Tödliches Déjà-vu
Die französischen Präsidentschaftswahlen steuern wieder auf ein Duell Emmanuel Macron gegen Marine Le Pen zu. Die Traditionsparteien sind beschädigt. Es gibt wohl nur noch eine Alternative zur heutigen Regierungsmehrheit: die extreme Rechte.
Eine Analyse von Daniel Binswanger, 08.04.2022
«Trotz aller Krisen: Niemals haben wir aufgegeben! Wir haben Wort gehalten!» Es war einer der rhetorischen Paukenschläge, mit denen Emmanuel Macron am letzten Samstag im Rugbystadion «La Défense Arena» in einem Vorort von Paris 30’000 jubelnde Anhänger aufpeitschte. Genau acht Tage vor dem ersten Wahlgang von übermorgen Sonntag. Die Show war durchchoreografiert, mit Feuerwerkseinlagen und riesigem Rundumbildschirm für Grossaufnahmen des Stars der Veranstaltung. Ein beeindruckendes Spektakel: Professioneller kann sich Macht kaum inszenieren.
Und Macron hat recht. Zwar nicht in allem, aber in vielem hat er Wort gehalten. Und dies, obschon keine andere Präsidentschaft der Fünften Republik von so vielen heftigen Krisen geprägt wurde: die Gelbwesten, die Pandemie und jetzt der Russland-Ukraine-Krieg. Dennoch ist es in diesem Wahlkampf nicht die Beständigkeit des Regierungschefs, die heraussticht. Ganz im Gegenteil, wer fünf Jahre zurückblendet zu den letzten Wahlen, ist frappiert davon, wie radikal anders jetzt alles ist. Alles – mit einer Ausnahme.
Der Aufbruch vor fünf Jahren
Der Kontrast zu Macrons erster Präsidentschaftskampagne könnte grösser gar nicht sein. 2017 war der damals noch nicht Vierzigjährige der Hoffnungsträger, ein Kandidat, der an der Spitze einer umfassenden zivilgesellschaftlichen Bewegung, an allen Parteiapparaten und verknöcherten Strukturen vorbei, das höchste Amt im Staat erobern sollte. Mit einer resolut proeuropäischen Agenda. Mit einer progressiven Synthese sozialdemokratischer und liberaler Rezepte. Mit einem heroischen Willen zur Modernisierung und Verjüngung der französischen Politik. Und einem kompromisslosen Bekenntnis zu Transparenz und einer Demokratisierung der politischen Institutionen.
Die Bewegung La République en Marche war erst im April 2016 gegründet worden, ein paar Monate bevor Macron sich im November zu ihrem Präsidentschaftskandidaten erklären sollte. Die Begeisterung für die «Revolution» aus der Mitte der Gesellschaft war authentisch und breit abgestützt. Es folgte ein intensives Feuerwerk der Wahlkampfveranstaltungen, der öffentlichen Debatten und einer pausenlosen, enorm intensiven Medienpräsenz des Kandidaten, der schliesslich im Mai 2017 zum Präsidenten gekürt werden sollte.
Der Staatschef Macron jedoch macht fast gar keine Kampagne. Überhaupt nur ein einziges grosses Meeting – die Show im Rugbystadion – ist vorgesehen worden. Auch an einem Fernsehduell der Kandidatinnen wird Macron sich vor dem ersten Wahlgang nicht beteiligen.
Die offizielle Erklärung für die generelle Zurückhaltung bei der Kampagne: Der Präsident werde von seinen Vermittlungsversuchen im Russland-Ukraine-Krieg dermassen absorbiert, dass er für Frivolitäten wie Wahlveranstaltungen ganz einfach wenig Zeit aufbringen könne. Das ist natürlich Unsinn: Macron führt zwar intensive Gespräche mit Putin und Selenski und scheint als indirekter Draht zwischen den beiden Kriegsparteien eine wichtige Rolle zu spielen. Es dürfte allerdings kaum so sein, dass er einen geopolitischen 24-Stunden-Service garantiert.
Es entsteht ein bisschen der Eindruck, als setze der Präsident darauf, dass es ihm mehr Nutzen bringt, die Rolle des unverzichtbaren Staatenlenkers auszufüllen, als sich offensiv an der öffentlichen Auseinandersetzung zu beteiligen. Die Strategie ist legitim. Die Tage der grossen Debatte und des zivilgesellschaftlichen Aufbruchs scheinen jedoch fern.
Die Umfragen geben Macron recht, mindestens vorderhand: Mit Ausbruch des Krieges ist seine Popularität nach oben geschossen, und obwohl sie seither wieder nachgegeben hat, bleibt ein Vorsprung für den ersten Wahlgang weiterhin erhalten. So sehr scheint das Élysée auf diesen Effekt zu vertrauen, dass es sogar Fotografien des Präsidenten im Selenski-Look veröffentlicht hat, mit Fallschirmspringer-Hoodie und Dreitagebart.
Der Abstand zwischen dem Macron, der antrat als Erneuerer, und dem heutigen Amtsträger Macron könnte allerdings kaum grösser sein.
Das fällt umso mehr ins Gewicht, als dieser Urnengang in einer Hinsicht dennoch zu einer Wiederholung der Präsidentschaftswahlen vor fünf Jahren werden dürfte – zu einer Wiederholung wie in einem Albtraum, aus dem es kein Erwachen gibt.
Am selben Punkt
Nach den recht eindeutigen Prognosen der Umfragen bestehen wenig Zweifel daran, dass sich in der Stichwahl im zweiten Durchgang am 24. April wiederum Emmanuel Macron und Marine Le Pen gegenüberstehen werden. Das symbolische Gewicht dieser Tatsache kann man gar nicht überschätzen. Sie allein könnte schon fast erscheinen wie der Beweis des Scheiterns der Macron-Präsidentschaft.
Ein weiteres Krisensymptom fällt ins Gewicht: Die Wahlbeteiligung könnte dieses Mal so tief sein wie noch nie zu Zeiten der Fünften Republik. Rekordverdächtig viele Wählerinnen scheinen von den heutigen Parteien also gar nicht mehr erreicht zu werden. Es kommt hinzu, dass die Prognosen unsicherer werden, wenn viele Stimmberechtigte zu Hause bleiben, und Überraschungen desto wahrscheinlicher werden. Die guten wie die bösen.
Frankreich ist politisch nicht vorangekommen. Macron, der Revolutionär der Mitte und der begeisterte Europäer, ist angetreten, um die Extreme zu entzaubern, Frankreich auf den Pfad der Produktivität zurückzuführen, den Glauben an eine vernünftige und reformfähige Republik wiederherzustellen. Politisch heisst es jetzt jedoch: zurück auf Feld eins. Die Gegnerin ist immer noch Le Pen.
Und voraussichtlich ist sie stärker geworden. So stark, dass nicht einmal mehr der Sieg von Macron in der Stichwahl wie eine völlige Gewissheit erscheint. Gemäss jüngsten Umfragen werden im zweiten Durchgang 53 Prozent der Stimmen an Macron, 47 Prozent an Le Pen gehen, und seit Mitte März profitiert die Herausforderin von einer positiven Dynamik.
Zwar ist die Wahrscheinlichkeit eines Sieges von Macron immer noch sehr viel grösser als das gegenteilige Szenario. Bereits jetzt aber dürfte ausgeschlossen werden können, dass der Präsident – sollte er tatsächlich gewinnen – Marine Le Pen wieder mit 66 zu 34 Prozent schlagen wird, so wie das 2017 der Fall gewesen ist. Die demokratische Mitte hat weiter an Terrain verloren.
Das französische Politiksystem ist vollständig auf die Präsidentschaftswahlen ausgerichtet, der Kampf um das höchste, mit ungeheurer Machtfülle ausgestattete Staatsamt ist prägend für die politischen Verhältnisse im Land. Als im Jahr 2002 mit Jean-Marie Le Pen der Rechtsextremismus zum ersten Mal in den zweiten Wahlgang Einzug hielt, war das ein Trauma für die französische Demokratie. Als seine Tochter es ihm vor fünf Jahren gleichgetan hat, war der Schock nicht kleiner. Er trug wesentlich dazu bei, die übrigen Kräfte zu einen und einen relativ geschlossenen front républicain zu stiften.
Es bestand deshalb auch nie der geringste Zweifel daran, dass dies das absolute Mass sein würde für Macrons politischen Erfolg: Le Pen in die Schranken zu weisen.
Das vernichtendste Argument, das die euroskeptische, radikale Linke gegen den Mitte-Kandidaten ins Feld führte, lautete immer: Nach fünf Jahren Macron wird Le Pen gewinnen. Man darf weiterhin hoffen, dass diese Befürchtung sich nicht bestätigen wird. Aber als ungerechtfertigt hat sie sich nicht erwiesen. Wie erklärt sich das? Ein Amtsinhaber wird gemessen an seiner Bilanz. In Macrons Fall ist sie durchzogen, aber durchaus erfolgreich.
Die Bilanz
Ein Hauptmotiv seines ursprünglichen Programms ist es gewesen, die Konkurrenzfähigkeit von Frankreich zu erhöhen, Betriebsgründungen zu ermutigen, die Arbeitslosigkeit zu senken, das Schulsystem zu verbessern, das Wachstum zu fördern. Insbesondere bei der Senkung der Arbeitslosigkeit wurden tatsächlich Fortschritte gemacht. Aktuell steht sie bei 7,4 Prozent der aktiven Bevölkerung, was im europäischen Vergleich immer noch relativ hoch ist, in Frankreich aber eine Bestmarke seit fünfzehn Jahren darstellt. Ende 2017 lag diese Zahl noch bei rund 9 Prozent. Am Ende einer allfälligen zweiten Amtszeit will Macron die Vollbeschäftigung erreicht haben.
Die Entspannung auf dem Arbeitsmarkt wurde allerdings durch die Flexibilisierung des Arbeitsrechts und einen leichten Lohnverlust der untersten Einkommenskategorien erkauft. Auch die Teilzeit-, die Temporärarbeit und die Ich-AGs haben zugenommen – ein Zeichen prekärerer Arbeitsbedingungen. Dennoch wird die positive Entwicklung des Arbeitsmarkts als Erfolg betrachtet. Sie ist allerdings auch zahlreichen staatlichen Unterstützungsmassnahmen geschuldet, beispielsweise der Subventionierung von Lehrstellen, die einen grossen Beitrag zur Senkung der Jugendarbeitslosigkeit leistet, oder der Senkung der Lohnnebenkosten.
Auch während der Pandemie hat die französische Regierung sehr tief in die Tasche gegriffen, um die Arbeitsplätze zu erhalten und die Wirtschaft zu unterstützen. Das Ergebnis ist eine schnelle Erholung vom covidbedingten Einbruch mit einem Wachstum von 7 Prozent im Jahr 2021, das die Pandemieverluste bereits weitgehend wieder kompensiert hat. Von Neo-Keynesianern wie Paul Krugman wird die französische Wirtschaftspolitik während der Corona-Krise als vorbildlich betrachtet. Als Folge davon ist allerdings die französische Staatsverschuldung auf ein sehr hohes Niveau gestiegen und liegt nun mit 113 Prozent des BIP auch deutlich über dem europäischen Durchschnitt. Vorderhand hat der französische Staat allerdings auch keine Schwierigkeiten, diese Schulden zu bedienen.
Während seiner ganzen Amtszeit ist Macron den Schandtitel président des riches (Präsident der Reichen) dennoch niemals losgeworden, was allerdings nur halb gerechtfertigt ist. Macron ist der Mann des en même temps (gleichzeitig), das heisst, es gab den Versuch, nicht nur zugunsten der Reichen, sondern auch zugunsten der Armen zu intervenieren. Zu den umstrittensten seiner Reformen gehörten in der Tat eine Teilabschaffung der Vermögenssteuer und eine Flatrate für die Kapitalgewinnsteuer, die massiv den Reichtumseliten zugutekamen – ohne dass sich die erhoffte Förderung ihrer Investitionsbereitschaft bisher hätte feststellen lassen.
Auch die Mittelschicht ist jedoch in den Genuss von Steuervergünstigungen gekommen, insbesondere die Abschaffung der sogenannten Wohnsteuer wirkte sich zu ihren Gunsten aus. Und auch die unteren Einkommen erfuhren durch zahlreiche Vergünstigungen Unterstützung, insbesondere nachdem die Gelbwesten-Bewegung den Präsidenten unter massiven Druck gesetzt hatte. Ein eher neoliberaler Reformimpetus der ersten beiden Amtsjahre ist aufgrund der Gegenreaktionen relativ einschneidend korrigiert worden. Für alle Einkommenskategorien hat sich die Kaufkraft deshalb insgesamt zum Besseren entwickelt.
Das heisse Eisen der Rentenreform schliesslich wurde nach heftigen Protesten und dem Ausbruch der Pandemie auf Eis gelegt. In seiner zweiten Amtszeit würde Macron diese Reform allerdings wieder angehen und das Rentenalter um drei Jahre auf 65 erhöhen wollen. Im europäischen Vergleich ist ein Rentenalter von 65 nicht unbedingt Ausdruck besonderer sozialer Härte. Im französischen Parteienspektrum situiert sich Macron mit dieser Forderung allerdings auf der Seite der wirtschaftsliberalen Rechten.
Angriffsflanke Wirtschaft
Dennoch: Marine Le Pen attackiert Macron auf der Ebene der Einkommensentwicklung – mit beachtlichem Erfolg. Die «Kaufkraft», das zeigen die Umfragen, ist mit Abstand die grösste Sorge der Franzosen; weit vor dem Russland-Ukraine-Krieg oder klassischen Themen der extremen Rechten wie der Zuwanderung und dem Islamismus. Le Pen positioniert sich in ihrer aktuellen Kampagne vornehmlich als Anwältin der kleinen Leute und verspricht Massnahmen gegen die wirtschaftliche Prekarität. Sie verspricht in allen möglichen Bereichen grosszügigste staatliche Hilfen – ohne sich mit Fragen der Finanzierbarkeit übermässig auseinanderzusetzen.
Die polarisierenden Themen wie das Verhältnis zur EU oder die Unterbindung der Zuwanderung überlässt sie derweil Eric Zemmour. Der Katalog der rechtspopulistischen bis rechtsextremen Forderungen ist zwar nicht aus ihrem Parteiprogramm verschwunden, aber ihre Kampagnenstrategie besteht darin, diese Themen nicht mehr zu bewirtschaften und sich stattdessen der Kaufkraft zu widmen.
Das strategische Ziel dahinter dürfte ein doppeltes sein. Zum einen arbeitet Marine Le Pen seit langen Jahren an der «Entdiabolisierung» des Front National (Nationale Front), den sie zu diesem Zweck inzwischen in Rassemblement National (Nationale Versammlung) umgetauft hat. Das klingt schon einmal weniger aggressiv. Le Pen geht mit der Weichspülung sogar so weit, dass sie regelmässig Filmchen ihrer Katzen ins Netz stellt. Inzwischen hat das zu einem eigenen Tiktok-Hype geführt. Je besser sie es schafft, den Leuten die Furcht vor ihrer Partei zu nehmen, desto breiter kann ihre Wählerbasis werden.
Die Themenverschiebung ergibt zum anderen jedoch auch aus inhaltlichen Gründen Sinn: Zum einen dürfte Le Pens «Blue-Collar-Populismus» sich bei Trump und seinen Angriffen auf den Freihandel inspirieren, zum anderen sich die Gelbwesten zum Vorbild nehmen. Letztere bildeten eine schwer zu fassende, ideologisch disparate Bewegung, die ursprünglich dadurch ausgelöst wurde, dass die Benzinsteuern hätten erhöht werden sollen.
Das ökonomische Gefälle erzeugt enormes politisches Spannungspotenzial im heutigen Frankreich. Obwohl Macron sich seinerseits für die Kaufkraft der Unter- und der Mittelschicht ins Zeug gelegt hat, gibt es weiterhin grossen Spielraum für einen rechtspopulistischen Angriff auf seine wirtschaftliche Bilanz. Es ist das Terrain, das Le Pen besetzen will. Die anziehende Inflation und die explodierenden Energiepreise spielen ihr jetzt perfekt in die Hände.
Die Ironie dieser Entwicklung liegt darin, dass Macron versucht hat, den Rechtspopulismus zu bannen, indem er identitätspolitisch stark nach rechts gegangen ist. Bereits mit der extrem harten Polizeirepression gegen die Gelbwesten zeigte der Präsident eine autoritäre Seite, die viele seiner ursprünglichen Unterstützerinnen verstörte. Im Nachgang zu den blutigen islamistischen Attentaten von 2020 lancierte die Regierung schliesslich ein Gesetz gegen den «Separatismus», das einen kämpferischen Laizismus festschreibt und die Religionsfreiheit weitreichenden Einschränkungen unterlegt. Der Verdacht ist naheliegend, dass hinter einer solchen Positionierung das Kalkül steht, den Rechtsradikalen den Wind aus den Segeln zu nehmen. Es ist jedoch gar nicht mehr das Politikfeld, auf dem Le Pen ihre Gewinne verzeichnet.
Der Blitzableiter
Als absoluter Segen hat sich für Le Pen die Kandidatur von Eric Zemmour erwiesen. Als Zemmour in den Ring stieg, war die allgemeine Überzeugung, er werde seine rechtspopulistische Konkurrentin beschädigen. Die Nähe ihrer Positionen werde dazu führen, dass sich die Wähler mit entsprechenden Sympathien auf zwei Kandidatinnen verteilen, die Basis von Le Pen also halbiert wird und sich deshalb auch die Chance erhöht, dass sie im ersten Wahlgang geschlagen wird, entweder von der gaullistischen Kandidatin Valérie Pécresse oder von Jean-Luc Mélenchon, dem aussichtsreichsten Kandidaten aus dem linken Lager. Danach sieht es nun gar nicht mehr aus.
Le Pen liegt in den Umfragen mit über 20 Prozent Wähleranteil auf dem zweiten Platz und hat einen soliden Vorsprung auf den drittplatzierten Mélenchon, obwohl Zemmour etwa 10 Prozent der Stimmen auf sich vereint. Er gräbt nicht nur Marine Le Pen einen Teil der Wählerschaft ab, sondern auch der traditionellen Rechten, das heisst Valérie Pécresse. Vor allem aber: Er übernimmt die Rolle des extremistischen, aggressiven Identitätspolitikers von rechts. Das macht es Le Pen viel einfacher, sich als gemässigt darzustellen.
Wie soll sie rechtsextrem sein, wenn es einen Kandidaten gibt, der ganz klar rechts von ihr steht?
Zemmour in der Rolle ihres Rivalen sorgt dafür, dass die polarisierenden Themen in der Öffentlichkeit dennoch präsent gehalten werden. In der zweiten Wahlrunde, nachdem er ausgeschieden ist, werden seine Wählerinnen dann überlaufen zu Le Pen. Und noch in anderer Hinsicht sind seine Dienste für Le Pen von grösstem Nutzen: Beide sind grosse Putin-Bewunderinnen – aber nur Zemmour wird elektoral dafür bestraft.
Le Pen hat 2014 bei einer russischen Bank einen Kredit von 9,1 Millionen Euro aufgenommen, der immer noch in Rückzahlung ist. In einer Broschüre für den aktuellen Wahlkampf liess sie eine Fotografie abdrucken, die sie gemeinsam mit Wladimir Putin zeigt. Das Foto war 2017 entstanden, als sie vier Wochen vor den damaligen Präsidentschaftswahlen von einem hilfsbereiten Kremlherrscher empfangen wurde. Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine hat Le Pen nun beschlossen, die 1,2 Millionen Exemplare der gedruckten Broschüre unbenutzt wieder einstampfen zu lassen. Das Wahlkampfteam von Le Pen hat diese Meldung jedoch inzwischen dementiert: Man rücke nicht von den bisherigen aussenpolitischen Positionen ab, auch wenn Putin eine «rote Linie» überschritten habe.
Zemmour wiederum ist regelmässig mit begeisterten Äusserungen für sein politisches Vorbild hervorgetreten und forderte noch kürzlich einen «französischen Putin». Jetzt bezahlt er einen hohen Preis für seine Bewunderung: Seit dem Russland-Ukraine-Krieg hat er etwa ein Drittel seiner Sympathisanten verloren. Le Pen hingegen hatte bei Kriegsausbruch zwar eine kurze Baisse, nun aber entwickelt sich ihre Popularität wieder positiv. Auch was den Putin-Fallout anbelangt, spielt Zemmour für Le Pen – in den Worten eines ihrer Kampagnenmanager – den «Blitzableiter».
Option Mélenchon
Warum hat dem die Linke wenig entgegenzusetzen? Zum einen dürfte es daran liegen, dass die französische Gesellschaft insgesamt in einer Rechtsdrift ist.
Macron selber hat sich in einigen gesellschaftspolitischen Themen stark rechts positioniert. Die traditionelle Rechte und die rechtsextremen Parteien kommen laut Prognosen beim ersten Wahlgang gemeinsam auf rund 40 Prozent der Stimmen. Die Grünen, Linken und Linksextremen erreichen demgegenüber bloss noch 30 Prozent. Anne Hidalgo, die offizielle Kandidatin des Parti Socialiste, liegt momentan bei lachhaften 2,5 Prozent der Stimmen – eine Demütigung der grossen linken Traditionspartei, die bis vor kurzem unvorstellbar schien.
Allerdings wäre es denkbar gewesen, dass wie in vielen anderen Ländern auch in erster Linie die Grünen vom Tief der Sozialisten profitieren – umso mehr, als die Ökobilanz von Macrons Amtszeit sehr durchzogen ist. Zwar trat der Amtsinhaber mit dem Anspruch an, eine ambitionierte Klimapolitik zu verfolgen und der Ökologie eine zentrale Rolle zuzuweisen. Das passte auch zu seinem technologieaffinen, progressiven Image.
Der bekannte TV-Moderator und Vorzeige-Ökologe Nicolas Hulot, den Macron für die erste Regierungsbildung anwerben konnte, trat allerdings nach 16 Monaten enttäuscht zurück. «Ich habe keine Lust mehr, mich selber zu belügen», gab er bei seinem Abschied zu Protokoll.
Die Gelbwesten, die eine massive Ablehnung von Öko-Steuererhöhungen vorführten, auf der einen Seite – auf der anderen Seite das alles dominierende Bemühen, Frankreichs industrielle Konkurrenzfähigkeit zu verbessern: Der Handlungsspielraum oder Handlungswille der Macron-Regierung war stark eingeschränkt. Die Grünen wiederum legten in den französischen Grossstädten in den letzten Jahren zwar nicht weniger deutlich zu als in anderen Ländern. Sie sind aber noch immer eine politische Kraft mit relativ bescheidener Reichweite. Ihr Spitzenkandidat Yannick Jadot liegt aktuell bei 4,5 Prozent der Stimmen.
Der Profiteur des Niedergangs des Parti Socialiste ist stattdessen eindeutig Jean-Luc Mélenchon, der weit links von den Sozialisten steht und – mit einer ähnlichen Strategie wie Marine Le Pen – die sozialen Spannungen für sich nutzen kann. Auch Mélenchon gibt sich in diesem Wahlkampf gemässigter als vor fünf Jahren. Er hat die klassenkämpferische Rhetorik zurückgefahren, stellt institutionelle Reformen wie die Beschränkung der Macht des Staatspräsidenten und die Einführung eines Initiativrechts an die erste Stelle seiner Wahlplattform und räumt der ökologischen Transformation einen wichtigen Platz ein.
Wer einem linken Kandidaten zur Wahl verhelfen will, muss heute auf Mélenchon setzen, da er immerhin auf über 16 Prozent kommt in den aktuellen Prognosen, auf dem dritten Platz liegt und als einziger linker Kandidat theoretisch noch die Chance hat, Le Pen einzuholen und in den zweiten Wahlgang zu kommen. Auch im Falle Mélenchons, der seit Anfang März relativ konstant sechs Punkte hinter seiner rechten Konkurrentin liegt, wäre es allerdings eine Riesenüberraschung.
Traditionellerweise waren es die Sozialisten, die linksextreme Wählerinnen für sich zu gewinnen versuchten, indem sie auf dem vote utile (der Stimme, die etwas nützt) bestanden. Diesmal, wie schon 2017, ist es umgekehrt. Linke, die nicht mit Macron marschieren wollen, haben nur noch die Option Mélenchon.
Für ein grösseres Segment der Linken dürfte Mélenchon dennoch unwählbar bleiben. Nicht nur weil der Volkstribun zwar ein exzellenter Redner ist, aber mit dem Image kämpft, eine herrische Persönlichkeit zu haben. Besonders aussenpolitisch trägt er einen altlinken Ballast mit sich herum, der sich sowohl in massiver EU-Skepsis als auch in jahrzehntelanger scharfer US- und Nato-Kritik äussert – und Mélenchon, der nicht als Russland-Freund, sondern als «Blockfreier» betrachtet werden will, mindestens in eine gewisse Nähe zu den Putin-Verstehern rückt. Die russische Intervention in Syrien beispielsweise hat der Anführer der France insoumise gutgeheissen, seine Stellungnahmen zum Russland-Ukraine-Krieg verurteilen zwar Russland, zeichnen sich aber ebenfalls durch blockfreie «Unparteilichkeit» aus.
Für zahlreiche Wähler bleiben solche aussenpolitischen Positionierungen eine unüberwindbare Hürde. Im heutigen Kontext mehr denn je.
Der Kulturkampf
Es dürfte mit grosser Wahrscheinlichkeit also erneut zum Duell Macron gegen Le Pen kommen – zur Wiederholung des französischen Albtraums. Die Anführerin der extremen Rechten ist erfolgreich mit einer populistischen Kaufkraft-Kampagne, und dies, obwohl man Macron nicht vorwerfen kann, er habe zur Stützung der niederen Einkommen in den letzten Jahren nichts geleistet. Wie lässt sich das erklären?
Ein erster Grund dürfte der Kulturkampf sein, in dem Macron sehr viel Angriffsfläche bietet. Er ist eine wandelnde Verkörperung des Super-Meritokraten, einer superausgebildeten, superprivilegierten, superglobalisierten Elite. Er ist das perfekte populistische Hassobjekt. Während der Gelbwesten-Demonstrationen wurde sein Pappmaché-Kopf auf Piken durch die Strassen von Paris getragen.
Der Präsident tut im Übrigen das Seine, um das schlechte Image zu nähren. Er ist bekannt für seine «kleinen Sätze», die hängen geblieben sind und in der Tat nicht von Empathiefähigkeit zeugen. So sagte er etwa 2018 zu einem Arbeitslosen, der sich über seine schwierige Lage beklagte: «Ich gehe einfach über die Strasse und finde Ihnen sofort einen Job», eine Aussage, die ihn bis heute verfolgt. Im Januar dieses Jahres liess er sich dazu hinreissen, öffentlich zu erklären, die der Wissenschaft nicht zugänglichen Impfgegner sollten ihn ganz einfach mal am A…
Schwäche oder Begriffsstutzigkeit versetzen den Überflieger in rasende Ungeduld. Populärer macht ihn das nicht.
Ein vor drei Wochen publizierter Bericht des französischen Senats hat nun grosse Aufmerksamkeit erregt und könnte Macron ernsthaft beschädigen, weil er ihn genau an seinem wunden Punkt trifft: Die Untersuchung denunziert die zunehmende Häufigkeit der Indienstnahme privater Consultingfirmen durch staatliche Behörden. Der daraus erwachsende Skandal ist «McKinsey-Gate» getauft worden, weil sich herausstellte, dass insbesondere die französische Tochter der amerikanischen Unternehmensberatung immer wieder Aufträge angenommen hat von den Behörden.
An sich ist daran nichts Ungewöhnliches, wenn staatliche Organe sich extern beraten lassen. Die Mehrheit der Mandate wurde ohnehin im relativ unverdächtigen Bereich der digitalen Infrastruktur erteilt. Dass sich französische Ministerien oder Regionalbehörden von privaten Firmen beraten lassen, ist auch in keiner Weise eine neue Praxis, sondern war schon unter Macrons Amtsvorgängern gang und gäbe.
Aber die McKinsey-Mandate sind dennoch skandalträchtig, weil die Revisions- und Consultingfirma zwar hohe Umsätze mit öffentlichen Aufträgen erzielt in Frankreich, seit zehn Jahren aber keine Unternehmenssteuern mehr bezahlt haben soll – schliesslich verfügt McKinsey über höchste Expertise in der Steueroptimierung. Bisher gibt es keine Hinweise auf illegale Praktiken, aber dieses Missverhältnis sorgt nachvollziehbarerweise für Empörung.
Der Kern des Skandals liegt aber woanders: McKinsey-Gate beglaubigt die Vorstellung, Frankreich werde regiert von einer globalisierten Elite, welche die kleinen Leute verachtet. Eine gesellschaftliche Elite, die in Frankreich traditionellerweise aus Spitzenbeamten der haute fonction publique besteht – und jetzt also auch noch Vertreter privater amerikanischer Consultingfirmen einschliessen soll. Die Zeitungen sind voller Artikel über persönliche Netzwerke, die Pariser Ministerien und McKinsey-Manager verbinden sollen. Der Verdacht von Beziehungskorruption hängt bleiern über dieser Story.
McKinsey-Gate ist deshalb das perfekte Skandalisierungsnarrativ für die Eliten- und Globalisierungskritik von Marine Le Pen – auch wenn bisher in keinem einzigen Fall bewiesen worden ist, dass irgendetwas nicht mit rechten Dingen zu- und hergegangen wäre. Die Geschichte dürfte dennoch dazu beigetragen haben, dass die Herausforderin den Abstand zum Präsidenten in den letzten Wochen verringern konnte.
Die einzige Alternative
Viel wichtiger als der vermeintliche Kulturkampf zwischen der Pariser Elite und der übrigen Bevölkerung ist für Frankreichs politische Blockade jedoch ein grundsätzlicherer Faktor: der erdrückende Erfolg von Macrons Revolution der Mitte. Es ist dem Präsidenten und seiner Bewegung La République en Marche gelungen, sowohl die sozialliberale Linke als auch die gemässigte Rechte an sich zu binden. Spitzenpolitiker aus beiden Lagern haben zu Macron gewechselt. Auch an seinem Grossmeeting im Rugbystadion standen ehemalige Premierminister von Links und Rechts Schulter an Schulter in der ersten Reihe.
In gewisser Weise ist die Macron-Regierung die französische Variante einer Grossen Koalition: Mit Unterstützung aus beiden politischen Grossfamilien wird eine Mehrheit gezimmert und ein eingemittetes Reformprogramm verfolgt. Deutschland wurde erfolgreich von einer langjährigen Grossen Koalition regiert. Weshalb sollte die Macron-Regierung in Frankreich nicht genau dieselbe Rolle spielen?
Der Unterschied liegt darin, dass Macrons «Revolution» die Traditionsparteien schwer beschädigt hat. Sie sind in diesem Präsidentschaftswahlkampf nicht einmal mehr imstande, eine glaubwürdige Alternative zum demokratischen Block der Mitte zu präsentieren. Damit war nicht unbedingt zu rechnen, aber es ist das faktische Resultat von fünf Jahren Macron-Herrschaft.
Es gibt in Frankreich momentan quasi nur noch eine gemässigte, regierungsfähige Partei: La République en Marche. Und es gibt voraussichtlich zu dieser Regierungsmehrheit nur noch eine glaubwürdige Alternative: den Rechtsextremismus. Ein übermächtiges Zentrum, das den Wechsel zwischen linken und rechten Volksparteien verunmöglicht, wird zu einer strukturellen Bedrohung für die demokratischen Institutionen. Es legitimiert letztlich die einzige Alternative, die bleibt: die Extreme.
Der kommende Urnengang ist auch für Europa eine Schicksalswahl. Man stelle sich vor, was es für die Europäische Union bedeuten würde, wenn wider Erwarten Marine Le Pen das Präsidentenamt eroberte: ein westeuropäischer Orbán, im besten Fall. Eine Putin-Bewunderin an der Spitze einer grossen europäischen Militärmacht. Macron hat mit seinem strategischen en même temps erdrückende Erfolge gefeiert. Doch genau diese Erfolge führen dazu, dass die französische Demokratie weiterhin gefährdet ist.