75’000’000’000 giftige Kügelchen
Es beginnt mit einem Schiffsbrand vor der Küste Sri Lankas. Und endet in einer Umweltkatastrophe. Was die Havarie der X-Press Pearl über die Fragilität des Welthandels zeigt – und die Sucht nach billigem Plastik.
Eine Reportage von Sabrina Weiss, 19.04.2022
Ravi de Silva zieht seine Hände zur Schale geformt aus einem Eimer Wasser. Dutzende Kügelchen aus Kunststoff schwimmen darin. Die meisten sind weiss oder haben sich in der Sonne gelb verfärbt, andere sind schwarz, verkohlt oder zu Klumpen geschmolzen. «Da der Kunststoff leicht ist, schwimmt er an der Oberfläche und kann besser von anderen Trümmern getrennt werden», sagt der 42-Jährige.
Seit 35 Wochen ist de Silva praktisch täglich im Einsatz. Der Beamte der Marine Environment Protection Authority (Mepa) koordiniert die Aufräumarbeiten im Bezirk Gampaha, Sri Lanka. Er will seine Heimat, die auch «Pearl of the Indian Ocean» genannt wird, von den Folgen eines Desasters befreien, das von einer anderen Perle verursacht wurde: dem Containerschiff X-Press Pearl.
Am 21. Mai 2021, nur drei Monate nach der Jungfernfahrt, geriet das Schiff mitten in einem Fischerei- und Tourismusgebiet vor der Küste in Brand und löste dort laut der Uno «die grösste Plastikverschmutzung aller Zeiten in Sri Lanka» aus. Eine Katastrophe, die bislang nur wenig Schlagzeilen generierte.
Ein Besuch vor Ort zeigt, dass die Schäden acht Monate später noch längst nicht behoben sind. Sri Lanka wird noch viele Jahre unter den Folgen des Unglücks leiden.
Ein Unglück, das uns vor Augen führt, wie wir die Kontrolle im Umgang mit Plastik verloren haben.
Gefährliches Granulat
Ravi de Silva ist der einzige Mann an der Reinigungsstelle in Sarakkuwa, dem am stärksten betroffenen Strand gut 20 Kilometer nördlich der Hauptstadt Colombo. Die anderen 40 Menschen, die an diesem Januarmorgen arbeiten, sind Frauen aus der Region. Nachdem der Corona-Lockdown im Juli 2021 zu Ende ging, wurden sie von der Mepa angeheuert. «Wenn wir die Frauen bezahlen, geht das Geld direkt an die Familien», sagt de Silva.
Die Frauen arbeiten sechs Tage die Woche ab 8 Uhr morgens am Strand. Ihre Köpfe haben sie mit Hüten und Tüchern bedeckt, um sich vor der Sonne zu schützen. Kurz nach 10 Uhr zeigt das Thermometer bereits über 28 Grad an. Am Ende des sechsstündigen Arbeitstages werden die Frauen gemeinsam bis zu 100 Kilogramm Granulat gesammelt haben, was jeder von ihnen 3000 Rupien, umgerechnet 10 Franken, einbringt.
Es ist mühsame Arbeit für wenig Geld, aber in einer Wirtschaftskrise hilft jede Rupie. Der Tourismus in Sri Lanka erholt sich zwar langsam von der Pandemie, aber dem Inselstaat sind die Dollars ausgegangen, um Treibstoff und Gas zum Kochen zu importieren. Sri Lanka zählt zu den höchstverschuldeten Ländern Asiens.
Dass die Katastrophe der X-Press Pearl Sri Lanka noch lange verfolgen wird, zeigt sich draussen im Ozean: Nur noch das Deckshaus mit der Kommandobrücke ist zu sehen – denn das Frachtschiff ist teilweise gesunken, nachdem ein Bergungsunternehmen versucht hatte, es abzuschleppen. Das Wrack wird flankiert von zwei grossen Bergungsschiffen mit Kränen der Shanghai Salvage Company, die es in zwei Teile zerlegen sollen.
Das Containerschiff war mit 1486 Containern vom Nahen Osten nach Singapur unterwegs. Es hatte noch eine mehrtägige Reise vor sich, als die Besatzung zunächst Rauch meldete, dann die erste Explosion im Laderaum.
Knapp zwei Wochen lang brannte die X-Press Pearl und sank schliesslich Anfang Juni mit 81 Containern, die mit gefährlichen Gütern gefüllt waren. Darunter befand sich Salpetersäure, eine ätzende und brennbare Lösung zur Herstellung von Düngemitteln, die aus einem Behälter ausgelaufen war und vermutlich den Brand verursacht hatte. Berichten zufolge wurden auch Epoxidharz (das in flüssigem Zustand giftig ist), Schmieröl, Blei und Kupfer mitgeführt – und tonnenweise Kunststoffgranulat.
Granulat ist eine gängige Lieferform für die Industrie; es hat in der Regel einen Durchmesser von weniger als 5 Millimetern und ist leicht zu transportieren. Die Grösse ist auch bei der Herstellung von Alltagsprodukten von Vorteil, da das Granulat gleichmässig geschmolzen werden kann, bevor es etwa zu Plastikflaschen oder Autoteilen geformt wird.
Sri Lanka wurde diese Grösse jedoch zum Verhängnis: Bis zu 75 Milliarden Kügelchen mit einem Gesamtgewicht von 1680 Tonnen landeten im Ozean oder wurden verbrannt. Wenige Tage nach dem Brand wurde das Granulat entlang der Küste angeschwemmt.
Das Land, das sich im Mai mitten im Lockdown der dritten Corona-Welle befand, reagierte schnell. Streitkräfte tauschten ihre Uniformen gegen weisse Schutzanzüge, um Granulat und andere Trümmer einzusammeln, die die goldenen Strände nun wie frisch gefallener Schnee bedeckten. Aus Angst, dass kontaminierter Fisch auf den Tellern landen könnte, wurde der Fischfang verboten.
Die Auswirkungen auf das Meeresleben wurden schnell deutlich: Bis Ende Juli spülte der Ozean 258 Schildkröten, 43 Delfine und 6 Wale an, und es häuften sich die Meldungen über weitere tote Tiere und über Fische mit Granulat in Kiemen und Mäulern. Selbst Monate nach dem Vorfall berichteten Fischer, dass ihre Fänge merklich zurückgegangen seien und sich die Farbe des Wassers verändert habe.
Toxisches Gemisch im Ozean
Über das gesamte Ausmass der Verschmutzung ist noch wenig bekannt: «Wir wissen immer noch nicht genau, wie viel ausgetreten ist. Aber wir wissen, dass sich an Bord des Schiffes eine sehr komplexe Mischung von Schadstoffen befand, giftigen Chemikalien», sagt Therese Karlsson in einer virtuellen Präsentation. Die Schwedin ist wissenschaftliche und technische Beraterin beim International Pollutants Elimination Network (Ipen), dem über 600 Organisationen aus 124 Ländern angeschlossen sind und das kürzlich gemeinsam mit dem Centre for Environmental Justice (CEJ) die Ergebnisse einer toxikologischen Studie in Colombo veröffentlichte.
Die Chemikalien waren nicht das einzige Problem. Wenn Kunststoff einmal in die Umwelt gelangt, bleibt er dort für lange Zeit. Schätzungen gehen von 600 Jahren für Angelschnüre aus, von 450 Jahren für Plastikflaschen oder Windeln und von 20 Jahren für einen Plastiksack. Genau lässt sich das aber nicht sagen, weil das Plastikzeitalter erst Anfang des 20. Jahrhunderts begonnen hat.
Die meisten Plastikprodukte sind nicht biologisch abbaubar. Stattdessen zerfallen sie durch UV-Strahlung der Sonne, Oxidation oder mechanischen Abrieb, zum Beispiel durch Wellen. An Stränden und an der Meeresoberfläche geschieht dies schneller als unter Wasser, wo die Temperaturen tiefer sind. Teilchen, die kleiner als 5 Millimeter sind, sogenanntes Mikroplastik, sind schwer zu erkennen und zu entfernen. Das Granulat, das immer noch die Strände und Gewässer Sri Lankas verschmutzt, ist also per Definition Mikroplastik.
Wissenschaftlerinnen sind seit langem besorgt über die Auswirkungen von Mikroplastik. Es wurde im Verdauungstrakt von über 220 Arten gefunden – auch in Fischen, Muscheln, Garnelen, die von Menschen gegessen werden. Es ist sogar in menschlichem Blut nachweisbar. Plastik kann den Verdauungstrakt von Tieren blockieren und zu einem falschen Sättigungsgefühl führen, wodurch sie verhungern können.
Karlsson und ihre Studienkollegen gehen davon aus, dass das Schiffsunglück vor Sri Lanka sowohl physische als auch chemische Schäden verursacht hat. «Die toten Tiere waren ein frühes Warnzeichen», sagt sie. Es habe Berichte über gebleichte oder abgescherte Schildkrötenpanzer gegeben – was auf chemische Verbrennungen schliessen lasse – sowie über gebleichte oder geschmolzene Fischernetze.
Schwermetalle oder Giftstoffe, die ins Meer gelangt sind, neigen dazu, sich an der Oberfläche von Plastikteilen festzusetzen. Das Problem: Chemikalien können das endokrine System von Tieren beeinträchtigen, zu dem die Hormone gehören, die den Stoffwechsel und das Gewicht regulieren. Was mit diesen Stoffen im Tier und auch im menschlichen Körper geschieht, ist jedoch noch nicht ausreichend erforscht.
In den Proben, die in Gampaha und zwei anderen Bezirken genommen wurden, fanden sich Schwermetalle und Chemikalien, die auf ein Leck auf dem Schiff hindeuten. Besonders besorgniserregend seien verbrannte Klumpen: Sie wiesen hohe Konzentrationen an Metallen und polyzyklischen aromatischen Kohlenwasserstoffen (PAK) auf, die als krebserregend gelten und bei direktem oder wiederholtem Kontakt ein ernstes Risiko darstellen.
Das Feuer an Bord der X-Press Pearl könnte die chemische Komplexität des Kunststoffs um das Dreifache erhöht haben. Zu diesem Schluss kommt die Meeresbiologin Asha de Vos, die für ihre Forschungen zu Sri Lankas Blauwalen bekannt ist, in einer Studie: «Das Feuer veränderte das Granulat und führte zu einer Vielzahl von Erscheinungsbildern, die die ohnehin schon schwierigen Aufräumarbeiten, die Überwachung und die Schadensbeurteilung der Verschmutzung erschwerten», schreibt de Vos.
Sprich: Es wird zunehmend schwieriger, den Kunststoff überhaupt noch als solchen zu erkennen.
Lebensgrundlage in Gefahr
Mehr als acht Monate nachdem die Container in den Ozean stürzten, finden die Sri Lanker immer noch jeden Tag Granulat. In Sarakkuwa bedeckt es die Strände nicht mehr wie «Plastikschnee», sondern liegt bis zu zwei Meter unter der Sandoberfläche. Ein Bagger muss den Sand zunächst ausgraben, bevor er in harter körperlicher Arbeit gesiebt wird.
Eine Gruppe von fünf Arbeiterinnen bedient ein Trommelsieb, ein tuckerndes, zwei Meter langes Gerät. Eine schaufelt Sand in die zylinderförmige Trommel, zwei andere klopfen mit Holzstöcken darauf, damit so viel Sand wie möglich durch die Löcher fällt, während sich die Maschine dreht. Das übrige Gemisch aus Granulat, Muscheln, Splittern von Kokosnussschalen landet dann in einem mit Wasser gefüllten Behälter.
Es ist der Eimer, aus dem Ravi de Silva mit seinen Händen Wasser und Kunststoffkügelchen schöpft, um zu demonstrieren, wie sich das Plastik, das eine geringere Dichte als Wasser aufweist, vom Rest trennt, der auf den Boden des Eimers sinkt. Hier erledigt die Physik immerhin einen Teil der harten Arbeit.
Da es am ganzen Strand nur zwei Trommelsiebe gibt, müssen die meisten Frauen den Sand mühsam von Hand sieben und das Plastik herauspicken. Reines Granulat zeichnet sich durch seine weisse Farbe aus, aber ein grosser Teil wurde im Feuer verbrannt und tarnt sich zwischen natürlichen Materialien. Erschwerend kommt hinzu, dass einige Klumpen so verkohlt sind, dass sie zerbröckeln.
Obwohl das verbrannte Granulat nach neuen Erkenntnissen giftig ist, verfügen die Arbeiterinnen nicht über Schutzausrüstung. Einige tragen Reinigungs- oder Gartenhandschuhe aus Baumwolle, andere picken einzelne Kügelchen oder verbrannte Klumpen mit blossen Händen heraus. Sie brauchen diese Arbeit dringend, denn die Verschmutzung hat jene Gebiete um Colombo schwer getroffen, wo die Einheimischen hauptsächlich von der Fischerei leben: «Die Menschen haben ihre Lebensgrundlage verloren», sagt de Silva. «Wir müssen ihnen eine Chance geben, etwas zu verdienen.»
Vor der Havarie verdienten die Fischer mit einer Bootsfahrt je nach Fang umgerechnet zwischen 230 und 1400 Franken. Neben dem Bootseigner und seiner Mannschaft werden die Einnahmen aus dem Fang auch unter denjenigen aufgeteilt, die den Fisch aus den Netzen sortieren, trocknen oder verkaufen. Letztere sind vor allem Frauen. Besonders betroffen sind auch Fischer mit kleinen Booten, die nicht über das Sperrgebiet hinausfahren können.
Einige Fischer beklagen sich über geringere Fänge, teilweise wohl auch verursacht durch Container und Trümmer, die auf dem Meeresboden herumliegen und die Fischernetze zerstören. Dies ergab eine Umfrage des für öffentlich-rechtliche Streitigkeiten zuständigen Centre for Environmental Justice (CEJ) unter 107 Fischern.
Einige Befragte kritisierten auch die mangelnde Kommunikation der zuständigen Behörden. «Sie haben einige Studien durchgeführt, diese aber noch nicht veröffentlicht. Bis heute wissen die Menschen nicht, ob der Fisch sicher zu essen ist oder nicht», sagt Chalani Rubesinghe vom CEJ. Die Ergebnisse der CEJ-Studie würden ignoriert, und arme Frauen würden weiterhin mit Aufräumarbeiten beschäftigt und schädlichen Chemikalien ausgesetzt.
Bis der tatsächliche Umweltschaden ermittelt und beziffert werden kann, werden noch Jahre vergehen. Die sri-lankischen Behörden verhandeln noch immer mit der Schiffseignerin, der Singapurer Firma EOS RO, über die Entschädigung. Bisher hat deren Versicherung umgerechnet 3,3 Millionen Franken an Sri Lanka gezahlt – gefordert hatte der Staat letztes Jahr 37 Millionen. Es kursieren Gerüchte, dass der Schaden kleingerechnet und unter der Hand abgewickelt wird.
Touristinnen helfen mit
Im Gegensatz zum Strand in Sarakkuwa, wo der Tourismus seit der Pandemie nur langsam wieder anzieht, wimmelt es in Midigama, einem beliebten Surfspot im Süden der Insel, von Menschen. Hier sind die Folgen der Schiffskatastrophe nicht direkt sichtbar. Aber sie sind da. Viele der weissen Kügelchen wurden von den Meeresströmungen und den Wellen hierher getragen und liegen nun im Sand vergraben.
Die meisten Strandbesucher scheinen noch nie etwas von der X-Press Pearl gehört zu haben, geschweige denn von Kunststoffgranulat: «Ich erkenne es nur, weil mir jemand davon erzählt hat», sagt Johanna, während sie mit einer Kehrschaufel etwas Sand in ein handgefertigtes Sieb schüttet.
Die deutsche Touristin ist eigentlich zum Surfen nach Sri Lanka gekommen, doch für einen Nachmittag hat sie sich der gemeinnützigen Organisation The Pearl Protectors (TPP) angeschlossen, um Sri Lanka von der Plastikverschmutzung zu befreien.
In Midigama findet die Gruppe von 24 Freiwilligen viel weniger Granulat im Sand als die Arbeiterinnen in der Nähe der Unfallstelle, die 150 Kilometer entfernt ist. Aber jede Welle, für die Surferinnen von weit her angereist sind, könnte neues Plastik an Land bringen. Die Freiwilligen wollen das Granulat einsammeln, bevor es wieder ins Meer gespült wird.
Koordinator Muditha Katuwawala pflückt mehrere Kügelchen vom Ufer, nachdem eine Welle sich zurückgezogen hat. «Wenn ich dieses Granulat nicht aufgesammelt hätte, wäre es wieder im Meer gelandet», sagt der 32-Jährige. «Es hätte von Meereslebewesen gefressen werden können. Oder es hätte an ganz anderen Orten landen können.»
Das Plastik breitet sich im Wasser rasch aus. Es wurde inzwischen nicht nur im Süden und Westen der Insel entdeckt, sondern bereits auch in den gut 800 Kilometer entfernten Malediven, wie Crowdsource-Daten der Meeresbiologin Asha de Vos zeigen. Es wird vermutet, dass es wohl auch in anderen Ländern des Indischen Ozeans, von Malaysia und Indonesien bis Somalia, angespült wird, da sich die Richtung der Strömungen mit dem saisonalen Monsun ändert. Dessen ist sich auch die sri-lankische Behörde Marine Environment Protection Authority bewusst. «Wir müssen aufräumen, bevor der Monsun kommt und das Plastik ins Meer gelangt. Nach dem Monsun werden wir nicht wissen, wohin es geht», sagt der Mepa-Beamte Ravi de Silva.
Und wenn die Strände nicht von dem Granulat gesäubert werden, könnte es zu den Billionen von Mikroplastikteilchen hinzukommen, die bereits die Ozeane verschmutzen.
Unerwünschtes Granulat ist überall
Über das Ausmass der Plastikverschmutzung in den Weltmeeren gibt es nur Berechnungen und Prognosen. Eine der meistzitierten Schätzungen geht von bis zu 13 Millionen Tonnen aus, die Jahr für Jahr im Meer landen, was etwa einer Lastwagenladung pro Minute entspricht.
Es ist bekanntermassen schwierig, zu untersuchen, was sich genau im Ozean befindet. Aber man kann sich ein Bild davon machen, was darin landen könnte. Dazu hilft ein Blick auf die Strände: An vielen Orten auf der Welt sammeln Freiwillige Müll ein und dokumentieren ihre Funde, was Wissenschaftlerinnen hilft, darin Muster zu erkennen.
Sie stellen zum Beispiel fest, dass Plastikflaschen in tropischen Ländern wie Costa Rica und Jamaika häufiger zu finden sind. Die Strände in Südostasien, insbesondere in Indonesien und auf den Philippinen, sind eher mit Lebensmittelverpackungen verschmutzt, während im Mittelmeerraum vor allem Zigarettenkippen gefunden werden.
Auch die Verschmutzung durch Kunststoffgranulat ist kein neues Phänomen – aber sie scheint über die Zeit ein grösseres Ausmass angenommen zu haben. Ein Blick auf die Karte von «The Great Nurdle Hunt», einer Initiative, die 2014 von einer schottischen Wohltätigkeitsorganisation ins Leben gerufen wurde, zeigt: Auf allen Kontinenten ausser der Antarktis wurde schon Granulat an Stränden gefunden.
Woher es stammt, ist schwer zu sagen. Bislang stützt man sich auf eine Reihe von gemeldeten Vorfällen. So wurden 2012 nach einem Taifun ausserhalb von Hongkong 150 Tonnen Granulat verschüttet. Obwohl Freiwillige daraufhin drei Monate lang die Strände reinigten, fand man noch sechs Jahre später Rückstände im Sand.
Bei zwei Vorfällen in Südafrika 2017 und 2020 verlor ein Schiff seine Ladung auf See und ein zweites verlor im Hafen von Durban einen mit Granulat beladenen Container, worauf 2000 Kilometer Küste verschmutzt wurden. Ebenfalls 2020 verunreinigten 743 Millionen Kügelchen den Mississippi in den USA, nachdem ein Sturm ein Frachtschiff getroffen hatte.
Ein beträchtlicher Teil der Verschmutzung dürfte auf Unfälle in der globalen Logistik zurückzuführen sein. Nach Schätzungen des Branchenverbands World Shipping Council gehen jedes Jahr durchschnittlich 1382 Container auf See verloren. Versicherungsunternehmen werden etwa alle zwei Wochen über Brände von Containerladungen informiert.
Sri Lanka ist besonders anfällig, weil es direkt an der viel befahrenen Ost-West-Schifffahrtsroute liegt. Nach Angaben der Sri Lanka Ports Authority, der staatlichen Betreiberfirma der grossen Handelshäfen des Landes, passieren täglich rund 500 Schiffe den Süden der Insel und etwa 30 laufen in ihre Häfen ein.
Weniger als zwei Monate nach dem Unglück der X-Press Pearl geriet ein weiteres Containerschiff fast 900 Kilometer vor der Küste der Insel in Brand. Und ein Jahr zuvor traf es 70 Kilometer vor der Küste die MT New Diamond. Im Maschinenraum des Schiffes brach ein Feuer aus, bei dem ein Besatzungsmitglied ums Leben kam, rund 1700 Tonnen Treibstoff liefen ins Meer aus.
Dass es so nicht weitergehen kann, wurde nun auf politischer Ebene anerkannt: Am 2. März 2022 einigten sich die Uno-Mitgliedsstaaten darauf, in den nächsten zwei Jahren ein weltweit verbindliches Abkommen zur Bekämpfung der Plastikverschmutzung auszuhandeln, ähnlich dem Pariser Abkommen zum Klimawandel. Es könnte Regeln für die Herstellung, Verwendung und Entsorgung von Plastik festlegen.
Jetzt den Wasserhahn zudrehen
«Die Politiker haben ihre Augen auf die Meeresprobleme gerichtet», sagt Ravi de Silva, während er am Strand von Sarakkuwa an den Gruben im Sand entlanggeht, in denen die Arbeiterinnen nach verstecktem Granulat suchen. «Aber wir müssen uns auf die nächste Katastrophe vorbereiten.»
Die Behörde sei besser vorbereitet als vor dem Brand der X-Press Pearl, weil sie jetzt über bessere Ausrüstung verfüge. De Silva verweist auf den Bagger, der von einer Versicherungsgesellschaft zur Verfügung gestellt wurde. Auch Ölsperren und Dispersionsmittel wurden der Mepa gespendet.
Mit jedem gefüllten Sack nimmt die Anzahl der Kügelchen an den Stränden ab. Das ist auch am Strand von Midigama messbar, wo Muditha Katuwawala und seine «Perlenschützerinnen» kiloweise Material finden. Seit Juli 2021 hat die Organisation mehr als 1,3 Tonnen Granulat gesammelt, sortiert und der Mepa übergeben. Mittlerweile seien es bereits über 1000 Tonnen; die Mepa prüft, ob und wie sie das Material recyceln kann.
Katuwawala räumt ein, dass die Strandsäuberungen ein endloser Kampf seien, solange die Ursachen der Verschmutzung nicht angegangen würden. Eine beliebte Analogie lautet etwa: Wenn die Badewanne überläuft, sollte man nicht den Wischmopp nehmen, um das Wasser aufzuwischen, sondern zuerst den Hahn zudrehen.
Nur ist das nicht so einfach. Den Wasserhahn zuzudrehen, würde heissen, auf industrieller, staatlicher und individueller Ebene anzusetzen. Schiffe, die in internationalen Gewässern Öl transportieren, sind nach Vorschriften der Internationalen Seeschifffahrtsorganisation (IMO) verpflichtet, eine Versicherung abzuschliessen, die die Kosten für die Beseitigung von Öllecks deckt. Kunststoffgranulat gilt aber nicht als Gefahrgut – wenn es das wäre, müsste es unter strengeren Bedingungen verschifft werden, zum Beispiel in festen Behältern statt in Säcken. Katuwawala würde es auch begrüssen, wenn die Industrie grösseres Granulat produzieren würde, damit es bei künftigen Unfällen leichter zu finden wäre.
Und letztlich ist es auch die Nachfrage nach Plastikprodukten, die die Herstellung des Granulats antreibt, sagt Katuwawala. «Aber im Moment können wir nicht einfach mit dem Finger auf andere zeigen und rufen: Wir müssen etwas unternehmen. Denn wenn dieses Granulat hier über einen längeren Zeitraum an den Stränden verbleibt, bringt es alles durcheinander.»
Sabrina Weiss ist Journalistin und Autorin in Zürich und schreibt vor allem über Wissenschafts-, Umwelt- und Gesundheitsthemen. Sie hat jahrelang in London gelebt und für britische Magazine wie «Wired UK», «New Statesman» und «Positive News» geschrieben. Weiss hat drei Sachbücher für Kinder verfasst, die sich mit dem Ozean, den Inseln und der Tierwelt befassen.