Zwei Milliarden mehr für die Armee, Zensur-Artikel nimmt nächste Hürde – und ein Imam in Tarnfarben
Das Wichtigste in Kürze aus dem Bundeshaus (191).
Von Cinzia Venafro, 12.05.2022
Für Bundesrätin Viola Amherd war es ein Heimspiel. Zwar debattierte der Nationalrat am Montagnachmittag hitzig über die schrittweise Erhöhung des Armeebudgets von 5 auf 7 Milliarden Franken pro Jahr. Doch bereits im Vorfeld hatte sich abgezeichnet, dass die bürgerlichen Parteien Mitte, FDP und SVP dem Bundesrat folgen würden, der zwei Motionen aus den sicherheitspolitischen Kommissionen der beiden Räte unterstützt, die mehr Geld für die Armee fordern.
Und so kam es dann auch: Mit 111 gegen 79 Stimmen bei 2 Enthaltungen stimmte der Nationalrat für eine massive Aufstockung des Armeebudgets. Was noch vor wenigen Wochen selbst dem grössten Militärverfechter unter der Bundeshauskuppel unmöglich erschienen war, fand nun also unter dem Eindruck des russischen Angriffskriegs in der Ukraine eine komfortable Mehrheit.
Einer dieser Fürsprecher der Schweizer Armee ist Mitte-Nationalrat Alois Gmür. Am gleichen Rednerpult, an dem er diese Woche für eine Erhöhung des Armeebudgets warb, hatte er bereits vor zehn Jahren gesagt: «Es tut jedem Schweizer gut, Militärdienst zu leisten» – und dabei betont, er habe selber mehr als 1000 Diensttage geleistet. Am Montag nun argumentierte Gmür, die Sicherheitslage in Europa habe sich «massiv verschlechtert», weshalb die Schweizer Armee Fähigkeitslücken schliessen und veraltetes Armeematerial ersetzen müsse.
Gmür rechnete vor, dass die Armeeausgaben seit 1990 gesunken seien, und verwies darauf, dass damals noch 1,34 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) in die Armee investiert worden seien, 2019 jedoch nur noch 0,67 Prozent.
Was er nicht erwähnte, ist, dass das tatsächliche Armeebudget gemäss einem Beschluss des Bundesrats von 2017 bereits seit 2021 jährlich um 1,4 Prozent ansteigt. Und dass die Rüstungsinvestitionen der Schweiz schon seit Mitte der Nullerjahre tendenziell steigen, wie die Entwicklung der Militärausgaben des Bundes zeigt.
Dass die Ausgaben nun an das BIP geknüpft werden und bis spätestens 2030 ein Prozent betragen sollen, kritisierte in der Nationalratsdebatte GLP-Nationalrat Beat Flach. Diese Verknüpfung sei «aus finanzpolitischer Sicht völlig falsch». Sein Argument: Eine Verknüpfung mit dem BIP bedeute ja auch, dass «Sie bei einer grossen Rezession 2040 Ihre ganzen Armeepläne wieder über den Haufen werfen müssen und plötzlich weniger investieren können». Worauf ihn Benjamin Giezendanner (SVP) persönlich angriff: «Sie sollten Ihre giftgrüne Krawatte in eine olivgrüne umtauschen lassen – bei dem Wissen über die Sicherheitspolitik, das Sie haben.»
SP-Nationalrätin Franziska Roth monierte vergeblich die Planlosigkeit der Motionen: «Ohne konkretes Konzept mehr Geld auszugeben, ist wie Einkaufen ohne Einkaufszettel», sagte sie: «Das nennt man im Volksmund ‹schoppe›.»
Als Reaktion auf die Befürchtungen der Linken, dass das Armeebudget auf Kosten der Bildung, des Sozialwesens und der Kultur erhöht wird, versprach Verteidigungsministerin Amherd: «Niemand muss unter den zusätzlichen Armeeausgaben leiden.» Sparprogramme und Steuererhöhungen seien «nicht notwendig».
Bereits im Juni wird sich der Ständerat mit dem Armeebudget befassen – und aller Voraussicht nach ebenfalls für die Erhöhung stimmen.
Und damit zum Briefing aus Bern.
Oligarchen: US-Kommission bezeichnet Schweiz als «Gehilfin Putins»
Worum es geht: Die Helsinki-Kommission, ein unabhängiges Gremium der US-Regierung, erhebt schwere Vorwürfe gegen die Schweiz – und das in ungewöhnlich harschem Ton. Die Schweiz mache sich zur «Gehilfin Putins», sagte der Financier und Aktivist Bill Browder, indem sie russische Oligarchen hofiere. Die Bundesanwaltschaft mache sich mit russischen Interessen gemein und die Schweizer Justiz sei nicht vertrauenswürdig. Der Schweizer Korruptionsexperte Mark Pieth, der in einer Online-Konferenz angehört wurde, prangerte Schlupflöcher im Schweizer Geldwäschereigesetz an. Bereits die Einladung zur Konferenz war mit happigen Vorwürfen versehen. So sei die Schweiz «seit langem bekannt als Ort für Kriegsverbrecher und Kleptokraten».
Warum Sie das wissen müssen: Die Schärfe des Angriffs ist bemerkenswert und weckt Erinnerungen an ein Hearing Mitte der Neunzigerjahre. Damals wurde die Schweiz beschuldigt, Schweizer Banken liessen Gelder auf Konten aus dem Zweiten Weltkrieg verschwinden, also nachrichtenlose Vermögen. Als die Amerikaner den Schweizer Banken schliesslich mit Sanktionen drohten, mussten diese einlenken. 1998 willigten sie in einen Vergleich ein, 1,25 Milliarden Franken an Holocaust-Opfer zurückzuzahlen.
Wie es weitergeht: Der Bundesrat weist die Vorwürfe «aufs Schärfste» zurück. Aussenminister Ignazio Cassis habe seinem US-Amtskollegen Antony Blinken sein «Erstaunen» und seine «Unzufriedenheit» mitgeteilt, sagte Bundesratssprecher André Simonazzi. Im Schweizer Parlament nimmt man die Vorwürfe vorerst gelassen. SP-Ständerat Carlo Sommaruga trat selbst am Hearing der Helsinki-Kommission auf und vertrat dort die SP-Position, dass die Schweiz strukturelle Probleme im Geldwäschereigesetz habe. Dies sei aber eine innenpolitische Angelegenheit, für die kein Druck aus dem Ausland nötig sei.
Medienfreiheit: Parlamentarier befürworten Einschränkungen
Worum es geht: Die Wirtschaftskommission des Nationalrats lehnt es ab, das Bankengesetz zu ändern, und verwarf eine entsprechende Motion von SP-Nationalrätin Samira Marti. Es bestehe kein «gesetzgeberischer Handlungsbedarf». Auch das Parlament fällte diese Woche einen Entscheid, der die Pressefreiheit tangiert: So hiess der Nationalrat mit 183 zu 1 Stimme bei 2 Enthaltungen die revidierte Zivilprozessordnung gut. Damit werden die Hürden für eine superprovisorische Verfügung gesenkt, was bedeutet, dass unerwünschte Medienberichte einfacher verhindert werden können. Kann heute ein Gericht eine Veröffentlichung stoppen, wenn diese für die gesuchstellende Partei einen «besonders schweren Nachteil» nach sich ziehen würde, so reicht in Zukunft ein «schwerer Nachteil». Damit schloss sich der Nationalrat dem Ständerat an.
Warum Sie das wissen müssen: Der Kommissionsentscheid rund ums Bankengesetz ist ein Votum gegen die Medienfreiheit. Martis Motion geht zurück auf die als «Suisse Secrets» bekannt gewordenen Recherchen, die auf Dokumenten aus einem Datenleck bei der Credit Suisse beruhten. Schweizer Journalistinnen hatten nicht dazu recherchieren dürfen, weil ihnen nach einer Verschärfung des Bankengesetzes von 2015 ein Strafverfahren gedroht hätte. Irene Khan, Uno-Berichterstatterin für Meinungsfreiheit, kritisierte die Schweiz deswegen scharf: Das Gesetz führe zu einer «Kriminalisierung von Journalismus». Der Schweizer Botschafter bei der Uno in Genf, Jürg Lauber, hatte daraufhin in einem Schreiben erklärt, die Wirtschaftskommission werde sich der Sache annehmen. Nun hat just deren Sprecher, Mitte-Nationalrat Leo Müller, erklärt, dass die Mehrheit der Kommission – wie auch er – der Meinung sei, dass «das Bankkundengeheimnis für alle gleich gelte» und man nicht für einzelne Berufsgruppen Sonderregeln aufstellen solle. «Es wurde ja noch nie ein Journalist wegen einer Bankgeheimnisverletzung verurteilt.»
Wie es weitergeht: Als Nächstes befasst sich der Nationalrat mit dem als «Zensur-Artikel» kritisierten Gesetzesabschnitt. Uno-Berichterstatterin Irene Khan kündigt für Juni einen kritischen Bericht über die Schweiz an. Zudem werde sie sich «weiter bei der Schweizer Regierung für die Aufhebung des Gesetzes einsetzen».
Sexualstrafrecht: Bundesgericht wendet «Nur Ja heisst Ja»-Regel nicht an
Worum es geht: Das Bundesgericht kommt in einem Urteil zum Schluss, das geltende Sexualstrafrecht könne «nicht so ausgelegt werden, dass die fehlende Einverständniserklärung in eine sexuelle Handlung («Nur Ja heisst Ja») ausreichen würde, um jemanden wegen sexueller Nötigung oder Vergewaltigung zu verurteilen». Dies würde nämlich den Grundsatz «keine Strafe ohne Gesetz» verletzen.
Warum Sie das wissen müssen: Das Urteil geht zurück auf einen Fall aus Genf. Dort verurteilte das Strafgericht einen Beschuldigten wegen sexueller Nötigung und Vergewaltigung. Dieser erhob Berufung beim Kantonsgericht, das ihn von diesen Anklagepunkten freisprach. Nun hat das Bundesgericht die von der Frau erhobene Beschwerde abgewiesen und den Freispruch des Mannes aufgrund der bestehenden Gesetze bestätigt. Derzeit berät das Parlament jedoch eine Revision des Sexualstrafrechts. Zuletzt lehnte die Kommission für Rechtsfragen des Ständerats eine «Nur Ja heisst Ja»-Lösung ab.
Wie es weitergeht: Derzeit liegen ein Bericht sowie ein Entwurf für den Gesetzeserlass beim Bundes- sowie beim Ständerat. Als Nächstes geht die Revision des Sexualstrafrechts in die kleine Kammer, die sie als Erstrat behandeln wird.
Nationalrat: Kommission will Immunität von Roger Köppel aufheben
Worum es geht: Die Immunitätskommission der grossen Kammer hat sich mit 5 zu 3 Stimmen bei einer Enthaltung dafür ausgesprochen, die Immunität von SVP-Nationalrat Roger Köppel aufzuheben. Gegen Köppel besteht der Verdacht der Amtsgeheimnisverletzung.
Warum Sie das wissen müssen: Die Aussenpolitische Kommission des Nationalrats, der Köppel angehört, hatte Strafanzeige eingereicht. Sie wirft ihm vor, vertrauliche Informationen im Videokanal seiner Zeitschrift «Weltwoche» verbreitet und somit das Kommissionsgeheimnis verletzt zu haben. Die Immunitätskommission hat sich auch mit SP-Nationalrat Fabian Molina befasst. Der Zürcher hatte an einer nicht bewilligten Demonstration teilgenommen. In der Folge ersuchte die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich um Aufhebung seiner Immunität. Die Kommission ist nun aber der Ansicht, dass Molina als Privatperson an der Demo teilnahm. Deshalb geniesse er in dieser Sache keine Immunität, und folglich müsse diese auch nicht aufgehoben werden, um ein Strafverfahren einzuleiten.
Wie es weitergeht: Falls die Schwesterkommission des Ständerats den Entscheid bestätigt, darf die Staatsanwaltschaft gegen Köppel ermitteln. Es wäre eine Premiere: Noch nie haben die Parlamentskommissionen die Immunität eines amtierenden Ratsmitglieds aufgehoben. Zudem wird das Nationalratsbüro entscheiden müssen, ob eine Disziplinarmassnahme gegen Köppel ausgesprochen wird.
Mehrwertsteuer: Nationalrat will «Tamponsteuer» senken
Worum es geht: Der Nationalrat hat im Rahmen der Revision des Mehrwertsteuergesetzes beschlossen, dass Tampons und Damenbinden neu mit dem reduzierten Mehrwertsteuersatz von 2,5 Prozent für Güter des täglichen Bedarfs besteuert werden.
Warum Sie das wissen müssen: Die Tamponsteuer wird von Frauenrechtsorganisationen seit Jahren kritisiert. 2019 überwies das Parlament in Bern einen Vorstoss an den Bundesrat, der die Reduktion der Tamponsteuer verlangte. Bisher wurden diese Hygieneprodukte mit 7,7 Prozent besteuert. Knapp scheiterte der Antrag der Ratslinken, die Steuerreduktion auf Babywindeln und Einlagen für inkontinente Personen auszuweiten. Ebenfalls im Rahmen dieser Gesetzesrevision hat der Nationalrat beschlossen, dass ausländische Online-Plattformen wie Amazon, Ebay oder Alibaba künftig für ihren in der Schweiz erzielten Umsatz Mehrwertsteuer zahlen müssen.
Wie es weitergeht: Die Revision geht nun in den Ständerat.
Imam der Woche
Zuerst einmal musste er für drei Wochen in eine Mini-Rekrutenschule. «Ich habe im gleichen Zimmer wie die Rekruten geschlafen. Ich habe nochmals erlebt, wie es ist, ein 20-Jähriger zu sein», sagt Muris Begovic. Weil der heute 41-Jährige erst 28-jährig den Schweizer Pass erhielt, war er als junger Mann nicht dienstpflichtig. Nun ist der ausgebildete Imam der erste Schweizer Armeeseelsorger mit muslimischem Hintergrund – alle bisherigen waren christlichen Glaubens. Begovic wird als einer von 171 Armeeseelsorgern für die Soldaten da sein und mit ihnen über Probleme mit dem Dienst an der Waffe, Liebeskummer, aber auch Fragen rund um den Ramadan sprechen. Neben ihm nehmen auch erstmals zwei Männer jüdischen Glaubens den Dienst auf. Begovic hat seine Ausbildung zum Imam in Sarajevo gemacht, in Bern Islamwissenschaften studiert und in Österreich mit einem Master abgeschlossen. Mit seinem Armeedienst wolle er zeigen, dass Schweizer Werte mit islamischen Werten vereinbar seien – und er sagt: «Ich möchte dem Land und der Gesellschaft mit meinem Dienst etwas zurückgeben.»