Beseelt von der Idee der russischen Grösse, von links: Sergei Naryschkin, Wladimir Putin, Sergei Schoigu und Nikolai Patruschew.

Vergessen Sie die Männer mit den Jachten – das ist die echte russische Elite

Während sich der Westen auf die Oligarchen konzentriert, hat in Wahrheit eine weitaus kleinere Gruppe die Macht in Moskau im Griff. Wer sind die Silowiki – und was treibt sie an?

Von Anatol Lieven (Text), Tobias Haberkorn (Übersetzung) und Agnès Ricart (Illustration), 22.03.2022

Synthetische Stimme
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Wenn ich über Wladimir Putins Macht­zirkel nachdenke, kommt mir ein Satz des Ökonomen John Maynard Keynes über Georges Clemenceau in den Sinn, den französischen Minister­präsidenten am Ende des Ersten Welt­kriegs: Ein vollkommen desillusionierter Mann sei dieser Clemenceau gewesen, meinte Keynes, «bis auf eine Illusion: Frankreich».

Etwas Ähnliches könnte man über die russischen Macht­eliten sagen. Anders lässt sich die unfassbar riskante Wette, die sie mit der Invasion der Ukraine eingegangen sind, kaum erklären. Man kann diese Eliten als rücksichtslos, gierig und zynisch beschreiben. An eine Idee aber glauben sie völlig frei von Zynismus: die Idee der russischen Grösse.

Zum Autor und zu diesem Beitrag

Der Brite Anatol Lieven ist Senior Research Fellow für Russland am Quincy Institute for Responsible Statecraft in Washington D.C. und Autor des Buches «Ukraine and Russia: A Fraternal Rivalry». Dieser Beitrag erschien am 11. März unter dem Titel «Inside Putin’s Circle — the Real Russian Elite» in der «Financial Times».

Schwerreiche Russen, auch solche, die überwiegend oder ganz im Westen leben, werden in westlichen Medien meist pauschal als Oligarchen bezeichnet. Der Begriff kam in den Neunziger­jahren auf, aber seine Verwendung ist oft irre­führend. Unter Boris Jelzin war es tatsächlich so, dass eine kleine Gruppe wohlhabender Geschäfts­männer mithilfe einiger hoher Staats­beamter das Land beherrschte und plünderte. Doch diese Gruppe hat Putin in seinen ersten Regierungs­jahren zerschlagen.

Drei der sieben mächtigsten Oligarchen haben versucht, Wladimir Putin politisch heraus­zufordern. Boris Beresowski und Wladimir Gussinski wurden ins Exil gedrängt, Michail Chodorkowski musste ins Gefängnis und verliess danach das Land. Die anderen vier, und viele weniger wichtige Figuren, konnten ihre Geschäfte behalten, mussten Putin jedoch im Gegenzug ihre bedingungs­lose Gefolgschaft zusichern. Als Putin kurz nach der Invasion der Ukraine ein Video­meeting mit russischen Wirtschafts­führern abhielt, war keine Sekunde lang unklar, wer die Befehle erteilt.

Die Macht der Oligarchen war durch den KGB gebrochen worden, genauer gesagt durch die verschiedenen Nachfolge­organisationen, die sich nach seinem Verschwinden gebildet hatten. Putin selbst war aus dem KGB gekommen, und einen KGB-nahen staatlichen Hinter­grund hat auch eine Mehrheit der heutigen Regierungs­elite (mit Ausnahme der militärischen Führung).

Unter Putin ist diese Gruppe erstaunlich stabil und homogen geblieben. Viele Mitglieder dieses Macht­zirkels sind oder waren persönlich eng mit dem Präsidenten verbunden. Unter Putins Führung haben sie sich bereichert, im Gegensatz zu früheren Oligarchen behielten sie ihr Privat­vermögen aber im Land. Sie haben an Putins Verbrechen mitgewirkt oder diese zumindest nicht verhindert. Das gilt auch für sein grösstes Verbrechen, den Überfall auf die Ukraine. Putins giftige Propaganda gegen das Nachbar­land und seine Klagen über die westliche Dekadenz haben sie mitgetragen.

Wenn es kein schnelles Friedens­abkommen gibt, wird Russland tief im Sumpf des Krieges und der wirtschaftlichen Krise versinken. Eine zentrale Frage ist nun, ob die russischen Eliten Putin eliminieren oder zum Rücktritt drängen könnten, um sich selbst und das Land vor dem Abgrund zu retten, den er aufgerissen hat. Man muss das Wesen der russischen Eliten, und besonders von Putins innerstem Zirkel, verstehen, wenn man diese Frage beantworten will.

Das Rückgrat Russlands

Um zu erklären, wie tief Russland in den Neunziger­jahren gefallen war, und auch um sich mit den Leid­tragenden dieser Zeit zu identifizieren, erzählte Wladimir Putin gelegentlich davon, wie er damals Nacht­schichten als Taxifahrer geschoben hatte, weil sein Gehalt als Oberst­leutnant des KGB nicht ausreichte. Das ist durchaus glaubwürdig. Als ich 1994 für die Londoner «Times» aus Russland und den ehemaligen Sowjet­republiken berichtete, war der Fahrer, der mich auf einer Recherche im nördlichen Kaukasus begleitete, ein ehemaliger KGB-Major. «Wir hielten uns für das Rückgrat der Sowjet­union», sagte er bitter. «Und was ist aus uns geworden … echte Tschekisten!»

«Echte Tschekisten» (nastoyashchy chekist), das war ein Ausdruck der Sowjet­propaganda. Er verwies auf die gnadenlose Disziplin, den Mut, die ideologische Stand­festigkeit und die Ehre, die als Marken­zeichen der Tscheka galten, jener sowjetischen Geheim­polizei, die noch von Lenin und seinen Gefolgs­leuten gegründet worden war. Der Ausdruck lieferte die Vorlage für unzählige sowjetische Witze. Aber es ist ziemlich sicher, dass Putin und seine Leute sich noch immer in diesem Licht sehen. Sie halten sich für das Rückgrat Russlands. Auch wenn Putin, der alles andere als ein Revolutionär ist, sich dem Sicherheits­apparat des Zaren­reiches deutlich stärker verbunden fühlen dürfte.

Der 2019 erschienene und mit Staats­mitteln geförderte Film «Union of Salvation» («Soyuz spaseniya») illustriert dieses Ethos sehr gut. Er handelt von den Dezember-Aufständen des Jahres 1825. Zum Entsetzen meiner russischen Freundinnen, denen die Glorifizierung dieser Revolte anerzogen wurde, feiert der Film nicht etwa den Mut der aufständischen «Dezembristen». Als Held erscheint vielmehr Zar Nikolaus I. mit seinen reichs­treuen Generälen und Beamten, die die Ordnung und die Macht des Staates verteidigen.

Putin und sein Zirkel mögen extrem viel Macht und Reichtum angehäuft haben. Doch im Herzen sind sie verbittert darüber, wie die Sowjet­union, Russland und ihre eigene Behörde in den Neunziger­jahren untergingen. Kaum etwas ist für die nationale und internationale Politik so gefährlich wie die Kombination von Einfluss und aufgestauten Ressentiments.

Die starken Männer

Je autokratischer Putin wurde, desto mehr wurden die realen Macht­verhältnisse – die mit den Geld­verhältnissen nicht deckungsgleich sind – durch persönlichen Zugang zu ihm bestimmt. Die Covid-Pandemie, in der sich Putin drastisch isolierte, hat diese Tendenz nochmals verstärkt. Die Zahl der Männer, die noch zu Putin durchdringen, dürfte sich unterdessen auf eine Handvoll reduziert haben.

In den ersten Jahren seiner Herrschaft war es noch möglich, Putin, der zuvor innerhalb des KGB eine nicht weiter bemerkens­werte Stellung hatte, als Primus inter Pares aufzufassen: als Kopf einer Führungs­riege von Freunden und Kollegen. Heute ist das nicht mehr so. In einer Sitzung des Nationalen Sicherheits­rats, die am Vorabend des Kriegs im Fernsehen übertragen wurde, demütigte Putin Sergei Naryschkin, den Chef seines Auslands­geheim­dienstes. Es wurde ersichtlich, dass der Autokrat nun auch die sogenannten silowiki zu seinen Lakaien degradiert hat. Silowiki heisst auf Russisch so viel wie «starke» oder «harte Männer», so werden die engsten Vertrauten Putins genannt. Ein derart abschätziges Verhalten gegenüber engen Gefolgs­leuten könnte auf Putin zurück­fallen. Er wäre nicht der erste Autokrat, dem es so ergeht.

Neben Naryschkin gehören drei weitere Männer zum innersten Macht­zirkel Putins: der Verteidigungs­minister Sergei Schoigu. Dann Nikolai Patruschew, der Chef des Nationalen Sicherheits­rats. Und schliesslich Igor Setschin, der den staatlichen Ölkonzern Rosneft leitet. Schoigu ist ein ehemaliger Minister für Katastrophen­schutz ohne eigene Militär­karriere. Patruschew leitete vor seiner jetzigen Rolle den Inland­geheimdienst. Und Setschin war ein von Putin ernannter stellvertretender Premier­minister. Sollte es daneben im innersten Kern jemals Wirtschafts­experten mit «patriotisch-liberalen» Ansichten gegeben haben, dann wurden sie inzwischen entfernt.

Man muss die silowiki, diesen aller­engsten Kreis, von der weiteren Elite unterscheiden. Letztere setzt sich zusammen aus einer heterogenen, relativ grossen Gruppe von Unter­nehmerinnen, hohen Regierungs­beamten, Medien­figuren, wichtigen Generälen, patriotischen Intellektuellen und dem bunten Rudel von Lokal­politikerinnen, Beratern und Möglich­macherinnen, die Putins Partei «Einiges Russland» führen.

«Erlesenes verrottetes Gemüse»

In diesem erweiterten Kreis haben die Invasion der Ukraine und die Folgen davon ein spürbares Unbehagen ausgelöst. Wenig überraschend zuerst bei den Wirtschafts­führern, die mit dem Westen enge Verbindungen pflegen und die darum das Ausmass der Wirtschafts­sanktionen sofort erfassen können. Roman Abramowitsch sucht seit Kriegs­beginn nach einem Käufer für seinen Fussballclub Chelsea London – ein Zeichen, dass ihm nicht sehr wohl ist (inzwischen stockt der Verkauf, denn die britische Regierung hat sein Vermögen blockiert). Michail Fridman, einer der letzten verbliebenen Oligarchen der Neunziger, führt die von Sanktionen hart getroffene Alfa Group und hat sich für ein schnelles Kriegs­ende ausgesprochen. Genauso der Aluminium­magnat Oleg Deripaska.

Ohne ein Friedens­abkommen wird sich dieser Krieg in einen blutigen Abnutzungs­kampf verwandeln. Wenn die russische Wirtschaft einbricht, stürzt auch der russische Lebens­standard ab; man darf sich auf Unruhen und Proteste gefasst machen. Die Unter­drückung der Bevölkerung und die Ausbeutung der Wirtschaft werden radikaler werden, und das Unbehagen der Eliten wird wachsen.

Um Putin gefährlich zu werden, fehlt es dieser erweiterten Gesellschafts­elite allerdings an Institutionen. Mehr noch, es fehlt ihr an einer kollektiven Identität. Das Unterhaus des Parlaments hat sich, wie ein Freund neulich sagte, in einen «Kompost­haufen aus erlesenem verrottetem Gemüse» verwandelt. Das ist gegenüber den Abgeordneten der Duma vielleicht nicht ganz fair, denn da sitzen auch anständige Menschen. Aber es ist richtig, dass man vom Parlament keinerlei politische Führung erwarten sollte.

In jedem anderen Land der Welt wäre das Militär die Institution, die sich hinter einen Putsch stellen könnte. Doch im Zuge enormer staatlicher Investitionen wurde die Armee tiefgreifend entpolitisiert. Begonnen hat dieser Prozess in der Sowjet­union; Putin setzte ihn fort. Ausserdem will das Militär in der Ukraine einen Sieg erringen – oder zumindest ein Ergebnis, das sich als Sieg verkaufen lässt.

Trotzdem könnten Putins rabiate Säuberung der militärischen Führungs­ebene und die Inkompetenz, die sich in den ersten Tagen der Invasion gezeigt hat, den Unmut in der Truppe anheizen. Ganz besonders bei den Generälen niedrigeren Rangs. Das heisst nicht, dass die Armee sich von allein gegen Putin wenden würde. Sie würde ihn aber wahrscheinlich auch nicht retten, wenn er in Schwierigkeiten geriete.

Eine Korruptheit der besonderen Art

Der effektivste Druck auf das russische Establishment könnte ausgerechnet von dessen eigenen Kindern ausgehen. Die Eltern­generation wurde in der Sowjet­union sozialisiert und hat damals Karriere gemacht. Ihre Kinder aber haben meist im Westen studiert und leben grösstenteils noch dort. Viele sind zumindest hinter vorgehaltener Hand mit Elizaweta Peskowa einverstanden, der Tochter von Putins Presse­sprecher Dmitri Peskow, die auf Instagram gegen den Krieg protestierte (der Post verschwand dann schnell wieder). Im Hause Peskow dürfte es jedenfalls gerade interessante Tisch­gespräche geben.

Die silowiki dagegen sind mit Putin und seinem Krieg so eng verbunden, dass ein Regierungs­wechsel auch bedeuten würde, dass sie weit­gehend auf ihre Macht verzichten müssten. Vielleicht würden sie sich im Gegenzug Schutz vor Festnahme und Enteignung für ihre Familien garantieren lassen (wie es einst Boris Jelzin von Wladimir Putin bekam).

Bis zu einem regime change wäre es allerdings ein langer Weg. Man hat die «starken Männer» völlig zu Recht als korrupt beschrieben, aber ihre Korruptheit ist von einer besonderen Art. Ihre Ideologie heisst Patriotismus, und mit ihm rechtfertigen sie auch ihren immensen persönlichen Reichtum. Ein hoher Regierungs­beamter aus Sowjet­zeiten, der den Kontakt mit seinen alten Kollegen aufrecht­erhalten hatte, erzählte mir einmal bei einer Tasse Tee, wie zufrieden er und seine damaligen Kollegen mit ihrer Datsche, ihrem Farb­fernseher, den für sie reservierten Konsum­gütern aus dem Westen und dem Urlaub in Sotschi am Schwarzen Meer gewesen seien. «Es ging uns gut. Wir haben uns immer nur mit dem Rest der russischen Bevölkerung verglichen, nie mit den westlichen Eliten.»

Die silowiki würden natürlich all den westlichen Luxus schätzen, fuhr er fort, aber er sei sich nicht sicher, ob dieser kolossale Reichtum sie glücklicher mache – und ob ihnen Geld an sich wirklich wichtig sei: «Ich glaube, das Ausmass ihrer Bereicherung hat eher damit zu tun, dass sie sich als Repräsentanten des Staates begreifen und dass es eine Demütigung, ja eine Beleidigung des russischen Staates wäre, wenn sie ärmer dastünden als ein Haufen irgendwelcher Geschäfts­leute.» Früher sei es der Rang im Staats­apparat gewesen, der einem gesellschaftlichen Status verschafft habe, «heute braucht man zusätzlich noch einen Haufen Geld. Das haben die Neunziger­jahre in Russland angerichtet.»

Die «starken Männer» sehen sich als natürliche Verteidiger der öffentlichen Ordnung, das heisst einer Ordnung, die ihnen persönlich Macht und Reichtum garantiert, ihr Land aber auch vor dem Chaos bewahrt, das während der Russischen Revolution oder dem Bürger­krieg der Neunziger­jahre herrschte. In ihren Augen kam es damals nicht nur zu einem gigantischen staatlichen und wirtschaftlichen Zerfall. Es herrschte auch eine moralische, eine die Gesellschaft zersetzende Anarchie. Die Reaktion der russischen Eliten darauf ist der Art nicht unähnlich, wie amerikanische Konservative auf ihre Krise der Sechziger­jahre reagiert haben, oder deutsche Konservative auf jene der Zwanzigerjahre.

Das Amüsement findet ein jähes Ende

Deshalb geniessen Putin und die silowiki die Sympathie vieler Russinnen. Dass ihr Staat in den Neunzigern ausgeplündert wurde, erfüllt sie mit Groll. Und sie haben nicht verwunden, wie verächtlich die liberale kulturelle Elite in Moskau und Sankt Petersburg – zumindest in ihrer Wahrnehmung – damals auf sie herabschaute.

Irgendwann in der Mitte der Neunziger­jahre wurde ich zu einem denk­würdigen Abend­essen eingeladen, das eine führende westliche Bank für westliche Investorinnen und Vertreter der russischen Hoch­finanz organisiert hatte. Zum Dessert sollte ich eine kleine Rede halten. Der Empfang fand in einem berühmten Moskauer Nacht­club statt. Als ich meine Redezeit überzog, wurde mir das nicht etwa durch einen höflichen Hinweis der Gastgeber bedeutet. Stattdessen schallte plötzlich der aufgekratzte Remix eines patriotischen Sowjet­songs aus den Laut­sprechern hinter mir, und ein Mann in einem Bären­kostüm schwenkte eine russische Militär­standarte. Hinter ihm wiederum tauchte eine Kolonne von Tänzerinnen auf, die in eine sehr suggestiv geschnittene Version der russischen National­tracht gekleidet waren.

Angesichts solcher Konkurrenz versuchte ich nicht einmal, mein Schluss­wort zu sprechen, sondern liess mich amüsiert zurück in meinen Sessel fallen. Doch dann lief es mir kalt den Rücken herunter. Ich fühlte mich an eine Szene aus dem Film «Cabaret» von 1972 erinnert, der in einem Nachtclub der Weimarer Republik kurz vor der Macht­ergreifung der Nazis spielt. Darin erklingt ein berühmter deutscher Marsch, und die Tänzerinnen vollführen vor johlendem Publikum eine parodistische Militär­parade. Ich fragte mich, ob die Rechnung für solche Spässe auch bald in Russland eintreffen würde. Und ich fürchte, dass die Ukraine und die russische Armee jetzt gerade exakt diese Rechnung bezahlen.

Eine der gravierendsten Folgen dieses Krieges wird die tiefe und dauerhafte Abkapselung Russlands vom Westen sein. Ich denke aber, dass Putin und die silowiki, im Gegensatz zur erweiterten Elite, diese Abschottung begrüssen. Sie sind tief beeindruckt vom chinesischen Modell: eine enorm dynamische Wirtschaft, eine disziplinierte Bevölkerung und eine rasch wachsende militärische Super­macht, die von einem Erbregime mit eiserner Faust geführt wird. Die chinesische Staats­elite ist schwer­reich und zugleich tief patriotisch. Und sie sieht China als eigenständige, überlegene Zivilisation.

Lauter Feinde im Westen

Es könnte sein, dass Putins Zirkel sich geradezu wünscht, vom Westen in die Arme Chinas getrieben zu werden, selbst wenn die Gefahr besteht, zu einem Vasallen Pekings zu werden. Und natürlich hofft die russische Führung, dass der Krieg die patriotischen Gefühle zu Hause und damit die eigene Herrschaft festigen wird. Das soll genügen, um die immer härtere Unter­drückung der eigenen Bevölkerung zu rechtfertigen. Diese Repression ist längst im Gang. Die letzten unabhängigen Medien sind geschlossen worden, und ein Gesetz, das Kritik am Krieg mit Hochverrat gleichstellt, ist bereits verabschiedet.

Aus historischen und kulturellen, beruflichen und persönlichen Gründen haben sich die silowiki und die erweiterte russische Führung voll und ganz der Idee russischer Grösse verschrieben. In einer multipolaren Welt wollen sie Russland als Grossmacht sehen. Wer daran nicht glaubt, der gehört nicht zum russischen Establishment – genauso wie man nicht der Führungs­riege amerikanischer Aussen- und Sicherheits­politik angehören kann, wenn man die globale Vormacht­stellung der USA infrage stellt.

Die Rolle der Ukraine innerhalb dieser russischen Doktrin hat der frühere US-Sicherheits­berater Zbigniew Brzesiński auf den Punkt gebracht: «Ohne die Ukraine hört Russland auf, ein eurasisches Reich zu sein.» Dieser Ansicht ist auch das russische Establishment. Und seit nunmehr fünfzehn Jahren ist es davon überzeugt, dass Amerika Russland erniedrigen und in eine dritt­klassige, unterwürfige Macht degradieren will. Vor einigen Jahren gelangten dieselben Leute zudem zum Schluss, dass sich auch Frankreich und Deutschland niemals gegen diesen Plan der USA stellen würden. «Wenn wir nach Westen schauen, sehen wir lauter Feinde», sagte mir ein Vertreter des Establishments im Jahr 2019.

Die russische Führung sieht in der Förderung des ukrainischen Nationalismus ein Schlüssel­element von Washingtons antirussischer Strategie. Auch gemässigte und vernünftige Vertreterinnen des Establishments grummeln vor Wut, wenn ich ihnen auch nur andeute, es könnte für Russland vielleicht sogar von Vorteil sein, die Ukraine loszulassen. Um einen solchen Ausgang zu verhindern, scheinen diese Leute bereit, einen langen, erbitterten Kampf zu führen. Auch wenn er für sie und das Regime, dessen Teil sie sind, extrem kost­spielig ist – und extrem gefährlich.