Der Weg der Hilfe
Humanitäre Hilfe ist wie ein Medikament mit unerwünschten Nebenwirkungen. Das sagt Thomas Büeler, Cheflogistiker des Schweizerischen Roten Kreuzes. Unterwegs mit dem St. Galler an seinem Einsatzort in Budapest, wo er darum ringt, Hilfsgüter in die Ukraine zu bringen.
Von Anja Conzett (Text) und Balázs Fromm (Bilder), 26.04.2022
Donnerstag, 17. März, drei Wochen nach Kriegsbeginn. Russische Schiffe blockieren weiterhin die ukrainischen Häfen am Schwarzen Meer, die ukrainische Armee schiesst zwei russische Kampfflieger über Kiew ab, US-Präsident Joe Biden bezeichnet Wladimir Putin zum ersten Mal als Kriegsverbrecher.
In einem Büro in Budapest brieft Thomas Büeler zwei Mitarbeiter. «Am Montag stossen wir von Lublin nach Lwiw vor. Cassie, ich möchte, dass du parallel dazu aus Debrecen die Versorgung der Region um Uschhorod übernimmst.»
Cassie: «Und Pedro?»
Büeler: «Pedro ziehe ich ab nach Moldawien. Wir brauchen einen vierten Versorgungsarm und Moldawiens Infrastruktur ist nicht gerüstet, den antizipierten Flüchtlingsströmen standzuhalten.»
Cassie: «Okay. Bauen wir den Hub direkt in Uschhorod? Ist eine halbe Stunde von der Grenze. Um welche Zeit ist Ausgangssperre?»
Pedro: «Für Ausländer um 18 Uhr. Der Vorteil von Uschhorod – es hat einen Flughafen. Aber auch eine Militärbasis …»
Büeler: «Hmm. Und Tschop, direkt an der Grenze zu Ungarn?»
Pedro: «Die Grenze zu Ungarn ist ein Fluss. Mit nur einer Brücke.»
Büeler: «Dann hoffen wir, dass sie die Brücke stehen lassen. Ok für dich, Cassie?»
Cassie: «Klar. Haben wir schon grünes Licht von der Security?»
Büeler schaut auf die Uhr: «In zwei Stunden, hoffentlich.»
Die Australierin ist am Vortag aus ihrer Heimat in Budapest angekommen. Pedro stammt aus Portugal, Thomas Büeler ist Schweizer. Was sie an diesem Donnerstag im Osten Europas zusammenführt, ist ihre Expertise auf einem Gebiet, das Laien selten mit humanitärer Hilfe in Verbindung bringen: Sie sind Logistikerinnen.
Logistik, das ist der Weg, den die Dinge nehmen – von A nach B. Und es ist viel mehr als das.
Logistik ist die Blutbahn, die sämtliche lebenswichtige Organe mit Sauerstoff versorgt.
Logistik entscheidet darüber, ob ein Unternehmen zum Milliardenkonzern wird oder bankrott geht. Logistik ist die Grundbedingung für eine globalisierte Gesellschaft – und Voraussetzung für Wohlstand und Stabilität. Logistik kann auch zum Umbruch führen: Sie war Treiberin der industriellen Revolution. Und verhalf 1956 der Bürgerrechtsbewegung zum Durchbruch, nachdem ein Logistiker namens Rufus Lewis den Busboykott in Montgomery, Alabama, ermöglicht hatte. Lewis hatte eine ausgeklügelte Infrastruktur für Mitfahrgelegenheiten entwickelt, dank der sich die afroamerikanische Community dem öffentlichen Verkehr entziehen konnte – und dem Rassismus, den sie in den Bussen erlebte.
Gute Logistik gewinnt Kriege. Aber vor allem rettet sie Leben, wenn die Welt mal wieder aus den Fugen gerät. Oder mindert wenigstens das Leid.
Eine fast militärische Operation
Thomas Büeler hat zwei Telefone. Beide klingeln – und er hat keine Zeit, ranzugehen.
Das geht schon seit zwei Wochen so. Büeler ist vier Tage nach Beginn der russischen Invasion nach Budapest gereist, wo die Internationale Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften ihr Hauptquartier für die Region Europa hat.
Die Logistiker sind im sechsten Stock. Im Gang stapeln sich Koffer und Kisten mit Funkgeräten und Satellitentelefonen. Nebenan ist die Security, die fortlaufend die Lage sondiert und jede Aktion bewilligen muss – «Please do not enter» steht auf der Tür. Zutritt für Unbefugte verboten.
Büeler ist Teil des 50-köpfigen Emergency-Response-Teams, das nach dem Hilferuf des ukrainischen Roten Kreuzes mobilisiert wurde. Als Chef der Logistik ist er integraler Teil einer Operation, die ohne ihn stillstehen würde.
Sein Auftrag ist es, eine Logistikstruktur aufzubauen, die es ermöglicht, die Ukrainerinnen und die Helfer mit den Gütern zu versorgen, die sie brauchen: Wasser, Nahrung, Hygieneartikel, Zelte, Erste-Hilfe-Kits, Schlafanzüge. Dafür muss er ein Netz aus Lagerhäusern, Flotten und Kanälen spannen, das sich in einer höchst volatilen Situation beliebig erweitern lässt. «Letztlich also ein System», sagt Büeler, «das möglichst robust und möglichst flexibel ist.»
Zwei Monate hat er Zeit. Dann muss das System ohne Zutun seines Teams funktionieren.
Gleichzeitig rollen die Camions mit Hilfsgütern bereits über die Strassen der Ukraine und ihrer Nachbarländer. Büeler muss dafür sorgen, dass sie am richtigen Ort ankommen, während er parallel dazu die Struktur baut, die das ermöglicht. Fire fighting nennt er das, und darum hat er jetzt auch keine Zeit für Telefonanrufe – er muss Mails beantworten.
«Wir haben 15’200 Matratzen, die aus Versicherungsgründen von der Transportfirma nicht in die Ukraine gebracht werden können. Der Supplier will sie nicht länger lagern.» – «Halt den Supplier hin, wir brauchen drei bis vier Tage.»
«Wie verteilen wir die Migrant-Kits?» – «30 Prozent nach Polen, 30 Prozent nach Ungarn, 30 Prozent nach Rumänien und 10 Prozent nach Moldawien.»
«Lwiw braucht einen Dolmetscher.» – «Dann stellt einen an.»
Auf jede beantwortete Mail kommt eine neue rein. Entscheidungen im Minutentakt.
Seit 15 Jahren ist Büeler Logistiker beim Roten Kreuz. Seither hat er Emergency-Response-Einsätze auf der ganzen Welt absolviert.
2007 bei einer Flut in Pakistan; 2009, Erdbeben im italienischen L’Aquila; 2009, Taifun in Vietnam; 2011, Erdbeben in der Türkei; 2013, Taifun auf den Philippinen; 2015, Erdbeben in Nepal, 2018 auf der indonesischen Insel Lombok; 2008, 2010, 2016, Hurrikan, Erdbeben, Hurrikan in Haiti. Und letztes Jahr der Vulkanausbruch im Kongo.
Der Einsatz in der Ukraine ist anders als viele der früheren Einsätze, sagt er. In vielerlei Hinsicht.
Anders als das Internationale Komitee des Roten Kreuzes, das ausschliesslich in Konfliktzonen unterwegs ist, macht seine Schwesterorganisation, die Internationale Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften, vornehmlich Disaster-Relief, Hilfe nach Naturkatastrophen.
«Bei den meisten Naturkatastrophen ist der Druck zwar auf einen Schlag sehr hoch – teilweise höher als in Konflikten – nimmt von dort an aber stetig ab und fällt relativ rasch wieder auf ein kontrollierbares Level», sagt Büeler. «Menschgemachte Katastrophen wie Kriege sind dagegen unberechenbar. Man weiss nicht, wie lange es geht, wie heftig es noch wird.»
Das erschwere den systematischen Aufbau enorm. Für Büeler stellt sich die Frage: «Bis wie weit ins Land sollen wir diese Versorgungspunkte aufbauen, ab wo können wir nur noch mobil arbeiten?» Die Logistik muss deshalb ähnlich vorgehen wie bei einer militärischen Operation: möglichst viele Einfallspunkte mit Stützpunkten jenseits der Grenze aufbauen, auf die man zurückfallen kann.
Über vier Nachbarländer eröffnet Büelers Team Versorgungsachsen, die von vier Hauptversorgungspunkten ausgehen: einer in Lublin, Polen, einer in Suceava, Rumänien, einer in Debrecen, Ungarn, und möglichst bald einer in Moldawien. An diesen Standorten füllen sich bereits die Lagerhäuser mit Hilfsgütern – einerseits für die Weiterfahrt in die Ukraine, andererseits, um die Flüchtlinge zu versorgen, die bereits diesseits der Grenze sind.
Für den Fall, dass die Lage sich im Westen der Ukraine verschärft, dienen diese Hubs als Rückzugsorte. Andernfalls dienen sie als Ausgangsort, um neue Gebiete in der Ukraine zu erschliessen, wo wieder neue Hubs gebildet werden, mit eigenen Lagerhäusern, Flotten und Distributionskanälen.
Gleich ins Land zu fahren, ohne diese vorgelagerten Hubs, wäre ein fataler Fehler. «Wenn wir direkt einfliegen, im Land etwas aufbauen und wir plötzlich evakuieren müssen, dann bricht die ganze Versorgungskette auf einen Schlag zusammen», sagt Büeler. «Und ohne Nachschubversorgung stirbt die ganze Operation.»
Ein Fehler, der schnell passieren kann, wenn die humanitäre Hilfe nicht professionell organisiert ist. «Das sehen wir immer wieder», sagt Büeler: «Die stossen relativ kopflos direkt ins Land, bauen auf und realisieren dann, dass wir keine Autos, kein Personal, keinen Nachschub haben … Ein grosses Geschrei, und am Ende bringen sie sich selbst in Gefahr.»
Er seufzt. «Dieses Vorpreschen mit wehender Flagge nützt wirklich niemandem.»
Aber selbst eine Organisation wie die Föderation des Roten Kreuzes musste gute Logistik und Koordination erst einmal lernen.
Und wie so oft beim Lernen stand am Anfang auch wüstes Versagen.
Ein Tsunami von Helfern und seine Folgen
Freitag, 18. März. Russische U-Boote feuern Raketen auf den Stadtrand von Lwiw in der Westukraine, wo rund 200’000 geflüchtete Personen aus dem Osten Unterschlupf gefunden haben. In der Schweiz beschliesst der Bundesrat, weitere Sanktionen gegen Russland zu übernehmen. Auf Social Media machen Bilder von kiloweise gespendeten, aber nicht benötigten, Kleidern an der polnisch-ukrainischen Grenze die Runde. In Deutschland werden unbrauchbare Spendengüter verbrannt, was für Empörung und Verschwörungstheorien sorgt.
In Budapest ist es 8 Uhr morgens. Die Security hat grünes Licht gegeben, und Thomas Büeler ist mit Cassie unterwegs nach Debrecen im Osten Ungarns. Dort wollen sie das Lagerhaus inspizieren, von dem aus das ukrainische Gebiet rund um Uschhorod versorgt werden soll. Drei Stunden Fahrt dauert ein Weg.
Büeler hofft, auf der Fahrt noch etwas Schlaf nachholen zu können. Daraus wird nichts – stattdessen gibt es Mails und Telefongespräche mit seinen 31 Mitarbeiterinnen, die in Grenzländern und der Ukraine verteilt sind. Es sind Prokuristen, Lageristinnen, Flotten- und Supply-Chain-Manager, die jeweils aus der ganzen Welt zusammengetrommelt werden, wenn irgendwo eine humanitäre Katastrophe passiert.
Ein Drittel davon sind Freiwillige aus der Privatwirtschaft, wie Cassie und Pedro. Sie haben mit ihren Arbeitgebern Verträge, die ihnen erlauben, ein Mal im Jahr für mindestens einen Monat Emergency Response für das Rote Kreuz zu machen.
Geschickt werden diese Spezialisten von den nationalen Rotkreuz-Organisationen. Wobei sich gewisse Länder als federführend auf bestimmten Gebieten hervorgetan haben. So ist das Deutsche Rote Kreuz Spitzenreiter bei Pflege und Medizin – es hat nahezu ein ganzes Spital auf Rädern. Die spanische Einheit ist stark, wenn es um die sanitäre Versorgung geht. Und das Schweizerische Rote Kreuz, zu Hause im Land der vielen Alpendurchstiche und überpünktlichen Züge, hat den Lead bei der Logistik. Nicht zuletzt dank Thomas Büeler.
Büeler hat ursprünglich Maschinenzeichner gelernt, danach folgte die Ausbildung zum Technischen Kaufmann. Anfang 20 sass er irgendwann in seinem Büro, die vier Wände vor der Nase und fragte sich: «Ist es das? Für den Rest meines Lebens?» Die Antwort war ein entschlossenes Nein. Er kündigte seinen Job und reiste um die Welt. Als er aus Neuseeland zurückkam, suchte die Schweizer Armee gerade Logistiker für die Friedensmission der Swisscoy in Kosovo. Er unterzeichnete.
In Kosovo arbeitete er an der Seite eines Arztes, der auch für die Uno Noteinsätze machte. Für Büeler klang das nach einem guten Zugang, sich der Welt zu nähern. Einer Arbeit, die Sinn ergibt. Bald darauf war er im Kriseneinsatz für eine NGO in Somalia.
Warum Logistik?
Büeler zuckt die Schultern. «Ich bin ein Mensch, der einfach macht. Mir kann man einen Auftrag geben und dann fang ich an.» Diplomatie, diese «oft einfach unglaublich lange Abfolge von Wörtern ohne Inhalt, schlechte Kommunikation, mit Politikern palavern, verhandeln, welche Interessen anzapfen und ausspielen dagegen …» Er verzieht das Gesicht, als hätte ihm jemand einen Ellenbogen in die Rippen gerammt. «Nicht meine Welt, gut, wenn das andere machen.»
Drei Jahre wollte er damals Krisenlogistik für NGOs machen, mehr nicht. Zwischen diesem Vorhaben und heute liegen 15 Jahre und ein Masterstudium Humanitäre Logistik und Management.
2006 wurde Büeler vom Schweizerischen Roten Kreuz angestellt. Man wollte damals bewusst fokussieren, nachdem zwei Jahre zuvor in Indonesien gravierende Fehler gemacht worden waren. Nachdem ein Tsunami die Inselgruppe verwüstet hatte, brach eine zweite, zerstörerische Welle über Indonesien herein – eine unkoordinierte Masse Hilfswilliger aus zig Nationen und Organisationen.
Auch das Rote Kreuz habe Fehler gemacht, sagt Büeler. Die nationalen Gesellschaften hätten, ohne sich abzusprechen, Leute und Waren ins Land geschickt – «im Stil von: Das brauchen die in Indonesien jetzt sicher», sagt Büeler. «Und diese Leute haben dann nach Ressourcen geschrien – nach Fahrzeugen, Diesel für ihre Fahrzeuge, nach Unterkunft und Verpflegung.»
Die Folge: Hotels, die ausgebucht waren von Retterinnen und nicht mehr für Gerettete zur Verfügung standen. Lastwagen, die plötzlich eine exorbitante Miete pro Tag kosteten, weil sich die verschiedenen Organisationen gegenseitig überboten. Kurz, ein Chaos. «Die fatalste Folge aber war, dass die Kapazitäten der Regierung sowie der ansässigen Hilfswerke dadurch komplett blockiert wurden, weil Helfer vor Ort erst den Helfern von ausserhalb helfen mussten, sich zurechtzufinden.»
Die Selbsthilfestruktur Indonesiens brauchte Jahre, um sich davon zu erholen. Und für die Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung weltweit war klar: So etwas darf nie wieder passieren. «Die Antwort darauf: Hilfe bündeln, koordinieren, staffeln, priorisieren, die Sender von Hilfsgütern und Response-Teams instruieren.» Die nationalen Organisationen des Roten Kreuzes mussten sich also überlegen, in welchen Bereichen sie Expertenpools anlegen wollen.
Warum sind die Schweizer eigentlich so gut in Logistik?
«Oh, wir sind einfach wahnsinnige Sicherheits- und Kontrollfanatiker», sagt Büeler. «Fast schon zwangsneurotisch.» Und wer Sicherheit und Kontrolle will, braucht eine gute Logistik. Das Gleiche gilt für die Koordination.
Nicht nur innerhalb des Roten Kreuzes – auch ausserhalb wird seit dem Debakel in Indonesien besser koordiniert. Die Uno hat sogenannte Cluster für die einzelnen Response-Bereiche bei Katastrophen. Bei der Logistik ist die Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften ein prominenter Gast am Tisch.
In Sachen Logistik hat das Rote Kreuz denn auch einen entscheidenden Vorteil: In 192 Ländern sind sie schon vor Ort. Wenn es zu einer Katastrophe kommt, stellt die betroffene nationale Organisation einen Appell, und es wird finanzielle Soforthilfe von bis zu einer Million geleistet. Gleichzeitig werden Spezialisten wie Thomas Büeler mobilisiert.
Die Amerikaner und andere Probleme
Der Weg zum Flughafen von Debrecen ist gesäumt von Hangars, die noch aus dem Zweiten Weltkrieg stammen. Erst von der ungarischen, dann von der deutschen Luftwaffe genutzt, sind sie heute mit Moos und Gras überwachsene Denkmäler, die aus den Feldern ragen. Wie die Schultern schlafender Titanen, die sich jederzeit erheben könnten. Mittendrin das Lagerhaus, das sich seit zwei Wochen mit Hilfsgütern füllt.
Noch an der Türe werden Büeler und Cassie von Juha in Empfang genommen, dem Lagerhausmanager aus Finnland. «Die Amerikaner sind hier», sagt er. Büeler und Cassie tauschen einen Blick. Büeler seufzt. «Auf gehts.»
Die «Amerikaner», das sind zwei Frauen vom US-Government und eine Fotografin. Der amerikanische Staat hat für die Ukraine 105 Paletten mit 10’000 Boxen geschickt, die je 100 Personen mit Gütern wie Decken, Seifen und Hygieneartikeln versorgen.
Und weil die USA der grösste Einzelspender von Hilfsgütern und Geldern für die humanitäre Hilfe weltweit sind, kann sie es sich leisten, die Spenden an Forderungen zu knüpfen, die einen Logistiker zum Seufzen bringen.
Die erste Bedingung: Die Waren dürfen nicht in die Hubs in den Nachbarländern gebracht werden, sondern müssen direkt von Debrecen in die Ukraine geschafft werden – obwohl sie ideal für Durchgangszentren wären, in denen Zehntausende ukrainische Flüchtlinge versorgt werden. «Auch die Grenzgebiete werden stark gefordert, auch dort leeren sich die Supermärkte. Sollen wir den Ukrainerinnen nicht mehr helfen, weil sie diesseits der Grenze sind?», fragt Büeler.
Die zweite Bedingung: Die Pakete dürfen nicht geöffnet werden, sondern müssen originalverpackt verteilt werden. Für eine Organisation, die sich der Unparteilichkeit so sehr verpflichtet hat wie das Rote Kreuz, ist es aber nicht unbedenklich, dass auf den Kisten prominent das Logo der US-Regierung prangt. «Die Amerikaner sind am Krieg beteiligt. Und je nachdem, in welcher Zone diese Schachteln unter der Flagge des Roten Kreuzes landen, ergibt das ein schiefes Bild», sagt Büeler.
Die dritte und unmöglichste der Bedingungen: «Die Amerikaner wollen ganz genau wissen, wohin ihre Waren gehen. Und zu diesem Zeitpunkt der Operation können wir keine Quittungen dafür geben. Wir sind einfach froh, wenn wir wissen, dass das ukrainische Rote Kreuz die Waren erhalten hat.»
Bei Spenden, die ohne den Umweg über NGOs direkt von Regierungen an Regierungen gehen, sind die Bedingungen oft noch viel problematischer. «Meist versuchen die Spender dann noch einen Deal, ein Abkommen daran zu knüpfen», sagt Büeler. Das sei etwas, was man der Schweiz zugutehalten müsse: «Die Schweiz ist eines der wenigen Länder, die auf eine sympathische, fast naiv wirkende Art extrem unkompliziert und unbürokratisch sind, wenn es um humanitäre Hilfe geht. Hauptsache, es wird geholfen. Ohne versteckte Bedingungen.»
Skischuhe für Haiti
Während der Chef den Amerikanerinnen erklärt, was machbar und was unmöglich ist, läuft Cassie zusammen mit Juha die Halle ab. Vorbei an surrenden Gabelstaplern, Türmen von Planen, Feldbetten, Windeln, Zelten und Rucksäcken mit Erste-Hilfe-Utensilien.
Cassie scannt das Lager. «Warum hat es hier drinnen keine Regale? Wir könnten den Platz vervierfachen. Wie lange brauchen wir, um einen Lastwagen zu beladen? Wie können wir das beschleunigen?»
Irgendwann bleibt sie vor einem Materialturm stehen und schüttelt den Kopf: «Kitchen-Sets?!» Juha nickt. «Ich weiss, ich weiss.» Rund 5000 Sets mit Pfannen und Tellern stehen im Lager.
«Die Küchensets werden wenn, dann in Regionen gebraucht, wo die Infrastruktur massiv beschädigt ist – also in den Konfliktzonen», erklärt Thomas Büeler, der die Amerikanerinnen unterdessen zufriedengestellt und auf ihren Weg geschickt hat. «In diesen Gebieten haben die Menschen aber gerade noch ganz andere, sehr viel dringendere Bedürfnisse, wie zum Beispiel medizinische Versorgung, Nahrung, Wasser – und dann kommt irgendwann mal sehr weit hinten eine Salatschüssel.»
Mit anderen Worten: Die Küchensets sind ein Ladenhüter. Miscellaneous items heisst das bei den Logistikern: Sonstiges. Wobei Pfannen und Töpfe noch harmlos sind. In Albanien hat Cassie einmal eine Lieferung Ballkleider bekommen. Und in Haiti bekam Thomas Büeler von einer europäischen Firma einen Container Skischuhe. Sie mussten schliesslich entsorgt werden.
Auch kleinere Spenden von Privatpersonen können logistische Probleme verursachen. Entweder, weil Dinge geschickt werden, die es nicht braucht, oder weil Dinge geschickt werden, die es zwar braucht, aber nicht in dieser Form. Zum Beispiel Lebensmittel: Jedes Paket muss ausgepackt und sortiert werden, damit Qualität und Standard gewährleistet sind – «ein gigantischer Personalaufwand», sagt Büeler.
Im Fall Ukraine ist es noch einmal speziell: Weil die Infrastruktur im Westen des Landes und in den umliegenden Ländern weitgehend intakt sei, brauche man viel eher Bargeld, sagt Büeler, mit dem sich die Leute Verpflegung und Unterkunft selbst beschaffen können. «Das gibt Menschen, die gerade fast alles verloren haben, auch ein Stück Autonomie zurück.»
Und es hat den Vorteil, dass es die in weiten Teilen noch funktionierende Wirtschaft im Land ankurbelt, was auch den indirekt Geschädigten zugutekommt. «Die Hilfe darf nie dazu führen, das Einkommen der Menschen vor Ort zu zerstören», sagt Büeler. «Die Destabilisierung der lokalen Wirtschaft ist einer der schlimmsten Schäden, die humanitäre Hilfe zufügen kann.»
Ein Lastwagen rollt ins Lager ein. «Das ist es, was wir in Uschhorod brauchen», sagt Cassie. «Keine Container, sondern Planen, die sich hochrollen lassen, damit wir die Verteilung besser direkt auf Rädern machen können.»
Thomas Büelers Team arbeitet beim Einsatz in der Ukraine nicht mit eigenen Lastwagen, sondern heuert primär lokale Logistikunternehmen an. Das hat wieder den Vorteil, dass die Wirtschaft vor Ort profitiert – und es erlaubt eine grössere Flexibilität.
Aber es bringt auch Nachteile: Ungarische, polnische, rumänische oder moldawische Subunternehmer finden niemanden, der sie versichert, um durch ein Land im Krieg zu fahren. Und in der Ukraine selbst? «Logistik ist eine Männerdomäne, und in der Ukraine gilt martial law», sagt Cassie. «Wir wissen nicht, wie viele Männer noch arbeiten oder bereits an der Front sind. Oder vor dem Dienst an der Front geflüchtet sind.»
«Das wird eine Challenge», sagt Büeler. «Aber Cassie wird das lösen.» Cassie nickt. No worries.
Feuer löschen rund um die Uhr
Auf der Rückfahrt nach Budapest muss Thomas Büeler wieder Feuer löschen. Das Lagerhaus in Lwiw, das einem multinationalen Bierkonzern gehört, stellt seine Hallen nun doch nicht gratis zur Verfügung, wie angekündigt. «Sie wollen 50 Cent pro Palette», sagt Cassie. «Pro Tag? Pro Monat?», fragt der Chef. «Zum Glück haben wir noch nichts geliefert. Alles auf Halt. Wir machen erst weiter, wenn wir die Bedingungen schriftlich haben.»
Es gehe nicht darum, dass man keine Miete zahlen wolle, sagt Büeler. «Aber wenn sich mittendrin die Bedingungen ändern, wenn das Lager schon voll ist, kann das fatale Folgen haben.»
Finanziell steht es gut um den Einsatz. Die Solidarität mit der Ukraine ist gross. 97 Prozent der Operation sind bereits gedeckt. «Die meisten Einsätze sind unterfinanziert», sagt Büeler. «Bei Operationen in Afrika sind es teilweise 10 Prozent, die gedeckt sind.»
Zeit, darüber nachzudenken, bleibt nicht. Eine Anfrage des IKRK kommt rein: Eine Ladung Narkotika für die Spitalversorgung muss in die Ukraine. «Die müssen wir direkt in das Land einfliegen und vor Ort registrieren, sonst brechen wir eine Reihe von Gesetzen», sagt Büeler. «Am besten stellen wir in Uschhorod einen Apotheker ein, der die Einfuhrgesetze kennt und die legale Basis garantiert.»
Auch mitten in der Krise gilt: Alle Hilfsgüter des Roten Kreuzes werden verzollt. Auch dann, wenn die Lieferung dringend benötigt wird. «Es ist enorm wichtig, dass wir uns an die bestehenden Gesetze halten, selbst wenn es eilt», sagt Büeler. Die Rechtsstaatlichkeit stehe in einer Krisensituation bereits so auf wackligen Beinen. «Wenn wir mit unserem Verhalten dazu beitragen, dass Gesetzmässigkeiten erodieren – egal wie gut unsere Intention ist – ist das immer ein Türöffner für Korruption.»
Krisen bedeuten immer Umbruch. Und wie dieser Umbruch begleitet wird, kann ein Land über Jahrzehnte prägen. Also: «Kein Auge zudrücken, keine Präzedenzfälle schaffen.»
Um 18 Uhr, immer noch auf der Autobahn, hat Büeler sein tägliches Video-Meeting mit seinen «Loggies», verteilt über die verschiedenen Länder. «Look at all these people!», ruft er begeistert in den Bildschirm.
Wenn seine Prokuristinnen, Flottenmanager oder «Warenhäusler» etwas brauchen, fragt Büeler nie, warum. Er sei ein Generalist, der eine Armada von Spezialisten anführe, sagt er. Sein Auftrag ist, das grosse Bild im Kopf zu haben: Ziele formulieren, die Situation antizipieren – wie verhalten sich Flüchtlingsströme, wie verteilen wir die Waren, was kommt wo wann rein. Die Details überlässt er seinen Mitarbeiterinnen im Feld: «Die kennen sich auf ihrem Gebiet meist besser aus als ich.» Micromanaging? Er lacht. «Viel Glück damit!»
Krisenlogistik braucht Vertrauen. Verdammt viel Vertrauen. «In einer Situation, die so volatil ist, nehmen Beziehungen zu anderen Menschen – zu Leuten vor Ort, in den Teams, und jenen, die wir zu Partnern mitbringen – eine immens wichtige Rolle ein», sagt Büeler. Auf Software und Infrastruktur dagegen kann man sich kaum verlassen.
Das ist nicht ohne. Denn Logistik schafft zwar Stabilität – aber sie liebt auch Stabilität. Für die Logistik ausserhalb von Krisen bedeutet das hochkomplexe Programme, die das Grosse und Ganze, das Büeler bei den unzähligen Entscheidungen, die er am Tag im Kopf haben muss, längst vollständig automatisiert haben.
Für Kriseneinsätze aber sind diese Programme unbrauchbar – «weil sie viel zu rigid sind, keine Unvorhersehbarkeiten vertragen», sagt Büeler. Deshalb verwendet sein Team simple Programme wie Logic, Excel. «Am Ende der Kette dann Stift und Papier. Keine Elektronik, nichts, was Internet braucht.»
Kurz vor 19 Uhr ist Büeler zurück in der Tiefgarage. Er will nur noch kurz hoch ins Büro – es ist Freitag, er würde sich gerne etwas erholen. Seit 18 Tagen arbeitet er durch. Er sagt, er versuche, nicht mehr als 12 bis 14 Stunden zu arbeiten, weil er danach nicht mehr effizient sei.
Und wie viele Stunden am Tag arbeitet er wirklich?
«Das kommt darauf an, in welchem Zeitfenster man gerade lebt.» Jetzt, in den ersten vier Wochen des Einsatzes, die besonders kritisch sind, bedeutet das schon einmal 100-Stunden-Wochen.
Unmittelbar nach einem Kriseneinsatz den Schalter umlegen und Pause machen geht nicht. «Es braucht eine gewisse Zeit, um aus dem Feuerlösch-Modus rauszukommen.» Die ersten Tage greift er immer wieder nach seinem Telefon, schreckt mitten in der Nacht hoch. Eine Kollegin griff jeweils, Wochen nachdem sie wieder zu Hause war, am Abend im Reflex nach der Mittelkonsole ihres Autos – um sich per Funk abzumelden.
Aus dem frühen Feierabend wird nichts für Büeler. Der regionale Hub aus Dubai schickt 21 Fahrzeuge per Flieger nach Budapest. Das Problem: Der Flughafen Budapest macht für gewöhnlich kein Cargo. Pedro, der früher für Airbus gearbeitet hat, muss sein privates Netzwerk aktivieren, damit der Flieger überhaupt landen darf. Büeler unterstützt ihn dabei.
Feuer löschen bis 10 Uhr nachts.
Humanitäre Hilfe mit Nebenwirkungen
Samstag, 19. März. 816 Tote und 1333 Verletzte hat der Krieg auf ukrainischer Seite nach diversen Angaben bis zu diesem Tag gefordert. Die Ukraine wirft Russland vor, in belagerten Städten wie Mariupol humanitäre Hilfe zu blockieren.
In Budapest sind die Büros des Roten Kreuzes nahezu leer – bis auf das Stockwerk der Logistiker. Auch das ist speziell an diesem Einsatz, sagt Thomas Büeler: «Wir arbeiten im Krisenmodus, während die Menschen um uns herum ganz normal weiterleben.» Aber eben – auch an Arbeitsgesetze muss sich die humanitäre Hilfe halten. Ausser bei der Emergency Response Unit natürlich.
Feuer müssen auch am Wochenende gelöscht werden: Der Flieger mit den Autos aus Dubai ist unterwegs, die Bewilligung da, aber das Equipment, um die Fahrzeuge abzuladen, fehlt dem Flughafen. Pedro aktiviert seine Kontakte am Pariser Flughafen Charles de Gaulle, aber es wird Montag, bis die Gabelstapler und Rampen kommen. Zu spät.
«Cassie, kannst du das UN-Cluster-Meeting übernehmen?», fragt Büeler. «Yes, my supreme leader», sagt Cassie mit theatralisch unterwürfigem Ton. Büeler grinst. «Ich glaube, Cassie braucht noch ein paar mehr Kitchen-Sets in Debrecen.»
Alexander der Grosse sagte einst über seine Logistiker, sie seien eine humorlose Truppe: «Sie wissen, sie sind die ersten, die ich hinrichte, wenn mein Feldzug scheitert.»
Die Logistiker des Roten Kreuzes hingegen sind alles andere als humorlos. Besonders wenn es um gegenseitige Neckereien geht. «Humor ist ein mächtiges Ventil», sagt Büeler. «Bei diesen Operationen geht so viel schief – da ist es wichtig, zu signalisieren: Nur weil etwas nicht klappt, reisst dir hier niemand den Kopf ab.»
Es brauche enorm viel Toleranz, Nachsicht. «Nur nicht nachtragend sein», sagt Büeler, der mit sieben Geschwistern auf einem Bauernhof in Rüeterswil, St. Gallen, aufgewachsen ist. Unnötige Konflikte will er – wenn immer möglich – vermeiden.
Was ist gute Logistik?
Büeler nimmt einen Stift und zeichnet ein Dreieck. In eine Ecke schreibt er «Kosten», in die andere «Zeit», in die dritte «Qualität». «Jede Ecke zieht in eine andere Richtung», sagt Büeler. «Gute Qualität ist schlecht für die Kosten, je länger etwas geht, desto günstiger, und so weiter.»
Dann zeichnet er in jede Ecke ein weiteres Dreieck, und in die Ecken dieser Dreiecke weitere Dreiecke, bis das Papier fast voll ist. «Kosten, Zeit und Qualität sind die wichtigsten Parameter. Aber dazu kommen noch weitere, die auf diese Parameter einwirken – wie ethisch, wie ökologisch gehen wir vor? Woher kommen die Produkte, unter welchen Bedingungen werden sie hergestellt? Nehmen wir einen Flieger? Das ist gut für die Zeit, schlecht für die Umwelt. Wie dicht bauen wir das Distributionsnetz, wie nahe kommen wir an die Bedürftigen? Von aussen wirkt der Druck von Spendern und Medien, die Erwartungen haben. Warum dauert das so lange? Warum produziert ihr so viel Abfall?»
Büeler könnte wahrscheinlich stundenlang aufzählen, welche Verknüpfungen er alle im Kopf haben muss, wenn er Entscheidungen trifft. Aber bevor es allen schwindelig wird, sagt er: «Letztlich ist alles, was wir tun, ein Trade-off.» Und sein Job ist es, die perfekte Balance zu finden, alle diese Elemente zu harmonisieren und mit idealem Energieaufwand möglichst schnell die grösstmögliche Zahl von Menschen mit dem zu erreichen, was sie wirklich brauchen.
«Eine perfekte Balance schaffst du nicht. Wenn du 80 Prozent hinkriegst, bist du schon sehr gut.»
Auch das ist sein Job: Den kollateralen Schaden seiner Arbeit möglichst gering zu halten. Denn: «Eine Krise ist, als hättest du Kopfschmerzen. Humanitäre Hilfe ist das Medikament, das du dagegen nimmst», sagt Büeler. «Und jedes Medikament hat unerwünschte Nebenwirkungen. Vor allem, wenn du es über eine lange Zeit täglich einnimmst.»
Er zögert kurz. Er weiss, dass in NGO-Kreisen umstritten ist, was er gleich sagt. «Es gibt Situationen, in denen man sich als humanitärer Helfer selbstkritisch fragen muss, ob man wirklich noch Menschen hilft, oder eher zu Strukturen beiträgt, die eine Krise aufrechthalten.»
Er selbst hat nie eine solche Mission erlebt. Es würde ihn zerreissen. Er müsste nach Hause.
Hat es Einsätze gegeben, bei denen er an seine Grenzen gestossen ist?
«Jeder Einsatz bringt dich irgendwann an deine Grenzen», sagt Büeler. «Aber Haiti war schon besonders intensiv.» 2010 erschüttert ein Erdbeben der Stärke 7 die Insel in der karibischen See. Über 300’000 Menschen verlieren ihr Leben, weitere rund 300’000 werden verletzt, bis zu 90 Prozent der Häuser werden zerstört. Zum grossen menschlichen Leid kam hinzu, dass die Versorgung einer Insel mit fast vollständig zerstörter Infrastruktur ein logistischer Albtraum war. Büeler kehrt mit bleibenden Schäden in seinen Beinen vom Einsatz zurück: Thrombosen vom Hinflug im Cargo-Flieger.
In seiner Freizeit macht er viel Sport – Mountainbiken, Alpinismus, Hochtouren. «Körperliche Resilienz ist wichtig», sagt er. «Auch psychisch hält man länger durch, wenn man vom Körper zehren kann.» Trotzdem fordert die Arbeit ihren Tribut.
Büeler, 45 Jahre alt, hat keine Kinder. Das verträgt sich nicht mit seinem Beruf. Es gibt auch nur wenige, die diesen Job so lange machen wie er. Einen Exit-Plan hat er keinen – zurück in die Privatwirtschaft könne er nicht, dafür sei er zu spezialisiert, zu deformiert. «Manchmal macht mir das Sorgen, aber …»
Büeler hat die Angewohnheit, plötzlich mitten im Satz aufzuhören, ohne sich zu erklären. Als hätte er entschieden, dass sich der Energieaufwand, den Gedanken zu Ende zu führen, gerade nicht lohnt. Gleichzeitig besitzt er die Fähigkeit, wenn er mitten im Gespräch unterbrochen wird, später an der gleichen Stelle mit dem Satz fortzufahren, ohne eine Sekunde nachdenken zu müssen – selbst wenn der Unterbruch mehrere Minuten dauert.
Was für ein Typ Mensch muss man sein, wenn man diesen Job macht?
«Privat bin ich ein Chaot, alles andere als organisiert oder strukturiert», sagt Büeler. Seine Freunde und Familie würden sich wohl öfters fragen, ob er im richtigen Beruf sei.
Aber vielleicht muss man auch ein Chaot sein, um sich im Chaos einer Krise zurechtzufinden.
«Ich sehe die Schönheit in agilen und dynamischen Systemen», sagt er. «Auch in einem vibrierenden Umfeld ergeben sich immer wieder Alignements. Die zu sehen, im richtigen Moment zu schieben, ich glaube, das liegt mir.»
Ach ja: «Und einen gewissen Fatalismus muss man haben.» Akzeptieren, dass es Dinge gibt, auf die man keinen Einfluss hat. Nicht frustrieren lassen, wenn wieder mal alles zusammenzubrechen droht. Oder wenn man weniger als erwünscht bewirken kann.
«Die Hilfe, die wir hier in der Ukraine leisten können, ist eine bescheidene Basishilfe», sagt Büeler. «Wir können den Menschen nicht das Trauma nehmen, nur eine Stütze sein, ein Mantel der Wärme in einem langen, kalten Winter, der ihnen bevorsteht.»
90 Prozent der Kraft, glaubt er, müssen die Ukrainerinnen am Ende selbst aufbringen. «Da dürfen wir uns nichts vormachen.»
Auch dass die humanitäre Hilfe alle Probleme dieser Welt lösen kann, glaubt er nicht. «Wahrscheinlich braucht die Menschheit auch einen gewissen Anteil an Problemen, damit wir weiterkommen, uns entwickeln.»
Wie jetzt in dieser Logistikoperation: «Wir haben eine hohe Fehlerquote, aber das Gute ist: In jedem Fehler liegt irgendwo auch seine Lösung – ein Weg, das Puzzle zu lösen.»
Man muss den Weg nur finden.
Sonntag, 20. März. Russland bombardiert eine Kunstschule in Mariupol, in der sich 400 Menschen befinden. Australien unterbindet den Export gewisser Rohstoffe wie Aluminium nach Russland.
Am Flughafen in Budapest steht am Rand der Rollfelder einsam ein Flugzeug. «Cargo», steht darauf. Am späten Abend werden die 21 Fahrzeuge abgeladen – mit gebastelten Konstruktionen und behelfsmässigen Mitteln.
Pedro und Büeler haben einen Weg gefunden.