Die EU entdeckt ihre Handelsmacht
China subventioniert die eigenen Firmen, die USA verhängen Zölle: Der internationale Handel ist wieder deutlich politischer geworden. Als Antwort darauf rüstet auch die EU auf. Was heisst das für die Schweiz?
Von János Ammann und Marc Friedli, 03.05.2022
Plötzlich stand das Geschäft mit China still. Litauische Exportfirmen staunten nicht schlecht, als sie Ende Oktober letzten Jahres bei der chinesischen Online-Zollanmeldung «Litauen» nicht mehr unter den Herkunftsländern finden konnten. Ein «technisches Problem», beteuerten die chinesischen Behörden. Eines, das Exporte von Litauen nach China unmöglich machte.
Tatsächlich handelte sich dabei nicht wirklich um ein technisches Problem. Sondern um eine gezielte Massnahme der chinesischen Regierung, um Litauen unter Druck zu setzen. Kurz zuvor hatte Litauen die Eröffnung eines taiwanesischen Repräsentationsbüros in seiner Hauptstadt Vilnius bewilligt und damit den Ärger Chinas auf sich gezogen.
Ein Ärger, der sofort Konsequenzen hatte.
China unterband daraufhin nicht nur litauische Exporte, sondern hielt auch die Lieferung wichtiger Technologieprodukte von China nach Litauen zurück. Zudem schränkte es Exporte von europäischen Gütern ein, die Vorprodukte aus Litauen enthalten. Dies wiederum setzte internationale Firmen unter Druck, wie zum Beispiel die deutsche Reifen- und Sensoren-Herstellerin Continental, die eine grosse Produktionsanlage in Litauen betreibt. Continental ist eine wichtige Zulieferin für die europäische Fahrzeugbranche.
Die EU als Spielball anderer Grossmächte: Die Posse um das taiwanesische Repräsentationsbüro zeigt die Hilflosigkeit, mit der die Europäische Union chinesischen Zwangsmassnahmen gegenübersteht. Die Handelspolitik ist längst nicht mehr nationale Aufgabe, sondern gehört zu den exklusiven Kompetenzen der EU. Doch im Fall eines Konflikts steht sie viel zu oft ohnmächtig da: Die etablierten Gegenmassnahmen – insbesondere eine Klage vor der Welthandelsorganisation WTO – sind viel zu langsam und ineffektiv.
Doch das ändert sich gerade in einem historischen Ausmass. Die Europäische Union, die wegen dieser Ohnmacht traditionell als «ökonomischer Riese, aber politischer Zwerg» gilt, rüstet massiv auf, um für die Handelskonflikte der Gegenwart und Zukunft gewappnet zu sein.
János Ammann ist Wirtschaftsredakteur beim auf europäische Politik spezialisierten Online-Nachrichtenportal Euractiv in Brüssel und betreibt nebenbei den Blog «Hauptstadt-Bericht».
Marc Friedli arbeitet als Berater für die Public Affairs und Kommunikationsberatung Finsbury Glover Hering in Brüssel, wo er Kunden zu Fragen zur Europäischen Union berät.
Wider den wirtschaftlichen Zwang
Bereits 2017 sprach der damals neu gewählte französische Präsident Emmanuel Macron in einer viel beachteten Rede an der Pariser Sorbonne-Universität davon, dass nur Europa für die Mitgliedstaaten «tatsächliche Souveränität» gewährleisten könne. Nur die EU könne den Europäern die Fähigkeit geben, «in der heutigen Welt zu bestehen, um unsere Werte und unsere Interessen zu verteidigen».
Die Rede wurde in der Schweiz wenig beachtet – auch wenn sie Wichtiges beinhaltet hätte für ein Land, in dem so oft über Souveränität nachgedacht wird. Doch Macrons Haltung war und ist wegweisend: «Strategische Autonomie» ist inzwischen zum Leitstern der Brüsseler Politik aufgestiegen. Realpolitisch bedeutet das: Die EU schafft sich Mittel, um schneller und schmerzhafter ihre Interessen durchzusetzen – und so ihre eigene und die Souveränität ihrer Mitgliedsstaaten zu verteidigen. Potenziell könnte das auch die Schweiz treffen. Dazu später mehr.
Was «strategische Autonomie» ganz konkret bedeutet, wurde in den letzten Jahren sichtbar. Die EU ist schlagkräftiger geworden: Sie brachte den Brexit mehrheitlich souverän über die Bühne, fand eine kollektive Antwort auf die Pandemie und reagierte mit einem Akt wirtschaftlicher Kriegsführung auf Putins Krieg in der Ukraine.
Im Dezember schlug die EU-Kommission nun gar ein «Instrument gegen wirtschaftliche Zwangsmassnahmen» vor: Wenn Drittstaaten künftig versuchten, politische Ziele mit ökonomischen Zwangsmassnahmen durchzusetzen – wie beispielsweise China im Fall von Litauen –, könnte die EU-Kommission künftig sofort reagieren. Sie wäre befugt, Export- oder Importverbote zu erlassen, Zölle zu erheben oder gewisse Firmen von öffentlichen Ausschreibungen fernzuhalten, ohne dabei die Zustimmung der Mitgliedsstaaten vorher einholen zu müssen.
Mit anderen Worten: Als Defensivwaffe stünde künftig die gesamte und beträchtliche Marktmacht der EU zur Verfügung.
Je mehr sich das Recht des Stärkeren gegen die Stärke des Rechts durchsetzt, desto stärker muss man selber werden. Dessen sind sich insbesondere die kleineren EU-Mitgliedsstaaten bewusst. Denn das multilaterale Handelssystem ist heute ein deutlich anderes, als es das noch vor zehn Jahren war.
«Wir schauen zu, wie der globale Markt sich desintegriert»
«In einer muskuläreren Zeit, in der Handelspolitik deutlich mehr auch Geopolitik ist, zeigt sich, dass Europa nicht der Feind nationaler Souveränität ist, sondern dass nationale Souveränität in bestimmten Bereichen erst durch Europa möglich ist», sagt Jonathan Hackenbroich, Experte für Geo-Ökonomie beim internationalen Thinktank ECFR (European Council on Foreign Relations), gegenüber der Republik.
Die Machtverschiebung von den Mitgliedstaaten hin zur EU-Kommission ist weniger dem Machthunger der Kommission geschuldet als der fortschreitenden Abwicklung der multilateralen Handelsordnung. Sie schadet der EU stark. «Wir schauen momentan zu, wie sich der globale Markt desintegriert», sagt Charlotte Sieber-Gasser, Dozentin für Handelsrecht an den Universitäten Zürich und Luzern und an der Andrássy Universität Budapest.
Den Beginn dieser globalen Desintegration datiert sie auf den Start der Amtszeit von Donald Trump. Unter seiner Führung blockierten die USA den Streitbeilegungsmechanismus der WTO und zerlegten somit das Herzstück des regelbasierten, multilateralen Handelssystems. Schon länger unterminierte Chinas offensive Bevorteilung eigener Unternehmen das Vertrauen in einen fairen Wettbewerb. Die Corona-Krise beschleunigte diese Tendenz weiter, indem sie die Abhängigkeit Europas von ausländischen Technologien und internationalen Wertschöpfungsketten offenlegte.
«Die EU reagiert auf diese Entwicklungen und versucht, ihre eigenen Interessen zu schützen», sagt Sieber-Gasser im Gespräch mit der Republik. Dafür benutzt die EU nicht nur das neue Anti-Zwang-Instrument, sondern greift auf einen ganzen Werkzeugkasten handelspolitischer Massnahmen zurück. Viele dieser Massnahmen haben auch Auswirkungen auf die Schweiz.
Sie könnte zwischen die Fronten einer Zollschlacht geraten, den Kollateralschaden europäischer Industriepolitik tragen – oder gar selber als renitenter Handelspartner bestraft werden.
Zwischen den Fronten
Zölle gehören zu den Klassikern im Werkzeugkasten der Handelspolitik. Der durch Trump angezettelte Handelskrieg und die Art seiner Beilegung zeigen, dass kleine Drittstaaten wie die Schweiz zwischen Stuhl und Bank zu fallen drohen.
Als Reaktion auf den subventionierten Stahl aus China, welcher der US-amerikanischen Stahlindustrie zu schaffen machte, erhob Präsident Trump im März 2018 Strafzölle: 25 Prozent auf Stahl und 10 Prozent auf Aluminium. Das galt aber nicht nur für chinesischen Stahl, sondern für alle Importe in die USA.
Darauf klagte die EU bei der WTO. Aufgrund der Blockade des WTO-Streitbeilegungsmechanismus führte die EU ihrerseits Importkontingente und Zölle auf Stahl ein. In der Mitte gefangen war die Schweiz, die nun auf beiden Märkten mit diesen Beschränkungen konfrontiert war, auch wenn sie nach wie vor ein gewisses Kontingent ohne Strafzoll in die EU einführen durfte. Staaten des Europäischen Wirtschaftsraums, des EWR, waren hingegen von den EU-Zöllen ausgenommen.
Ende Oktober 2021 verständigten sich die USA und die EU auf eine Abschaffung der Zölle. In den kommenden zwei Jahren wollen sie eine Allianz für grünen Stahl schmieden. Sie soll allen Ländern offenstehen, die sich ebenfalls für eine umweltfreundlichere Stahlproduktion entscheiden. Wer diese Bedingungen erfüllt, soll nicht mehr von den Stahlzöllen der EU und der USA betroffen sein.
Bis die Schutzmassnahmen also für die Schweiz gelockert werden, könnte es noch eine Weile dauern. Zudem ist sie ganz den politisch festgelegten Bedingungen ausgeliefert, welche die EU und die USA zusammen bestimmen.
Doch das Problem geht weit über die Stahl- oder Aluminiumindustrie hinaus. Der Zollstreit hat seinen Ursprung in der massiven Subventionierung der chinesischen Industrie, die eine grundsätzliche Herausforderung für liberale Volkswirtschaften wie die EU und die Schweiz darstellt.
Eine Antwort auf den chinesischen Staatskapitalismus
EU-Firmen erhalten in der Regel keine oder nur beschränkte Staatshilfen und müssen strikte Auflagen gegen Kartellbildung einhalten. Doch diese gelten nicht für Firmen, die Subventionen aus Drittstaaten erhalten.
Die Folge sind ungleich lange Spiesse: Einige hoch subventionierte chinesische Unternehmen unterbieten bei der Vergabe von öffentlichen Aufgaben ihre europäischen Konkurrenten – und schlagen sie wiederum bei Firmenübernahmen mit Angeboten über dem Marktpreis. Dass diese Angebote mit Vorliebe auf strategische Industriebereiche abzielen, führt zur nächsten Herausforderung, nämlich dass technologisches Know-how aus Europa abwandert.
Für beide Probleme entwickelt die EU nun Instrumente, mit denen sie ihre Interessen unilateral durchsetzen will. Dabei verwischen sich die einst klaren Grenzen zwischen Handels- und Industriepolitik. So diskutiert die EU eine neue Regulierung gegen Binnenmarkt-verzerrende Subventionen, die der Kommission erheblichen Spielraum in der Überprüfung bestimmter Drittstaatssubventionen gewähren würde. Wird eine Subvention als wettbewerbsverzerrend festgestellt, darf die Kommission gewisse Marktverhalten verbieten – wie etwa einen Firmenkauf.
Als Beispiel dient die Übernahme der italienischen Reifen-Herstellerin Pirelli, die 2015 von einer Tochter des chinesischen Chemie-Staatsunternehmens ChemChina gekauft wurde. Laut der Kommission hätte das Unternehmen nicht genügend Eigenmittel gehabt, um die Übernahme zu finanzieren, wenn sie nicht «von mehreren Interventionen des chinesischen Staats» profitiert hätte.
Die Massnahme ist hauptsächlich gegen China gerichtet. Aber sie kann auch Firmen aus anderen Drittstaaten treffen, also etwa aus der Schweiz: beispielsweise Energie-Firmen, die in der Schweiz staatlich unterstützt werden und Geschäfte in EU-Staaten machen.
Um im globalen technologischen Wettrennen nicht hinterherzuhinken, nimmt auch die Industriepolitik der EU dirigistischere Züge an. Der neuste und ambitionierteste Vorstoss ist der sogenannte Chips Act, den die EU-Kommission im Februar dieses Jahres vorgestellt hat. Damit reagiert sie auf den weltweiten Mangel an Halbleiterprodukten. Aufgeschreckt durch Lieferengpässe während der Corona-Krise hat sich die EU-Kommission das Ziel gesetzt, in den kommenden Jahren durch gezielte Subventionen eine eigene Chipindustrie aus dem Boden zu stampfen.
Diese stärkere politische Lenkung des Binnenmarkts ist an sich schon ein Grund zur Sorge für die Schweiz. Erstens weil sie in den politischen Gremien nicht vertreten ist und zweitens weil die EU-Subventionen auch zu Wettbewerbsnachteilen für Schweizer Firmen in bestimmten Schlüsselindustrien führen können.
Potenziell folgenreich ist auch die im «Chips Act» vorgesehene Bestimmung, dass die EU in Notlagen und bei Lieferengpässen den Export von Halbleitern beschränken kann. Schweizer Abnehmer von Halbleitern müssten sich hinten anstellen. In Krisenzeiten ist die EU sich selbst am nächsten.
Noch gefährlicher aber ist die sogenannte Handelsvergeltungsrichtlinie. Während die bisher vorgestellten Werkzeuge der EU nicht direkt auf die Schweiz ausgerichtet sind, ist es hier anders: Sie könnte die Schweiz ganz direkt treffen.
Die EU-Kommission kann richten
Die Handelsvergeltungsrichtlinie ist hauptsächlich eine Antwort auf die Blockade des Mechanismus zur Streitbeilegung der WTO. Sie erlaubt es der EU-Kommission, selbstständig Vergeltungsmassnahmen vorzunehmen, wenn sie sich bei einem WTO-Streitfall im Recht sieht. Von der Richtlinie Gebrauch machte die EU im Falle der bereits genannten amerikanischen Stahlzölle, die gegen das Welthandelsrecht verstossen hatten und welche die EU daraufhin mit eigenen Stahlzöllen vergolten hat.
Aber die Richtlinie hat eine Zusatzklausel, die ihre Anwendung nicht nur auf WTO-Fälle beschränkt, sondern auch auf Konflikte in bilateralen Abkommen ausdehnt, sofern sich der Partnerstaat bei der Streitbeilegung querstellt. «Die EU-Kommission hat somit neu die Kompetenz, Sanktionen zu ergreifen, wenn sich ein Partnerstaat querstellt in der Lösungsfindung gemeinsamer Probleme», sagt Handelsrechts-Dozentin Sieber-Gasser.
Es wurde in der Debatte um das inzwischen beerdigte Rahmenabkommen oft diskutiert: Weder die bilateralen Verträge noch das Freihandelsabkommen zwischen der Schweiz und der EU schaffen Wege, um Streitigkeiten auf dem Rechtsweg beizulegen. Darum ist die Sanktionsmöglichkeit wie zugeschnitten für die Schweiz.
Auf Anfrage bestätigt die EU-Kommission, dass dieses Instrument gegen die Schweiz eingesetzt werden kann.
In der Schweiz, sagt Sieber-Gasser deswegen, würde «unterschätzt, dass die EU eigentlich noch eine ganze Reihe an weiteren Massnahmen ergreifen könnte». Die Nicht-Erneuerung des Zugangs zum EU-Wissenschaftsprogramm Horizon oder die Aussetzung der gegenseitigen Anerkennung von Standards seien da «möglicherweise nur der Anfang». Angesichts der sich abzeichnenden Handelskrise könnte die EU künftig durchaus schärfer reagieren.
«Theoretisch verfügt die Kommission über die nötigen Rechtsinstrumente, und wahrscheinlich auch über die nötige politische Unterstützung, um zum Beispiel auch wieder Zölle auf Schweizer Produkte einzuführen», sagt Sieber-Gasser. «Das ist äusserst unsicher für die Schweiz. Wir profitieren gegenwärtig davon, dass die EU politisch anders beschäftigt ist und dass die Schweiz im aktuellen globalen Kontext nicht entscheidend ist.»
Die Politisierung der EU-Handelspolitik wird die Schweiz betreffen – ob sie es will oder nicht. Die Notwendigkeit eines Mechanismus zur Streitbeilegung war schon bei der Debatte zum Rahmenabkommen ein zentraler Punkt. Mit der neuen Verordnung wird noch klarer: Ohne eine rechtliche Absicherung der Streitschlichtung wird die EU-Kommission selbst zur Richterin und die Schweiz von ihrer Kulanz abhängig.
Ganz grundsätzlich lohnt es sich für die Schweiz, im Moment wieder intensiver nach Europa zu blicken. Dort hat man erkannt, dass die Souveränität, die Bürgerinnen in der Schweiz so wichtig ist, im heutigen Handelssystem oft nur noch mit einer politischen Grossmacht im Rücken durchgesetzt werden kann – siehe Litauen.
Und diese Grossmacht ist – bei aller notwendigen Offenheit der Schweizer Volkswirtschaft – naheliegenderweise die EU.
Autonomie als Durchsetzungsfähigkeit
Autonomie, das bedeutet für den Kleinstaat Schweiz Freihandel mit möglichst allen. Je diversifizierter ihr Handelsportfolio, desto weniger ist sie von einzelnen Handelspartnerinnen abhängig und desto widerstandsfähiger ist ihre Aussenwirtschaft im Falle regionaler Krisen und bilateraler Handelskonflikte. Aber trotz aller Diversifikationsbemühungen lässt sich die Geografie der Schweiz, und ihre Abhängigkeit vom EU-Binnenmarkt, nicht leugnen: 67 Prozent der Schweizer Importe kommen aus der EU, und 50 Prozent ihrer Exporte gehen in die EU.
Diese faktische Abhängigkeit war handelspolitisch kein grosses Problem für die Schweiz, solange das multilaterale Handelssystem intakt war. Und solange die EU, ganz dem Multilateralismus verpflichtet, davon absah, ihre Handelspolitik zu realpolitischen Zwecken zu instrumentalisieren.
Doch mit dem Zerfall des multilateralen Handelssystems und dem Paradigmenwechsel der EU-Handelspolitik ändert sich die Ausgangslage für die Schweiz grundlegend.
Für die EU heisst Autonomie nämlich immer öfter: Kontrolle und Durchsetzungsfähigkeit. Es ist eine Frage der Zeit, bis die Schweiz dies zu spüren bekommt.