Der lange Weg zum neuen Mann

Jahrzehntelang haben Männer Sexismus im Alltag übersehen. Seit einigen Jahren geht das nicht mehr. Unser Autor findet das gut – aber alles andere als leicht.

Ein Essay von Tobias Haberl (Text) und Karlotta Freier (Illustration), 22.04.2022

Synthetische Stimme
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Die vergangenen Jahre waren für einen Mann, der nicht mehr ganz jung und dann auch noch weiss ist, kein Spass: Gerade hatte man sich damit abgefunden, dass einem Haare nur noch an Körper­stellen wachsen, an denen gar keine sein sollten, schon musste man sich anhören, wie toxisch man ist, im Grunde ein Auslauf­modell, verantwortlich für jede Menge Unheil, zuletzt für den barbarischen Krieg in der Ukraine, weil ja auch Wladimir Putin ein «alter weisser Mann» ist, und Sergei Lawrow auch, und Gerhard Schröder sowieso.

Männer sollten vor allem den Mund halten. Das hörte man in den letzten Jahren immer wieder: «Ihr seid jetzt nicht dran!», hiess es. Und nach #MeToo konnte ich das durchaus nachvollziehen. Es waren vor allem Frauen, die sich über Männer geäussert haben. Als Mann wurde man zurecht­gewiesen und aufgefordert, ein paar Gewohnheiten zu überdenken (gut), oft aber auch pauschal abgewertet und als Mängel­wesen diffamiert, das hoffentlich bald vom Prostata­krebs dahingerafft wird (nicht so gut).

Über den Autor

Tobias Haberl ist 1975 im Bayerischen Wald geboren. Er hat Literatur­wissenschaften in Würzburg und Grossbritannien studiert und ist Autor des «Süddeutsche Zeitung Magazins». Im März erschien sein neues Buch «Der gekränkte Mann». Haberl lebt und arbeitet in München.

Über Männer herziehen, das war eine Art Freizeit­beschäftigung geworden, der man ohne schlechtes Gewissen nachgehen konnte. Und klar hat Margarete Stokowski recht, wenn sie schreibt, dass ein Feminismus, der nicht übertreibe, kein Feminismus sei.

Aber irgendwann müssen wir auch wieder miteinander sprechen, statt über­einander zu twittern, weil sonst gilt, was der Schrift­steller Stanislaw Lem geschrieben hat: «Die Menschheit ist wie Passagiere auf der Titanic, die sich gegenseitig bekriegen, um noch mal kurz vor der Katastrophe das Steuer halten zu dürfen.»

Wie Öltanker beim Richtungs­wechsel

Als Mann hat man heute drei Möglichkeiten: Man kann resignieren, aggressiv oder nachdenklich werden. Ich habe mich fürs Nachdenken entschieden. Und deswegen erzähle ich jetzt mal, wie es mir so ging in den letzten Jahren, was ich begriffen habe und was ich bereue; aber auch, welche roten Linien ich nicht überschreiten möchte, weil ich mich nicht selbst verleugnen will, als Mann nicht und als Mensch auch nicht.

Ich glaube, dass es vielen Männern so geht. Rational haben sie verstanden, emotional fallen sie in alte Rollen und manchmal: in Selbst­mitleid. Wie Öltanker versuchen sie die Richtung zu wechseln, und ja, es geht schon, aber langsam, man braucht ein bisschen Geduld.

Neulich bin ich über ein Zitat des Soziologen Michael Kimmel gestolpert: «Indem implizit oder explizit abgelehnt wurde, dass die Kategorie Gender überhaupt auch für Männer gilt, konnten diese sowohl einem prüfenden Blick als auch Kritik und Veränderung entgehen.»

Ich gestehe: Ich bin diesem prüfenden Blick lange ganz hervor­ragend entgangen.

Ehrlich gesagt: zu lange.

Meine Männlichkeit war für mich jahrzehnte­lang so natürlich, dass ich sie nicht hinterfragt habe. Natürlich habe ich auch meine Privilegien – weiss, männlich, wohlhabende Familie – nicht erkannt, weil sie mir ganz selbst­verständlich zur Verfügung standen. Nie im Leben wäre ich auf die Idee gekommen, dass meine Schwester strukturell benachteiligt sein könnte. Warum auch? Ich hatte was zwischen den Beinen, sie nicht, das wars. Wir bekamen das gleiche Taschen­geld, an Weihnachten lagen genauso viele Geschenke auf der linken wie der rechten Seite des Christ­baums, überhaupt achteten unsere Eltern pedantisch darauf, dass wir gleich viel Liebe abbekamen.

Feministinnen, das waren für mich engagierte Frauen mit fragwürdigen Halsketten, die nach­vollziehbare Dinge forderten – trotzdem hatte ich nicht den Eindruck, dass ich ihnen behilflich sein konnte.

Männer­zentriert, unfair, eindimensional

Ich dachte nicht darüber nach, warum ich in die schlanke Katharina und nicht in die mollige Monika verliebt war. Ich fragte mich nicht, warum die Plastik­puppe, die ich im Erste-Hilfe-Kurs beatmete, ein Mann und keine Frau war. Ich war nicht mal irritiert, als wir im Latein­unterricht übersetzten, wie Zeus, in Gestalt eines Stiers, die Tochter des phönizischen Königs entführt und dreimal schwängert, weil er doch ein Gott, ja sogar der höchste Gott von allen ist. Auch im Studium war ich nicht nur damit einverstanden, dass mir ausschliesslich Männer Romane von Männern näher­brachten – es fiel mir gar nicht auf.

Ich habe Sexismus nicht gebilligt, sondern übersehen.

Es machte mich auch nicht stutzig, dass in der «Duschdas»-Werbung eine junge Frau im durchsichtigen weissen Unter­hemdchen durch den Regen joggt, weil: Wie sonst sollte man ein Duschgel bewerben? Die Gesellschaft war männer­zentriert, unfair, eindimensional – und ich habs nicht gemerkt, aber viele andere eben auch nicht, übrigens auch jede Menge Frauen. Und deswegen fühlen sich diese Jahre im Rückblick so herrlich unkompliziert an: Ich hockte auf der Sonnen­seite des Lebens, und irgendwo nörgelte Alice Schwarzer vor sich hin, aber ich hörte sie nicht, sie war zu weit weg.

Es waren vor allem zwei Begegnungen, die mich zum Nachdenken brachten, beide liegen ungefähr zehn Jahre zurück. Und was jetzt kommt, fällt mir nicht leicht, aber ich wollte ja ehrlich sein: Also, ich habe tatsächlich mal zu einer Praktikantin «Baby» gesagt – eher aus Unsicherheit, eine Art Übersprungs­handlung –, aber das macht die Sache ja nicht weniger unangenehm.

Ich hatte viel um die Ohren, ständig klingelte das Telefon, als mir die Praktikantin einfiel, die sich ein paar Tage vorher vorgestellt hatte: Hanna oder Lena, ich konnte mich nicht erinnern. Ich lief also Richtung Praktikanten­zimmer, die Tür stand offen, Hanna oder Lena sass mit dem Rücken zu mir. Ich räusperte mich, aber sie bemerkte mich nicht. Es war der Moment, in dem ich unsicher wurde, und weil ich doch ihren Namen nicht wusste, na ja, da war es eigentlich schon zu spät, das verhängnisvolle Wörtchen fiel, und Hannas oder Lenas Bürostuhl drehte sich quälend langsam um die eigene Achse.

Sie sah nicht böse aus, es war schlimmer, ihr Blick war freundlich, ihre Stimme ruhig: «Weisst du was?!», sagte sie. «Nenn mich nie wieder Baby!» Ich spürte, wie mich eine Welle der Scham unter sich begrub. Natürlich hatte ich es nicht wörtlich gemeint, sondern ironisch, hatte absichtlich überzogen, weil ja klar ist, dass «Baby» überhaupt nicht geht, aber das zählte jetzt nicht, weil auch eine ironische Diskriminierung eine Diskriminierung bleibt, und jeder Versuch, mich auf eine ominöse Metaebene rauszureden, die Sache noch faden­scheiniger gemacht hätte.

Die traurige Wahrheit ist, dass ich nichts zu meiner Verteidigung vorbringen konnte: Diese hoffnungsvolle Nachwuchs­journalistin musste tatsächlich davon ausgehen, dass ich einer bin, der «Baby» zu Praktikantinnen sagt. Ich fühlte mich falsch wahrgenommen und war selbst schuld, es gab nichts gutzumachen. Ich hatte die Möglichkeit, dass sie mich sympathisch finden könnte, in der ersten Sekunde unserer Bekanntschaft verspielt, was nichts daran ändert, dass ich ihr heute dankbar bin, weil sie mir – ohne sich über mich zu beschweren – klargemacht hat, dass ich mich nicht tollpatschig, sondern übergriffig und ja, sagen wir es ruhig: sexistisch verhalten hatte.

Ein paar Wochen nach dem Vorfall interviewte ich den Theater­regisseur René Pollesch. Wir sprachen über Feminismus, und ich werde nie vergessen, wie er mir eine Perspektive aufsperrte, über die ich noch nie nachgedacht hatte: Er sprach über Repräsentation im Theater und warum es eine Katastrophe sei, wenn man automatisch einen weissen, heterosexuellen Mann vor Augen habe, wenn in einer Szenen­anweisung von Samuel Beckett stehe, dass «ein Mensch» die Bühne betrete. Er erzählte von Frauen mit Bartwuchs, die sich jeden Tag rasierten, damit sie aussähen wie die Frau aus dem Biologie­buch. Er machte sich über die Arche Noah lustig, die seit 3000 Jahren ein Symbol der Vielfalt, aber eigentlich das Gegenteil sei: zwei Eisbären, zwei Gorillas, zwei Elefanten, immer ein Männchen und ein Weibchen. «Was aber ist mit dem schwulen Pavian und dem transsexuellen Zebra?», fragte er und zitierte Brecht: «Penis und Vagina, immer neben­einander, immer dasselbe.»

Nach dem Gespräch war ich verwirrt und inspiriert. So hatte ich die Dinge noch nie gesehen. Als Student war ich ständig ins Theater gerannt, aber über Repräsentation hatte ich nie nachgedacht, immer nur über Schuld und Liebe und Erlösung.

Komplizierter, aber auch interessanter

Ich glaube, die beiden Erfahrungen waren die ersten ernst zu nehmenden Irritationen in meinem Verhältnis zu Frauen und Minderheiten, die erste echte Zäsur, die mir eine Ahnung davon vermittelte, welche Themen auf uns zukommen würden, nämlich weniger Löhne und Steuern, dafür mehr Geschlecht, Rasse, Identität, kurz: der kulturelle Kampf um Anerkennung.

Damals habe ich zum ersten Mal darüber nachgedacht, was für ein Mann ich eigentlich bin und sein möchte.

Auf einmal zog sich ein feiner Riss durch meine naive Unbekümmertheit, der sich immer weiter verzweigte und zu einem Netz aus Fehlern und Versäumnissen ausweitete. Irgendwann begriff ich, dass mein Geschlecht eben nicht nur eine persönliche, sondern eine politische Dimension hat; dass ich mich und überhaupt alles, was mir selbstverständlich erschienen war, hinterfragen und notfalls korrigieren musste; dass der Feminismus eben doch was mit meinem Leben zu tun hat. Nun konnte ich mich nicht mehr wegducken, nun wollte ich mich damit auseinander­setzen, und zwar nicht nur als Mann, sondern auch als Kollege, Bruder, Sohn und vielleicht ja auch eines Tages als Vater. Seitdem ist mein Leben komplizierter, aber auch interessanter geworden.

Erst in den letzten Jahren habe ich vollumfänglich begriffen, dass eigentlich alle, die mir in meiner Jugend was beibringen wollten, Männer waren: mein Vater, mein Klassen­lehrer, mein Tennis­trainer, der Dorf­pfarrer, mein erster, zweiter, dritter Chef. Und dann haben wir noch nicht von den Rock- und Filmstars gesprochen, von den vielen Büchern, Filmen und Songs – fast immer Kunst von Männern über Männer, die mir genau die Helden als Identifikations­figuren zur Verfügung stellte, die der Legitimierung ihrer Herrschaft dienten.

Um Verzeihung bitten, aber nicht um jeden Preis

«Die Vorstellung von der Welt ist, wie die Welt selbst, das Produkt der Männer», heisst es bei Simone de Beauvoir. «Sie beschreiben sie von ihrem Standpunkt aus, den sie mit dem der absoluten Wahrheit gleichsetzen.» Besser kann man es nicht ausdrücken: Auch ich habe viel zu lange nicht darüber nachgedacht, wie es einer Frau geht, die nachts durch ein Parkhaus oder nach Feier­abend ins Büro des Chefs muss. Jeden Tag die Blicke, die Andeutungen, Sprüche, Hände.

Erst heute versuche ich das permanente Gefühl der Bedrohung wenigstens nach­zuempfinden, ohne das sich Frauen ihr Leben überhaupt nicht vorstellen können.

Erst heute frage ich mich, wie sich Mädchen fühlen, wenn ihnen der Sportlehrer am Reck «ein bisschen unter die Arme greift» oder wie es sich anfühlt, mit einem Tampon zwischen den Beinen im Freibad zu liegen oder was es in einer Frau auslöst, wenn ein Polizist von ihr wissen will, wie das Geschlechts­teil des Mannes eigentlich ausgesehen habe, der im Park vor ihr onaniert hat.

Erst heute verstehe ich, warum es abschliessbare Unter­hosen gibt, Armbänder, die prüfen, ob K.-o.-Tropfen im Drink sind, und warum so viele Frauen mit dem Schlüssel in der Hand durch den Park joggen.

Ich spreche anders mit und über Frauen, hin und wieder lese ich einen feministischen Klassiker, weil ich Frauen und ihre Situation, ihre Seelenlage und Ängste besser verstehen möchte. Ich versuche mich zu beobachten und notfalls um Verzeihung zu bitten, aber hebe weiter den Finger, wenn ich das Gefühl habe, dass wir es mit der Rücksicht auf individuelle Befindlichkeiten übertreiben und idealistisches Engagement in etwas Zwanghaftes, Intolerantes, womöglich in gutgemeinte Reinheits­fantasien umzuschlagen droht.

Ich bin bereit, weiter an mir zu arbeiten und mich zu verändern, aber nur da, wo ich es für sinnvoll halte, und nicht, weil ich von einer aggressiven Atmosphäre dazu gedrängt werde. Ich unterstütze den Feminismus, solange er souverän daherkommt, aber nicht seine verbohrte, verbitterte, absurde Variante, wenn zum Beispiel das Maskottchen des 1. FC Köln, der Geissbock Hennes, auf einmal durch eine Ziege ersetzt werden soll. Ich bin für gleiche Rechte, Pflichten, Bezahlung, aber gegen Sternchen in Texten, weil ich finde, dass wir lieber die reale Position von Menschen verbessern sollten als die symbolische.

Die Gender- und Identitäts­debatten sind wichtig. Sie haben mich und viele andere Männer auf Fehler gestossen, die wir zu lange gebilligt, genossen oder gar nicht registriert haben. Alle zusammen standen wir im Licht, ohne darüber nachzudenken, wie es den Leuten im Schatten geht. Trotzdem bleibt ein Engagement fragwürdig, wenn es vor lauter Furor pragmatische Lösungen aus den Augen verliert und alles entwertet, was von weissen Männern gedacht, gemacht, geschrieben wurde.

Wenn Feminismus heisst, Männer verächtlich zu machen, um vergangenes Unrecht zu vergelten, bin ich dagegen. Es wäre auch nicht klug, weil Männer dann nur noch weiter ins gesellschaftliche Abseits getrieben werden, von dem aus sie ihre verloren geglaubte Männlichkeit mit zweifel­haften Methoden zurück­erobern wollen, mit denen wir alle uns dann herum­schlagen müssen.

Im Moment spaltet sich unsere Gesellschaft in zwei Lager. Die einen wollen, dass alles bleibt, wie es ist, die anderen wollen alles neu machen. Ich stehe ratlos dazwischen und spüre beides: Wie leicht das permanente Rücksicht­nehmen auf jede noch so kleinliche Befindlichkeit nicht nur jede Spontaneität, sondern auch alles Lebendige aus unserer Gesellschaft saugt, wie schnell gut gemeintes Engagement ins Ideologische kippen und in Unfreiheit umschlagen kann; aber auch, wie dringend wir einen umfassenden Aufbruch benötigen, der die Ungerechtigkeit der patriarchalen Gesellschaft hinter sich lässt und unsere Welt zu einem Ort macht, in dem viele unter­schiedliche Menschen friedlich zusammen­leben.

Ich habe mich auf den Weg gemacht. Ich glaube, dass er in die richtige Richtung führt. Es ist ein anstrengender, aber auch aufregender Weg. Er fühlt sich gut, er fühlt sich richtig an.

Dass ich noch nicht angekommen bin, dass ich immer noch ein Mann bin, der gern mal weibliche Perspektive übersieht, wurde mir erst neulich wieder dramatisch vor Augen geführt: Für das «SZ Magazin» schrieb ich einen Text über Blut und stellte mal eben die These auf, dass Blut in unserem aseptisch-digitalisierten Alltag keine Rolle mehr spiele, ja, dass manche kurz vor dem Nerven­zusammenbruch stünden, wenn sie sich beim Kartoffel­schälen in den Finger schnitten, weil da auf einmal dieses rote Zeug rauslaufe und man fast vergessen habe, dass man ein Wesen aus Fleisch und Blut mit überschaubarer Speicher­kapazität sei.

Zwei Tage später bekam ich eine charmant formulierte Mail von einer Leserin, ob ich vergessen hätte, dass die Hälfte der Welt­bevölkerung alle vier Wochen ziemlich heftig mit Blut konfrontiert werde.

Und was soll ich sagen?

Ja, ich hatte es tatsächlich vergessen, fühlte mich ertappt, und meine Scham war gewaltig.