir gehen?
Es wäre nicht erstaunlich, wenn der Bundesrat das Kreuz beim Kästchen «vielleicht» setzen würde.
Und handschriftlich hinzufügen würde: lieber nicht jetzt.
Hinweis: Ursprünglich schrieben wir, dass man ergänzt mit den Themen Gesundheit und Strom «eine Art Bilaterale II» anstrebe. Hier waren natürlich Bilaterale III gemeint. Wir bitten um Entschuldigung für die Ungenauigkeit und bedanken uns für den Hinweis.