Klartext braucht nicht zwingend Worte
Lautstarker Einspruch in den russischen Fernsehnachrichten, Verhaftung wegen eines weissen Plakats: Die Proteste in Russland sind vielfältiger, kreativer und vernehmbarer geworden. Ist das Anlass zu ein wenig Hoffnung?
Von Daniel Graf, 18.03.2022
1. Schwarz auf Weiss
Es waren nur ein paar Sekunden, aber sie genügten, um die russische Journalistin Marina Owsjannikowa zu einer Ikone des Protestes gegen Putins Angriffskrieg zu machen.
Mitten in den live gesendeten Abendnachrichten des staatlichen Fernsehsenders Perwy kanal (Kanal Eins) übertönte Owsjannikowa die Sprecherin mit «Stoppt den Krieg»-Rufen und hielt ein handgeschriebenes Plakat in die Kamera, auf dem die Zuschauer in grossen Lettern einen Appell lesen konnten, den Krieg zu beenden. Dazu die Sätze: «Glauben Sie der Propaganda nicht», «hier werden Sie belogen». Darüber auf Englisch die Headline «No War» und als Schlusszeile, wie zur Signatur: «Russians against War».
Es war die direktestmögliche Botschaft, mit der Marina Owsjannikowa – eine Mitarbeiterin des Senders, die selbst jahrelang an dessen Nachrichtenmanipulation mitgewirkt hatte – die Bevölkerung zum Protest aufrief und die eigene Fernsehanstalt als Propagandainstrument entlarvte. Im Zentrum einer putintreuen Desinformationsmaschinerie machte sie in aller Klarheit und vor einem grösstmöglichen Publikum zentrale Wahrheiten über Putins Aggressionskrieg sichtbar, Schwarz auf Weiss: Klartext inmitten systematischer Vertuschung und Verschleierung. Und dies nur wenige Tage nachdem weitere Repressionsgesetze gegen Medien und Öffentlichkeit erlassen worden waren – bis zu 15 Jahre Haft drohen Owsjannikowa. In einem Schnellverfahren ist sie zunächst wegen eines zuvor veröffentlichten Protestvideos auf Social Media zu einer Geldstrafe von 30’000 Rubel (etwa 270 Franken) verurteilt worden.
Eine unmissverständliche humanitäre Botschaft und das Eingehen eines immensen persönlichen Risikos: Das ist die Kombination, die Marina Owsjannikowa nun zu einer weltweit verehrten Heldin macht. Damit geht die Botschaft ihrer Geschichte weit über die Inhalte ihres Plakats hinaus.
In einer Zeit, in der das Verständnis von Heldentum urplötzlich wieder mit archaisch-virilen Bildern von militärischer Stärke einhergeht, erinnert Owsjannikowas Aktion an eine andere Auffassung von Heldenmut: gewaltfrei, doch subversiv und mit der Kraft moralischer Klarheit. Dieses Verständnis von «heroisch» hat mit einem Festhalten an der Unterscheidung von Wahrheit und Lüge zu tun, mit einer ethischen Selbstverpflichtung unter höchstem persönlichem Einsatz.
Klartext, Schwarz auf Weiss: Das ist die eine Form des Einspruchs.
Doch es gibt auch das komplementäre Gegenstück dazu: wortloser, performativer Protest, der genauso sprechend sein kann.
2. Weiss auf Weiss
Niemand in Russland hat das zuletzt eindrücklicher vor Augen geführt als die junge Frau, die kürzlich in Nischni Nowgorod verhaftet wurde – weil sie ein weisses, leeres Plakat hochhielt.
Ob den russischen Polizisten, die die Frau abführten, klar ist, dass erst sie die komplexe Botschaft dieser wortlosen Schrift komplettierten? Dass sie ungewollt Hauptrollen in einer Farce übernahmen, die sich keine Theaterregisseurin hätte treffender ausdenken können und die ganz real war?
Besser als mit dieser unbeschriebenen, leeren Fläche lässt sich die herrschende Willkür in Russland nicht veranschaulichen. Was das Plakat der jungen Frau wortlos sagte, war: Es ist völlig egal, was da steht, ihr nehmt uns ja sowieso fest. Es geht überhaupt nicht um manifeste Inhalte, um Positionen oder Argumente; es sind die Meinungsfreiheit, die öffentliche Debatte und der Anspruch auf Wahrheit selbst, die ihr bekämpft und unterdrückt.
In Nizhny Novgorod, Russia, a brilliant, beautiful and brave protest.
This woman holds up a *completely blank* sign, and is still taken away by police.
Shero. pbs.twimg.com/ext_tw_video_thumb/1502729795695747080/pu/img/hxI2Eh4cxWa8WEed.jpg
Doch womöglich geht die Beredtheit des weissen Plakates noch weit darüber hinaus. Was, wenn die leere Fläche sagte: Die Polizisten haben schon richtig verstanden – ihr alle habt es verstanden. Was, wenn dieses weisse Plakat, adressiert an die russische Öffentlichkeit, die stärkste Ansage überhaupt formulierte: Ihr könnt dieses Plakat lesen. Ihr wisst auch ohne Worte, was da stehen könnte, sollte, müsste. Denn wir wissen doch alle, was gerade vor sich geht.
Wenn das die Botschaft dieses Plakates wäre, würde es unausgesprochen sagen: Lasst euch selbst die Lügen nicht durchgehen.
1969 hat Ernst Jandl ein Gedicht mit dem Namen «eine fahne für österreich» geschrieben, das zu dem blanken Plakat bestens gepasst hätte:
rot
ich weiss
rot
Das Gedicht ist eine Abrechnung mit den Verdrängungstendenzen im Österreich der Nachkriegszeit und dem lange gepflegten Opfermythos, der verhindern sollte, die eigene ideologische Verblendung und die eigenen nazistischen Verbrechen zu thematisieren. Indem Jandl die Farbe Weiss mit dem Akt des Wissens überblendet, vollzieht er demonstrativ eine «Fahnenkorrektur»: Gegen die Tendenzen zur Weisswaschung und zu neonationalistischer Selbstgerechtigkeit schreibt Jandl seinem Land das Wissen um die eigene Geschichte auf die Fahne. Eine legitime Bezugnahme auf die eigene Nation, heisst das, kann, wenn überhaupt, nur auf Basis eines kritischen Geschichtsbewusstseins erfolgen.
Jandls Wortspiel von «weiss» und «wissen» funktioniert natürlich nur in der deutschen Sprache. Aber die Grundidee, die er damit performativ umsetzt, ist universell: Bürgerin eines Landes zu sein, bedeutet auch die Verantwortung, den alten und neuen Lügen, der Geschichtsfälschung und ihrer Instrumentalisierung für neues Unrecht entgegenzutreten.
Die Aktion von Marina Owsjannikowa und das weisse Plakat in Nischni Nowgorod bilden aktuell in Russland die beiden Pole zwischen nonverbalem Protest und Klartext. Je auf ihre Weise insistieren sie aber beide auf einem Wissen, aus dem sich moralische Appelle ergeben. Mehr noch: Die Protestierenden sorgen selbst dafür, dass dieses Wissen unausweichlicher wird. Sie produzieren genau die Bilder, die das Wegschauen und Leugnen schwieriger machen, und sie setzen der Propaganda die Kraft der viralen Verbreitung dieses Protests entgegen.
Owsjannikowa hat mit ihrer Aktion in den Nachrichten den Einspruch genau dort platziert, wo die Desinformation der russischen Bevölkerung stattfindet. Man muss sich deshalb keine Illusionen machen: Es wird in solchen Medien bei diesem winzigen Zeitfenster für einen kritischen Einspruch bleiben. Aber die Bilder von der Aktion werden sich ebenso wenig dauerhaft unterdrücken lassen wie das dazugehörige Social-Media-Video.
So geht es bei dieser Art des Protests auch darum, Bilder zu schaffen, die über Kanäle abseits der staatlich kontrollierten Medien zirkulieren. Ganz im Sinne des weissen Plakats, dessen Bedeutung entschlüsselt werden kann, weil das Vorwissen dazu längst vorhanden ist, können womöglich auch diese Videos den Menschen in Russland in Erinnerung rufen, was ihnen – flächendeckende Propaganda hin oder her – vielleicht doch nicht ganz unbekannt ist.
Die Botschaft all dieser Proteste lautet: Es ist möglich. Für jede einzelne mutige Person, die dem Regime trotz existenzieller Bedrohung entgegentritt, ist das Risiko unvorstellbar gross. Doch dadurch, dass es Menschen gibt, die trotz allem die möglichen Folgen in Kauf nehmen, wird unleugbar: Eine Zwangsläufigkeit für russische Bürgerinnen und Bürger, diesen Krieg zu akzeptieren oder gar gutzuheissen, existiert nicht.
Das mag fürs Erste angesichts der tatsächlichen Machtverhältnisse nach sehr wenig klingen. Aber womöglich liegt darin eine Kraft. Und es ist der persönliche Gewissensentscheid, an den auch der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski appelliert, wenn er den russischen Soldaten eindringlich sagt: Wir wissen, dass ihr Angst habt; wir wissen, dass ihr belogen worden seid. Aber ihr habt noch eine Chance, eure moralische Integrität zu wahren und euer Leben zu retten, indem ihr euch diesem durch nichts zu rechtfertigenden Krieg verweigert.
3. Postskriptum
Das Englisch auf dem Plakat von Marina Owsjannikowa zeigt es an: Ihre Botschaft richtet sich auch an den Westen.
Doch gilt noch in ganz anderer Weise, dass diese Protestaktionen von uns ebenfalls eine Reaktion erfordern – einschliesslich der kritischen Hinterfragung auch jener Botschaften, die uns gefallen. Die zuletzt einsetzenden Diskussionen um die Frage, wie glaubwürdig Owsjannikowa ist, haben vor diesem Hintergrund eine gewisse Berechtigung, was allerdings wilde Spekulationen und Unterstellungen nicht rechtfertigt.
Angemessener wäre es vielmehr, noch einmal unser Bild von heroischen Figuren zu hinterfragen. Womöglich zeigt sich am Beispiel Owsjannikowas, die selbst jahrelang Teil jenes Systems war, das sie in ihrer Protestaktion nun so fulminant kritisiert hat, dass Heldinnen sehr viel ambivalenter sein können als die hollywoodhaften Idealbilder, die eher an Fantasiewesen als an Menschen erinnern.
Zweitens: Als Appell aus den Protesten erfolgt sicher auch die Verantwortung, sie nicht zur Selbstberuhigung zu missbrauchen. Was die Oppositionellen in Russland tatsächlich erreichen können und wie schnell, ist vollkommen ungewiss. Sicher dürfte nur sein: Es wird noch sehr viele Mutige brauchen, um Putins Machtsystem ernsthaft in Schwierigkeiten zu bringen.
Und nicht zuletzt: Wir sollten die Proteste nicht verkitschen.
Dass mutige Handlungen in einer Extremsituation uns emotional zutiefst bewegen, ist ein Ausweis von Menschlichkeit. Problematisch aber wird es, wenn die eigene Emotionalität den Blick auf die moralischen und politischen Fragen verstellt. Wo die eigene Rührung sich vor das Leid der anderen schiebt, da beginnt der Kitsch. Die Menschen in der Ukraine und die Mutigen in Russland aber haben mehr verdient als unsere Ergriffenheit.