Stoppt die Vorschlaghämmer!
In der Stadtplanung ist Verdichtung die Losung der Stunde. Überall wird abgerissen und neu gebaut. Jetzt rufen junge Architektinnen in Zürich zum Widerstand auf – endlich.
Von Antje Stahl (Text) und Saskja Rosset (Bilder), 14.03.2022
In Zürich-Oerlikon soll ein neues Sportzentrum entstehen, vielleicht hat der eine oder die andere ja schon von diesem Geschenk an die Bevölkerung gehört.
Auf dem Papier sieht das neue geplante Hauptgebäude, in dem es ein Hallenbad und eine Eissportanlage geben wird, auch gar nicht so schlimm aus. Filigrane Freitreppen laufen vor der Fassade in Spiralen um dicke Säulen aus Lehm, durch die das Wasser fliesst, das wohl irgendwie durch die Abwärme aus der Eisproduktion erhitzt werden soll. Auf dem Dach können Kinder neben einer besonders tollen Fotovoltaikanlage Fussball spielen, was mit Sicherheit nicht nur dafür sorgt, dass ihre Eltern (die sich am Spielfeldrand ja meistens eher langweilen) wenigstens einen schönen Ausblick auf Dächer und vielleicht sogar die Berge in der Ferne geniessen können, sondern auch niemand ein schlechtes Gewissen gegenüber der Umwelt haben muss.
In einer der Sitzungen im Zürcher Gemeinderat, in denen über das viele Geld, das so eine neue Anlage nun einmal kostet (nach jüngsten Schätzungen rund 210 Millionen Franken), gestritten und entschieden wurde, hatte ein SVP-Mitglied noch darauf hingewiesen, wie absurd es sei, «ohne Bedenken einem Megabau» zuzustimmen, «damit im Winter Wasser aufgeheizt und im Sommer Eis gekühlt werden kann. (…) Wer den Klimanotstand ernst nehmen würde, müsste (…) im Zürichsee schwimmen und in Davos Schlittschuh laufen gehen», meinte dieser Mann.
Allerdings konnten solche Polemiken bisher herzlich wenig gegen das wahnwitzig grosse Versprechen solcher neuen Gebäude setzen, in Zukunft so wenig CO2-Emissionen in die Luft zu jagen, dass das Klima überhaupt nicht mehr davon beeinträchtigt werde. Das Projekt weise eine so hervorragende CO2-Bilanz auf, betonte auf Nachfrage der Republik das Hochbauamt, dass es sogar «einen Beitrag zur Erreichung des städtischen Netto-null-Ziels leisten» könne! Aber damit nicht genug.
Die neue Anlage soll nämlich auch noch dem «Boom» des Schwimmsports Rechnung tragen. Rund die Hälfte der stetig wachsenden Bevölkerung springt offenbar ins Wasser, um sich körperlich zu betätigen, wusste ein Mitglied der Grünen in der bereits erwähnten Ratssitzung. Und für das Wasserspringen und Synchronschwimmen haben sich die Normen auch noch geändert. Das alte Hallenbad, das immerhin noch steht und fröhlich von jungen und alten Wasserratten beschwommen wird, kann nicht mehr für Wettbewerbe gebucht werden, die Becken müssten um ein paar Bahnen erweitert werden. Okay.
Vor dem Hintergrund so vieler schlagender Argumente – also Umweltschutz, höhere Nutzungskapazität und, jawohl, Wettbewerbsfähigkeit! – muss nur leider auch das gesamte alte Sportzentrum Oerlikon mitsamt seiner Eishalle, seinen Eislaufbahnen und Fussballfeldern unter freiem Himmel auf den Müll geschmissen werden. Und ja, Sie deuten den tendenziösen Ton an dieser Stelle genau richtig: Mit ihrem Widerstand gegen solche sogenannten Ersatzneubauprojekte steht die SVP weiss Gott nicht mehr alleine da.
Im Kollektiv gegen die Bürokratie
Junge, kluge und auch ziemlich coole Architektinnen gehen neuerdings in Opposition gegen die Vorschlaghammer-Mentalität einer Stadt wie Zürich, rund zwanzig Leute sind es insgesamt. Wer hätte das gedacht? Sie haben zu Zeiten des ersten Shutdowns ihr Studium an der ETH oder einer der anderen ausgezeichneten Architekturschulen des Landes zum Abschluss gebracht, sich dann aber nicht vollkommen depressiv in ihre Studentenbuden zurückgezogen oder von einem der grossen, erfolgreichen Büros verhaften lassen, um in Akkordarbeit Küchen für Luxuswohnungen zu planen.
Stattdessen vernetzten sie sich über Zoom und gründeten ein Kollektiv namens ZAS*, um den Status quo der «Auseinandersetzung mit Bestehendem» zu hinterfragen. Das mag auf Anhieb etwas schüchtern klingen. Im Detail zeigt sich jedoch schnell, dass man es mit Revoluzzern zu tun hat, die schlicht und einfach das Vokabular der Bürokratie des Bauwesens beherrschen. Und das Beste daran ist, dass sie sich auf Vorbilder berufen, die eher in die Kategorien links, grün und sogar kommunistisch passen.
ZAS ist ein Akronym für Zürcher Arbeitsgruppe für Städtebau, und eine Organisation mit diesem Namen hat es schon einmal gegeben. Zwischen 1959 und 1989 kämpfte die ursprüngliche ZAS für eine humane Stadt, die nicht von Generalunternehmen flächendeckend neu überbaut und um ihre Eigenheiten und Wahrzeichen gebracht wird. Im Zentrum ihrer ersten Projekte stand eine alte Halle am Limmatquai.
Seit Mitte des 19. Jahrhunderts war der Metzgermarkt, das Internet erinnert sich, in einem von Zürcherinnen offenbar gerne als «Kalbshaxenmoschee» bezeichneten Hallenbau mit byzantinischem Einschlag beheimatet, er lag wie ein langes Schiff an der schönen Rathausbrücke. Sobald dieses blutige Gotteshaus im Jahr 1866 eröffnet wurde, änderten sich nur leider auch schon die Hygieneregeln, und Fleischereien waren nicht länger auf den zentralen Verkaufsort angewiesen. Die Halle leerte sich peu à peu, fing auch noch an, den stetig zunehmenden Tram- und Autoverkehr zu behindern, und sollte schliesslich abgerissen werden. Die alte ZAS rief zum Protest auf, um das Denkmal vor der Zerstörung im Jahr 1962 zu bewahren. Lange Zeit trug ihr das den Ruf ein, «zu wenig revolutionär und in ihrem Aufbruch schlussendlich eher konservierend» gewesen zu sein.
Angesichts des Klimawandels haben sich die Kriterien für die Beurteilung von Gebäuden jedoch so drastisch geändert, dass ein politisches Schubladendenken nach dem Motto: Wer für den Erhalt von altem Gemäuer ist, ist ein konservativer Heimatschützer, zu den Akten gelegt werden muss.
Hand in Hand mit dem Klimaschutz
In Zürich zeigte nicht zuletzt der Protest gegen den geplanten Abriss der Maag-Hallen, wie sich auf doch recht neue Art und Weise plötzlich eine Liebe zum architektonischen Erbe mit der Sorge um den Klimawandel zusammenschliesst. Als entschieden wurde, dass die Hallen aus dem Schatten des Prime Tower verschwinden sollen, um drei neuen Gebäudeklötzen des Architekturbüros Sauerbruch Hutton aus Deutschland Platz zu machen, gründete sich ein Rettungskomitee aus Architektinnen, Anwohnern und Aktivistinnen, das in offenen Briefen und auf Internetseiten die «letzten Zeitzeugen des Industriezeitalters» zu einem «Schmelztiegel aller Farben, Formen und Kulturen» stilisierte, der zu einem «Ankerpunkt» für «sehr viele freischaffende Künstler*innen und Companien» geworden sei.
Die ausländische Presse liess keinen Zweifel daran aufkommen, dass die Ersatzneubau-Strategie des Bauherrn Swiss Prime Site «ein abschreckendes Beispiel» und «der absolute Irrsinn in Sachen Nachhaltigkeit» sei: «Im Angesicht der Klimakatastrophe sollte eigentlich klar sein: Das Niederreissen von Gebäuden ist immer die schlechteste Lösung.»
Die junge ZAS* verfolgte diesen Protest aus nächster Nähe, unterschrieb auch den einen oder anderen offenen Brief. Das Gendersternchen, um das sie das Kürzel der historischen Gruppe (die vor allem aus Männern bestand) ergänzte, unterstreicht ebenfalls, wo sie steht: Sie agiert zeitgemäss.
Zum ersten Mal traf die Republik im Spätsommer vergangenen Jahres, kurz nachdem über das Siegerprojekt für das neue Sportzentrum Oerlikon entschieden worden war, drei Mitglieder der ZAS* auf einer alten Fabriketage im Zürcher Quartier Schwamendingen – und zwar Jakob Junghanss, Lukas Ryffel und Oliver Burch. Das Automobilunternehmen Amag hat seine einstige Grossgarage vor Jahren verlassen, und die darf nun von Kreativen zwischengenutzt werden. Breite Autorampen führen durch die riesige Parkgarage in die Obergeschosse. Es gibt auch einen alten Lastenlift, der sich als Filmset für eine Eröffnungsszene über Andy Warhols Factory in New York eignen würde. Hier haben sie es sich mit alten Sofas, Seifenspendern von Aesop, Kaffeemaschinen, die bitteren Espresso ausspucken, Aschenbechern und natürlich grossen Arbeitstischen, auf denen Apple-Computer stehen, eingerichtet.
Das Gebäude ähnelt eher einer Bohrinsel als einem Kreuzfahrtschiff, aber gerade hat die ZAS* dazu eingeladen, gemeinsam mit ihnen auf dem Amag-Dampfer Urlaub zu machen und den Lärm der Autobahn, die gerade überdacht wird, als ein «ewiges Rauschen des Automeers» zu geniessen. «Wenn die Gäste der Titanic gewusst hätten, dass ihr Schiff sinken wird, wären sie sicher trotzdem zugestiegen», steht in einer Kolumne, die die ZAS* nun regelmässig für das Online-Medium «Tsüri» schreibt, um die Öffentlichkeit unter anderem davon zu überzeugen, dass selbst Autowerkstatt-Betonbunker einen ästhetischen Wert haben.
Über Geschmack muss man streiten
Es ist zwar nicht gesagt, dass Geschmacksurteile die Diskussion um Abriss oder Erhalt von Architektur in neue Bahnen lenken werden. Das Denkmal-Potenzial von einem alten Metzgermarkt oder den Maag-Hallen scheint so gut wie allen klar zu sein – und trotzdem werden sie dem Erdboden gleichgemacht. Und das Hallenbad des Sportzentrums Oerlikon hat 1979 einen internationalen Stahlpreis gewonnen, weil es unter der lustigen abgestuften Dachform und hinter der schönen Glasfassade eine so hohe «Leistungsfähigkeit» und «Wirtschaftlichkeit» garantiere. In der Glasfront sitzen sogar Luftkanäle, die eine durchatmungsfähige Stimmung verbreiten. Sobald es um die Freigabe von Geldern für Ersatzneubauten geht, spielen ästhetische Kriterien aber dennoch eine Rolle – es müssen schliesslich gute Argumente gefunden werden, weshalb der Wert des alten Gemäuers mir nichts, dir nichts durch einen Neubau ersetzt werden darf.
Auf der Fabriketage des Kreuzfahrtschiffs in Schwamendingen zeigen die Mitglieder der ZAS* auf ein Architekturmodell, das eine Reihe von Wohnungsbauten am Stadtrand in Altstetten auf die Grösse von Streichholzschachteln bringt. Wie so oft wurde ein offener Wettbewerb ausgeschrieben, über den die Stadt im Sommer 2021 eine Verdichtung für eine alte Siedlung, in diesem Fall die Siedlung Salzweg, ermitteln wollte. Die Siedlungsbauten wurden von dem Architekten Manuel Pauli in den 1960er-Jahren entworfen und befinden sich laut Stadt «bautechnisch und energetisch in einem sehr schlechten Zustand», sodass «ein Ersatzneubau einer umfassenden Instandsetzung vorgezogen» werde.
Jakob Junghanss, Lukas Ryffel und Oliver Burch schlossen sich mit zwei weiteren Mitgliedern der ZAS* – Jens Knöpfel und Tamino Kuny – kurz, um sich diese Bauaufgabe genauer anzuschauen. (In der Gruppe gibt es auch eine ganze Reihe von Leuten, die sich mit dem weiblichen Pronomen sie, she oder anderen identifizieren, nicht dass durch diese Jungs ein falscher Eindruck entsteht.) Wie alle anderen teilnehmenden Büros durften sie dann ein Modell der Umgebung abholen gehen: Die alte Siedlung, die noch steht und bewohnt wird, war darin allerdings gar nicht mehr vorhanden, das heisst, die Stelle, an der sie in Miniatur hätte auftauchen müssen, wurde wie eine Baulücke präsentiert.
Aus Sicht der ZAS* ist diese Geste symptomatisch, eine Art Reflex in Sachen Verdichtung, die nur ein Ziel hat: «Abriss, Tabula rasa, Neubau». Sie verfassten daher einen Wikipedia-Artikel, um den Platten in all den Rottönen, die Eva Pauli, die Frau des Architekten, den Gebäuden immerhin als Kunst am Bau aufgedrückt hatte, wenigstens eine kleine Würdigung im digitalen Gedächtnis zu verleihen. Als Nächstes setzten sie einen Fragebogen auf, um aus all den Schlagwörtern schlau zu werden, die immer auftauchen, wenn es um den Willen zum Abriss und Neubau geht. Was genau, wollten sie wissen, ist eigentlich eine «Quartieraufwertung», «besonders gute Gestaltung» und «neue Siedlungsidentität»?
In Zukunft nur noch 2000 Watt
Hinter so einer Frage steht natürlich die von vielen Leuten geteilte Empörung, dass eine bewohnte Siedlung wie jene am Salzweg in den Köpfen von Entscheidungsträgerinnen nur in etwa so viel zählt wie eine kaputte Kommode von Ikea. Und dass, wenn diese Entscheidungsträger dazu gezwungen werden, ihre ästhetischen und sozialen Kriterien einmal offenlegen oder überhaupt definieren zu müssen, wahrscheinlich herauskommen würde, dass der neue Mensch allein in auf Effizienz getrimmten Gebäuden, hinter glatten Wänden und dicken, schallisolierten Fenstern zu seinem Glück finden darf – nur dort, im verdichteten Wohnen, kann er schliesslich so wenig Heizungsluft wie möglich in die Atmosphäre blasen und verschwenden.
Die Schweiz hat diese Zukunftsvision ja sogar auf eine Formel, die 2000-Watt-Gesellschaft, gebracht und auch schon das ein oder andere Mal vorgeführt, in welcher gebauten Welt sie eines Tages leben soll. Allein in Zürich wurden zwischen 2004 und 2014 ganze 12’200 von 18’000 neuen Wohnungen auf Grundstücken gebaut, die von ihren Altlasten, also jenen Vorgängerbauten, befreit wurden, wie sie in einer Siedlung Salzweg oder auch auf dem Maag-Areal an der Hardbrücke noch etwas länger überleben sollten.
In einem Bericht über diese erste Phase der Verdichtung werden über 600 solcher Ersatzneubauten gefeiert, weil sie den «Wachstumsschub» der Stadt ermöglichten. Beim Durchblättern fällt einem jedoch auf, dass darin wohl auch deshalb solche Unmengen an Grafiken und Zahlen veröffentlicht werden, weil verschleiert werden soll, was für eine gesichtslose Masse aus der Summe der neuen Architektur à la quadratisch, praktisch, gut auftauchte.
Würde man all diese Neubauten auf einer Fläche zusammenstellen, ergäbe sich der schmerzliche Anblick von unzähligen Strassenzügen, ja von ganzen über Jahrhunderte gewachsenen Quartieren, die in nur zehn Jahren zertrümmert und «ersetzt» wurden.
Die Architektinnen der ZAS* müssen sich nicht auf den Werbeslogan einer Schokolade (quadratisch, praktisch, gut) berufen, um ihren Zweifel an dieser Raumplanung zum Ausdruck zu bringen. Die Behörde, die sie mit ihrem Fragebogen um Stellungnahme baten, erledigte das selber. Phrasen zu «Quartieraufwertung», «besonders guter Gestaltung» oder «neuer Siedlungsidentität» werden mit weiteren Phrasen aufgeladen: «Siedlungsidentität bedeutet z. B. Quartierbezug, Aufenthaltsqualität, Wohnlichkeit, Massstabsbezug», antwortete das Wettbewerbskomitee. Und: «Der architektonische Ausdruck der neuen Siedlung ist qualitativ hochwertig und vermittelt Wohnlichkeit.» Aha.
Alte Salzweg-Plattenbauten, die entfernt auch immer etwas von Sowjetunion haben, sind damit definitiv nicht gemeint.
Die schönen Gartenstädte, die an den Stadträndern in den 1950er-Jahren für die Schweizer Kernfamilie gebaut wurden, auch nicht. Sie sind grösstenteils «durch ihre zentrumsnahe Lage einer neuen Klientel mit erhöhten Ansprüchen gewichen».
Und noch nicht allzu alte Bürokomplexe, die besonders gerne als «reine Spekulationsobjekte» behandelt werden und daher «eher eine geringe Wertschätzung im Vergleich zu anderen Bautypen» erfahren, werden ebenfalls fröhlich abgerissen.
In einem Booklet der ZAS*, das sich wie eine Mischung aus Traueranzeige und Protestplakat liest, werden deshalb auch der Orion-Komplex in Zürich-West – «1989 gebaut, 30’000 Quadratmeter Nutzfläche, 2019 ersetzt» – und das Mythenschloss am Mythenquai – «1987 gebaut, 20’000 Quadratmeter Nutzfläche, 2020 abgebrochen» – aufgelistet. Und last, but not least das besagte Sportzentrum Oerlikon.
Die Sünde der Jugend
Aus dem Eintrag liest man bereits heraus, dass sich junge Leute nicht mehr durch strategische Entscheide vertreten sehen, die vor über zwanzig Jahren gefällt wurden, als sie noch die Primarschule besuchten. Bei so manch einem Ersatzneubauprojekt wird, wenn es laut und protestig wird, ja gerne auf den demos, das Stimmvolk, verwiesen, das nach allen politischen Regeln über Sonderbauvorschriften, Projektierungskredite und what not abgestimmt hat, damit die Bauherren dann später frei walten und gestalten dürfen. So geschehen auch beim Maag-Areal, auf dem nun der Turm und bald nicht mehr die alten Industriehallen stehen. «Sollen Private über die kollektiv erinnerten, historischen Schichten einer Stadt verfügen dürfen? Das Quartier wehrt sich. Wir denken ebenfalls nein. Diese Schichten sind ver-dicht-bar», hält dem die ZAS* in einer E-Mail an die Republik entgegen, die nach dem Treffen verschickt wurde.
Auch eine leise Verwunderung über die Baustellenpolitik in Oerlikon spricht aus dem Schreiben. Um den Schwimmspass über die gesamte Neubauphase der neuen Halle zu gewährleisten, soll diese nämlich auf einem anderen Grundstück realisiert werden, einer Parzelle auf der nördlichen Seite der Wallisellenstrasse, die – Achtung! – unbebaut ist. Erst wenn diese neue Halle dann in einigen Jahren fertiggestellt wird, soll das alte Bad abgerissen werden, um – Achtung! – wiederum Platz für eine freie Fläche, für Sportfelder, zu schaffen. Und das bedeutet, dass auch die alten Rasenflächen um ein paar Meter verrückt werden. Architektur wird hier wie Schachfiguren behandelt, die man einfach austauschen und rochademässig von einem Feld zum nächsten schieben kann.
Für äusserst problematisch, das geben die ZAS*-Architekten auf der Fabriketage im Gespräch zu Protokoll, halten sie schliesslich, dass die Grundstücksfläche der bisherigen Eishalle nach ihrem Rückbau dann auch noch als Reserve für eine mögliche Erweiterung der Messe verhandelt wird, jedoch niemand auf die Idee zu kommen scheint, die bestehende Architektur für solche Zwecke zu erhalten und umzunutzen. (Die Hockeyprofis von den ZSC Lions, die hier das ein oder andere Training absolvierten, freuen sich schon lange auf ihre neue Megahalle in Altstetten, nur verzögert sich ihr Einzug, weil im Neubau offenbar ein paar Schrauben locker sind, wie der «Blick» kürzlich berichtete. Nun ja.)
Graue Energie für einen grünen Planeten
Die Bedürfnisse ändern sich. Und die Architektur muss sich diesen unterordnen. Ihr Haltbarkeitsdatum verfällt nach 60 bis 80, maximal 100 Jahren. Keines der Mitglieder der ZAS* ist Anhänger von kruden Anti-Wachstums-Ideen, auch die berühmte Verdichtung, die so viele Abrisse und Ersatzneubauten rechtfertigt, ist in ihrem Sinne. Schliesslich soll sie das schöne Land vor den Toren der Städte davor bewahren, zu weiterem Agglo-Territorium verwüstet zu werden. Nur sollte Verdichtung eben nicht wie zusammenpressen oder dicht machen aussehen und ausschliesslich auf ökonomischen Regeln beruhen, die der Profitmaximierung dienen.
Im Sinne der Romantiker könnte man Ver-Dichtung auch als poetisches Programm verstehen, das die Städte in Wimmelbilder verwandelt, in denen Menschen, Maschinen, Tiere und Pflanzen auf einem alles miteinander verbindenden Abenteuerspielplatz zusammenleben: eine Art Ver-City-Dichtung. Eine Stadt wie Zürich steht nun aber leider im Begriff, das Fundament für so eine Poesie – die vielen niedlichen Stöckli, rostroten Platten, monströsen Fabrikgebäude und mausgrauen Betontürme – auszuhebeln.
Im Abriss-Fall der Personaltürme des Triemlispitals hinkt so eine Metapher ein wenig: 2023 sollen sie bis auf ihr Untergeschoss rückgebaut werden, das heisst, ihr Fundament wird gar nicht ausgehebelt. In ihrer Kolumne über die Betonteile fällt aber das eine grosse Stichwort, das den Aktivismus der ZAS* am stärksten antreibt: die sogenannte «graue Energie». Der Gruppe geht es nicht nur um den Fortbestand von heterogenen Stadträumen, sondern um den Schutz, den sie für die Umwelt bieten.
Bei drei Türmen à 15 Stockwerken kommt einiges an Beton zusammen. Die graue Energie umfasst allerdings weitaus mehr als das verbaute (graue) Material, die Rohstoffe. Für den Bau werden Transportmittel und -wege gebraucht, Bagger, Kräne, Zementmischer und so weiter. Und dann wären da noch die vielen Bauarbeiter, die harte körperliche Arbeit verrichten. Einige plädieren sogar dafür, das Kapital in die Berechnung dieser grauen Energie aufzunehmen, sich also zu fragen, was wann wie wo geschehen musste, damit eine Bauherrin zig Millionen Franken in die Hand nehmen konnte, um einen Neubau zu stemmen.
Ach ja: Auch der Aufwand des Recyclings und der Entsorgung, also all das, was getan werden muss, damit ein Gebäude sich praktisch in Luft auflösen kann, sollte noch bedacht werden.
Wäre Architektur ein Körper, könnte man die Berücksichtigung der grauen Energie auch als ganzheitlichen Ansatz verstehen, der den gesamten Kreislauf des Lebens eines Gebäudes – mit allem, was zu seiner Entstehung und Beerdigung beigetragen hat – ins Auge fasst. Das verändert auch den Blick auf die Lebensdauer von Architektur, die bisher ausschliesslich im Rahmen der aktiven Gebäudenutzung berechnet wurde. Allein in einer Stadt wie Zürich mit all den alten Gebäuden, von denen hier ein paar mühsam aufgezählt und aus Berichten über Ersatzneubauten herausgesucht wurden, kommt da am Ende so viel an Energie, CO2-Emissionen und Dreck zusammen, dass es die Vorstellungskraft beinahe sprengen muss.
Geschichte versus Zukunft
Aber das ist nicht das grösste Problem einer Klimabilanz, welche die graue Energie miteinbeziehen will. Die eigentliche gesellschaftliche Herausforderung für ein Land wie die Schweiz besteht darin, dass so eine historische Rückschau, wenn sie präzise durchgeführt würde, die 2000-Watt-Zukunftsvision aller Wahrscheinlichkeit nach ausbremsen, um nicht zu sagen begraben würde.
Die Architekten der ZAS*, die sich an dem Wettbewerb für die Ersatzsiedlung Salzweg beteiligt haben, beliessen es jedenfalls nicht bei ihren Nachfragen über die Ästhetik von Fassaden und Strassenzügen. Sie wollten, dass das Hochbauamt alle Dokumente und Zahlen offenlegt, auf denen sein Entscheid für das Abrissurteil beruht. Laut Stadt befinden sich die alten Plattenbauten angeblich, wie bereits zitiert, «bautechnisch und energetisch in einem sehr schlechten Zustand», sodass sie einen «Ersatzneubau einer umfassenden Instandsetzung vorgezogen» hat. Jakob Junghanss, Lukas Ryffel, Oliver Burch, Jens Knöpfel und Tamino Kuny verlangten deshalb Angaben zu den Bestandsplänen, die Grundrisse, Schnitte, Konstruktionsdetails, Baumaterialien und so weiter. Auf dieser Basis hätten sie herausfinden können, welche Menge an grauer Energie gegen die Energie, die ein Ersatzneubau einsparen würde, aufgerechnet werden muss und welche Potenziale es geben könnte für eine Sanierung oder einen Umbau.
«Die Frage bezüglich Erhalt oder Ersatz der Bestandsbauten ist ein strategischer Entscheid, welcher nicht einem Wettbewerbsverfahren überlassen werden soll», lautete die Antwort, die sie bekamen. Ausserdem: «Weitergehende Unterlagen zum Zustand des Bestandes und Unterlagen, die zum Entscheid für den Ersatzneubau geführt haben, werden nicht ausgegeben.» Die Architekten hakten nach, die Antwort der Behörde: «Ja, es wurden Studien gemacht. Nein, diese Studien werden nicht ausgegeben.» «Nein.» «Nein.»
«Produktive Verunsicherung»
Zwei weitere Mitglieder des Kollektivs – der Architekt Christoph Zille und die Künstlerin Leonie Wohlgemuth – reichten trotzdem einen Entwurf ein, durch den ein grosser Teil des Salzweg-Bestandes erhalten worden wäre und dennoch mehr Bewohnerinnen in lichteren Wohnungen hätten untergebracht werden können. Die Bauvorschriften ändern sich im Laufe der Jahre, an so manch einer Stelle in der Siedlung darf die neue Gebäudehöhe gar nicht mehr die alte erreichen. Wenn alles abgerissen wird, verliert die Stadt also die Dichte, die sie an anderer Stelle mit einem Neubau wettmachen möchte. Hallo, da wären sie wieder, die Schachfiguren und die schöne neue absurde Baubürokratie. Endlich wird sie von jungen Architekten infrage gestellt und sichtbar gemacht.
Immerhin wurde der Beitrag von Zille und Wohlgemuth namens Bronko mit dem 7. Preis ausgezeichnet, bekam dann allerdings einen Stempel aufgedrückt, der ihn wie ein Kind dastehen lässt, das zwar schlau sein mag, aber einfach nichts zu melden hat: «Produktive Verunsicherung» habe das alles gebracht. Yes. Auf so eine Kategorie muss man erst einmal kommen. Für die junge ZAS* mit dem Gendersternchen ist es aber vielleicht keine unangemessene.
Viele Ideen, wie das Ökosystem Erde mit dem Bauwesen zu vereinen ist, stecken noch in den Kinderschuhen (um in dem Jargon zu bleiben). Wenn Architektur immer nur eine vorläufige Antwort auf gegenwärtige Bedürfnisse ist – und das beweisen Sportzentren wie in Oerlikon mit ihren Schwimmbahnen und von Eishockeyspielern im Stich gelassenen Eishallen ja besonders drastisch –, dürfte eigentlich kein weiterer Stein und Sand mehr aus der Erde gebrochen werden. Alle Ressourcen, die bereits ausgebeutet und in Umlauf gebracht worden sind, müssten dokumentiert werden. So bekäme auch jedes Gebäude einen Materialpass, eine Identität, und wäre nicht nur anonymer Abfall, der irgendwann zur Seite geschafft wird, ohne dass es jemanden jucken würden. Für die begrenzte Fläche der Erde gibt es bereits ein Register, das alle Liegenschaften und Grundstücke verzeichnet, den sogenannten Kataster. In Zukunft braucht es einen «Madaster», der Aufschluss über die begrenzten Materialien gibt, Wissen darüber vermittelt, was sich wo auf der Erde gerade aufhält, um benutzt und wiederverwertet werden zu können.
Gegenwärtig ist so ein Szenario noch eine Utopie, die anlässlich der letzten Architektur-Biennale in Venedig aber schon einmal ausführlich diskutiert wurde. Beruhigend, dass es nun auch in der Schweiz, in Zürich, eine neue Generation von Architektinnen gibt, die Bauherren dazu bringen wollen, sie in die Tat umzusetzen.
Das ehemalige Flaggschiff des Automobilunternehmens Amag in Schwamendingen ist weder eine Bohrinsel noch ein Dampfer. Es ist ein Dinosaurier, sagte ein Kollege neulich am Telefon.