Endlich Zeit zum Lesen – und wir haben Ideen, was Sie lesen sollten. Richard Kalvar/Magnum Photos

Meins, deins, keins

In diesem Text haben wir ein paar literarische Ostereier versteckt. Bücher abseits der Bestseller­listen zum Selber­lesen oder zum Verschenken.

Von Daniel Graf, 12.04.2022

Miniaturen. Gross!

Da ist die junge Frau, die mit achtzehn ihr erstes klassisches Konzert besucht – und nach einer Viertel­stunde einschläft. Sie wacht erst auf, als das Publikum bereits die kleine Kapelle in den Schweizer Alpen verlässt und überall auf dem Boden die Programm­zettel liegen.

Weil das ein so trauriger Anblick ist, hebt sie einen der Zettel auf und sieht da erst, was gespielt wurde: Brahms’ «Wiegenlieder». Und «mit einem Mal» hat die junge Frau das Gefühl, «dass ich mit meinem Einschlafen als Einzige die Musik wirklich gehört hatte». Wobei:

Natürlich hatte ich dieses Gefühl auch, damit mir das Ganze weniger unangenehm war – das ist das Komische an Gefühlen.

Auch sind da die Erkundungen über «rote», «grüne» oder «graue Traurigkeit». «Blaue Traurigkeit» ist die Erinnerung an ein Glück, das nur noch Erinnerung ist, «sie ist in eine Nische zurück­gewichen, die nicht abgestaubt werden kann, weil du nicht heran­reichst».

Und da ist die Frau, die alles, was sie umgibt, nach Definitionen abtastet, wie um sich daran festzuhalten. «Ein Gedanke», lautet so ein Gedanke von ihr, «ist lautloses Reden mit sich selbst im Kopf. Doch man kann es trotzdem hören. Das ist der Haupt­unterschied.»

41 funkelnde Prosavignetten hat die US-amerikanische Lyrikerin und Essayistin Mary Ruefle unter dem Titel «Mein Privat­besitz» vorgelegt, Esther Kinsky hat sie in ein ebenso leuchtendes Deutsch gebracht: Miniatur-Erzählungen, hinter denen unaufdringlich die grossen Fragen stehen. Kleine Parabeln über das Aufblitzen einer Erkenntnis. Oder zumindest einer Einsicht:

Wir vier waren also im Restaurant. Manches an dem Essen war gut und manches war schlecht, aber es kostete dasselbe.

Mit einem unnachahmlichen Witz und der Aufmerksamkeit für die Paradoxien des Alltags­lebens betreibt Mary Ruefle ihre Ethnologie des Menschlichen, fängt sie die Sehnsüchte, Obsessionen und Nöte ihrer irdischen Kurzzeit-Protagonisten ein. Es gibt allerdings auch Gast­auftritte aus dem Tierreich:

Ich bin der gelbe Fink, der eine Stunde, bevor sie starb, zu ihrem Futterspender kam. Ich war das letzte Lebendige, was sie sah, meine Verantwortung war gross. Und doch frass ich nur.

Der Titel dieser Geschichte lautet übrigens: «Bitte lesen». Wir schliessen uns an.

Debüt erster Klasse

Mit unerwünschtem Mitleid kennen sie sich beide aus. Nene, die zwanzig­jährige Bade­meisterin, und Boris, der Freibad­gast, der eines Tages, na was? – in ihr Leben tritt?

Das wäre, würden Nene und Boris sagen, schon die erste Beschönigung: Eher humpelt Boris in ihr Leben. Schon ein Leben lang wird er als «Krüppel» oder «Freak» beschimpft. Oder eben bemitleidet. Nur zu irgendwas dazwischen scheint niemand in der Lage. Und dem, was Nene seit frühester Kindheit erlebt hat, kommt man mit Begriffen wie «prekäre Familien­verhältnisse» auch nur bedingt bei.

«Als Familie waren wir aufreizend asozial», so beschreibt das Nene. Und meint damit den ganzen «Armuts­scheiss, Sucht­scheiss und Gewalt­scheiss», mit dem sie gross wurde.

Dann also lernt sie Boris kennen, der jedes Mal ein Schwimm­brett bei ihr ausleiht, was den Vorteil hat, dass er es am Ende auch wieder bei ihr abgeben muss. Vielleicht ist Boris nicht der Geschickteste beim Flirten, aber der Erste, der nicht gleich mit ihr in die Kiste will. Das ist schon mal ein Anfang.

Es hat in der deutsch­sprachigen Gegenwarts­literatur zuletzt zahlreiche Romane über die Klassen­frage gegeben, aber noch keinen wie diesen. «Nordstadt», der Debüt­roman von Annika Büsing, könnte mit seinem Setting leicht in ghetto­romantischen Kitsch abdriften – würde die Autorin diese Lovestory zwischen zwei tief versehrten Seelen nicht mit einer so heilsamen Allergie gegenüber Klischees und Sentimentalitäten erzählen.

Schon die allerersten Sätze entziehen jeder Happy-End-Idylle den Boden. Im Tausch dafür erhält man: zwei unvergessliche Protagonistinnen; einen Roman, dessen schroffe Schönheit im Aufrichtigen und Unverklärten liegt; und eine Erzählerin, die keinen höheren Bildungs­weg braucht, um zu erkennen, dass nicht nur das Private politisch ist, sondern auch die Alltags­sprache.

Es geht mir auf den Wecker, wenn Leute solche Sachen sagen wie: «So ist das Leben» oder (…) «Wo es bergab geht, geht es auch wieder bergauf». Diese Redens­arten erwecken den Eindruck (…), als müssten wir es einfach ertragen. Nur verhöhnt man damit die, die einfach am Arsch sind, zum Beispiel, weil sie in bittere Armut hinein­geboren werden, in Krieg, in Familien, in denen sie erniedrigt und verletzt werden. Man kann nicht sagen: «So ist das Leben» und damit dem Unrecht eine Absolution erteilen. Und übrigens: bergab ist viel geiler als bergauf. Schon mal drüber nachgedacht?

Ein Jahr­hundert Familie

Was die französische Autorin Marie-Hélène Lafon in ihrer «Geschichte des Sohnes» unternimmt, lässt sich vielleicht schon anhand ihrer Eingangs­szene beschreiben.

Wir befinden uns in Aurillac, in der Region Auvergne-Rhône-Alpes, im Jahr 1908, und für einmal erzählt Lafon ganz aus der Perspektive des Kindes.

Armand ist fünf, sein Zwillings­bruder Paul schläft noch, weshalb Armand mit seinen nackten Füssen über das Parkett schleicht; weniger aus Rücksicht als vielmehr, damit Paul nicht aufwacht und wieder alles verdirbt. Armand «wäre lieber nicht Zwilling», oder wenn, dann mit Georges, «ohne Paul». Weil es dunkel ist, orientiert sich Armand an Gerüchen. Das hat er ohnehin perfektioniert, sodass er sie alle auseinander­halten kann: Georges riecht «nach der Pflaumen­marmelade im Sommer»; Paul «riecht nach Wind und nach der kalten Klinge» der Küchen­messer, die sie nicht anrühren dürfen. Bei der Mutter ist er unschlüssig, «es ändert sich dauernd»: mal riecht sie nach Schnee, mal nach Kaffee, «manchmal riecht sie auch rot». Nur beim Vater denkt er lieber nicht weiter nach, denn «die Gerüche sind ein Spiel, und mit dem Vater kann man nicht spielen».

An diesem Punkt ist das synästhetische Spiel längst zu Lafons Erzähl­weise, zum Grund­prinzip ihrer Evokationen geworden. Und dass auch im deutschen Text die Szenen nicht nur aus Bildern, sondern auch aus Sprach­klang und Rhythmus erstehen, ist der grandiosen Über­setzung von Andrea Spingler zu verdanken:

Georges’ kleines Zimmer (…) riecht nach den weiss­glühenden Bügeleisen, die seine Mutter oder Amélie über Leinenzeug gleiten lassen, wobei sie den Arm anwinkeln und den Ellbogen abspreizen, den rechten Arm und Ellbogen seine Mutter, den linken Amélie, die dennoch die geschicktere ist.

Noch bevor in dieser Szene das «grosse Bad am Samstag­abend» eingelassen ist, schweben die Vokale schon wie Seifen­blasen in der Luft (ehe sie platzen).

Lafon erzählt die Geschichte einer Familie und ihres traumatischen Erbes über einen Zeitraum von hundert Jahren, durch das gesamte 20. Jahrhundert hindurch. Und sie braucht dafür nicht mehr als 150 Seiten und 12 Augenblicks­szenen, mit denen alles gesagt scheint und je neu die Atmosphäre einer ganzen Epoche greifbar wird.

Der Sänger

EIns, zwEI, drEI – und dann, Nummer vIEr, gruppieren sich die Vokale anders herum. Wie in dem dominierenden Wort der vergangenen Wochen: Krieg. Vor dessen Hinter­grund einem alles Österliche, alles Spielerische zumal, absurd und deplatziert vorkommt, und das affiziert auch das Lesen und Schreiben (und diesen Text).

Wie niemand sonst hat der im Donbass geborene Serhij Zhadan den Krieg in der Ostukraine, der schon seit Jahren im Gang ist, literarisch dokumentiert. Noch bevor die russischen Truppen begonnen haben, das ganze Land anzugreifen, hat Zhadan, in dem viele den wichtigsten ukrainischen Gegenwarts­autor sehen, ungeschönt die Verheerungen des Krieges beschrieben. Aber die Widerstands­kraft seiner Landsleute hat er mit seinen Texten und seiner Musik auch deshalb über all die Jahre gestärkt, weil es bei ihm nie ausschliesslich um den Krieg geht. Noch in seinen dunkelsten Texten ist immer das gesamte Spektrum der grossen menschlichen Themen präsent.

Das aktuellste Buch, das von ihm auf Deutsch lieferbar ist (Übersetzung: Claudia Dathe), trägt den Namen «Antenne» und versammelt Gedichte, die im Original zwischen 2018 und 2020 erschienen. Es ist ein Buch über den Krieg und ein Requiem für seinen Vater, eine Theodizee in Zeiten der Verheerungen und ein Buch über: Sprache, Atem, Jahres­zeiten und Vogelzüge, über die Unerbittlichkeit des Winters, über Erinnerung, Liebe, das Heran­wachsen, die Kraft der Musik. All das durchdringt sich in langen, weit ausgreifenden Verszeilen und psalmen­artigen Blasphemien, in denen das Unvereinbare neben­einander existiert:

Ostukraine, Ende des zweiten Jahrtausends.
Die Welt quillt über vor Musik und Feuer.

In seinem einleitenden Essay schreibt Zhadan:

Wir setzen ja im Grunde all unsere literarischen Mittel ein, um zu lernen, wie wir über das sprechen, was uns am meisten Angst macht. Die Literatur lässt uns Synonyme finden für die schlimmsten Dinge und macht sie dadurch ein wenig erträglicher, ein wenig verständlicher.

Wie wenig heute noch von «ein wenig» übrig ist? Antworten darauf lassen sich nicht delegieren, schon allein weil die Kluft zwischen den Erfahrungen in diesen Wochen täglich grösser wird.

Serhij Zhadan, 2020:

Zusammenkommen und reden – lasst uns mit dem Schwersten anfangen.
Lasst uns rückhaltlos in die Nacht eintauchen,
die wie Kohle auf den Laken hervortritt. (…)

Lasst uns mit dem Schwersten anfangen – mit dem Gesang und dem Löschen des Feuers,
das in der Nacht näher rückt.

(…)

Du verstehst doch, dass das alles nur dafür da ist,
damit du Gelegenheit hast zu widersprechen,
das irrwitzige Recht hast nicht zu glauben,
das Offensichtliche nicht zu sehen,
es nicht zu sehen,
nicht zu sehen.

(…)

Doch am schwersten ist es
mit den Bäumen
zu reden –
als wärst du an nichts schuld,
und doch stehst du zwischen den Fichten
und senkst den Blick.

(…)

Vielleicht das Wichtigste, was ich im Leben zu sehen bekam,
sind die Steine in der Stadt, aus denen Bäume
wachsen. (…)

Ukrainische Verse aus Basel

Unmittelbar vor Ausbruch des jetzigen Krieges ist in der Reihe «Essais agités» ein Band mit Gedichten von Halyna Petrosanyak auf Deutsch erschienen. Seit den Neunziger­jahren eine der wichtigen Dichterinnen der Ukraine, mit einem Werk, das in zahlreiche Sprachen übersetzt ist, lebt Petrosanyak seit 2016 in der Schweiz.

In Zusammenarbeit mit Ruth Schweikert ist nun eine Auswahl von Gedichten aus drei Jahrzehnten mit dem Titel «Exophonien» entstanden: «Anders­sprachigkeiten», wie Schweikert das übersetzt. Ein Titel, der auf die Vielsprachigkeit von Petrosanyaks Heimat, aber auch auf die vielen verschiedenen Register ihrer Dichtung verweist: vom Landschafts- über das Liebes­gedicht bis zum Gebet. Und die Entstehung dieses Bandes war ebenfalls «exophon»: Mehr als ein halbes Dutzend Übersetzerinnen haben die Texte ins Deutsche übertragen – in vielen Fällen auch die Autorin selbst.

Es sind referenzreiche, von europäischer Kultur­geschichte durchdrungene Verse, in denen Petrosanyak Erfahrungen von Verlust und Begehren, Verbundenheit und Unterwegs­sein verdichtet.

Der Band schliesst mit Auszügen aus einem Zyklus, einem lyrischen Triptychon, das eine klassische Trias variiert: «Glaube, Hoffnung, Liebe», heisst es bei Petrosanyak. Die Frau, die im mittleren Gedicht auftritt, flankiert von ihren «Geschwistern», ist also eine Allegorie der Hoffnung: «Die Augen? / Oft geschlossen, / oder sie blinzelt, / denn das Licht / stört / ihren Blick / meist allzu sehr.» Gespräche führt sie «nur über Zukünftiges». Und dann, in den letzten Versen, eine direkte Charakterisierung:

Instabil,
labil.
Vielleicht weil
sie weiss:
man hätschelt
und hegt sie
fürchtet, sie zu verlieren
nicht um
ihretwillen …

Rituale, die dem Widrigen trotzen, ohne zu verdrängen, haben etwas Tröstliches; Literatur, die die Sinne und das Denken schärft, etwas Bestärkendes. Man traut sich kaum, das in diesen Tagen so hinzu­schreiben. Aber so ist es vielleicht doch.

Zu den Büchern

Mary Ruefle: «Mein Privatbesitz». Aus dem Englischen von Esther Kinsky. Berlin, Suhrkamp 2022. 127 Seiten, ca. 27 Franken.

Annika Büsing: «Nordstadt». Roman. Göttingen, Steidl 2022. 128 Seiten, ca. 30 Franken.

Marie-Hélène Lafon: «Geschichte des Sohnes». Roman. Aus dem Französischen von Andrea Spingler. Zürich, Rotpunktverlag 2022. 152 Seiten, ca. 27 Franken.

Serhij Zhadan: «Antenne». Gedichte. Aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe. Berlin, Suhrkamp 2020. 144 Seiten, ca. 22 Franken.

Halyna Petrosanyak: «Exophonien. Im Rhythmus der Leidenschaft». Gedichte. Mit einem Vorwort von Ruth Schweikert. «Essais agités», Band 8. Luzern, Der gesunde Menschen­versand 2022. 96 Seiten, ca. 19 Franken.