Frühling
Die Sonne treibt in Kiew die Menschen auf die Strasse, auch Fotograf Lesha ist unterwegs. Ausserdem rufen die Grosseltern aus Luhansk an. Es geht ihnen gut. Aber ob Lesha sie jemals wiedersehen wird?
Von Lesha Berezovskiy (Text und Bilder) und Annette Keller (Bildredaktion und Übersetzung), 24.03.2022
Uns geht es so weit gut. In den letzten Tagen war die Stimmung eigentlich recht optimistisch. Vermutlich haben wir uns nach drei Wochen auch einfach der neuen Realität angepasst. Wir nehmen die Sirenen und die Explosionen immer noch wahr – aber wir erschrecken nicht mehr jedes Mal, wenn wir sie hören. Heute zum Beispiel waren wir den ganzen Tag unterwegs, im Hintergrund stets Artilleriefeuer.
Wir bewegen uns vor allem in unserem Quartier, haben wieder ein paar ältere Nachbarinnen besucht und ihnen ihre Medikamente gebracht. Das Wetter ist gerade sehr schön. An meinen Pflanzen spriessen fleissig neue Blätter. Jeden Tag sehen wir mehr Menschen auf den Strassen. Der Frühling kommt, trotz allem. Wie glücklich würde es uns machen, ihn mit unseren Lieben geniessen zu können.
Die meisten meiner Freunde haben sich in den Westen der Ukraine zurückgezogen. Sie vermissen Kiew, getrauen sich aber nicht zurückzukehren. Mir scheint, dass die Angst mit der Distanz wächst: Je weiter weg die Menschen sich befinden, umso panischer sind sie.
Kiew hat sich in den letzten Wochen sehr verändert. Überall sehe ich Details, Häuser und Szenen, die ich festhalten möchte. Verlassene Autos, Barrikaden oder beeindruckende Gebäude, die ich vorher nicht wahrgenommen habe. Leider ist es riskant, nur schon mit dem Handy Bilder zu machen. Für mich als Fotograf ist es ungewohnt, derart eingeschränkt zu sein.
Und für mich als Fotograf mit Papieren aus Luhansk ist es vielleicht sogar gefährlich. Die Polizei ist sehr präsent, und auch die Verteidigungskräfte kontrollieren die Passanten. Bislang hatten wir Glück: Zweimal wurden wir angehalten, dabei hatten wir es mit vernünftigen und gut ausgebildeten Beamten zu tun. Aber es sind wohl nicht alle so, und beim Anblick eines russischen Dokuments werden schnell voreilige Schlüsse oder gar Konsequenzen gezogen. Ich habe von jemandem gehört, der wegen eines russischen Passes Ärger bekommen hat. Dieses Risiko besteht also und nimmt wohl eher zu, da im Moment wieder vermehrt von Saboteuren berichtet wird.
«Es geht uns gut, und wir haben genug zu essen», sagt mein Grossvater, als es ihm gelingt, mich anzurufen: «Man lässt uns bis jetzt in Ruhe.» In der zweiten Kriegswoche wurde das Dorf im Bezirk Luhansk, wo meine Grosseltern wohnen und wo auch ich herkomme, von Russland besetzt. Vor ein paar Tagen wurde das Mobilfunknetz abgeschaltet. Ukrainische SIM-Karten funktionieren nicht mehr, und der Kontakt zu meinen Grosseltern brach damit ab.
Ich bin sehr erleichtert, als ich seine Stimme höre. Er ruft mich vom Festnetz seines Nachbars an und hält sich deshalb kurz. «Wie geht es dir und deiner Schwester?», will er noch wissen und weist unser Angebot zurück, Geld zu überweisen: Die Automaten funktionieren nicht. Wir hängen auf, und es macht mich traurig, nicht zu wissen, wann ich wieder von ihm hören werde oder ob wir uns jemals wiedersehen.
Meine Schwester arbeitete bis Ende 2021 als Violinistin am Orchester in Charkiw, dort wohnt sie normalerweise auch. Für ein befristetes Engagement hat sie im Dezember Charkiw verlassen und befand sich im Ausland, als der Krieg losging. Zum Glück! Aber jetzt läuft der Vertrag aus. Abgesehen davon, dass sie im Moment natürlich nicht zurückkehren will oder kann, weiss sie auch nicht, ob sie noch ein Zuhause hat. Sie macht sich Sorgen, auch bei ihr scheinen sie mit der Distanz grösser zu werden. Mit der Hilfe von Freunden und Bekannten ist es mir gelungen, ihr ein paar Möglichkeiten aufzuzeigen. Ich hoffe, eine davon klappt und sie kann irgendwo in Europa arbeiten, bis dieser Albtraum vorbei ist.