Binswanger

Der russische Schizo­faschismus

Wir fürchten uns vor Putins Amok-Potenzial. Nicht zu Unrecht, wie eine bestechende Analyse des Historikers Timothy Snyder zeigt: Das Handeln des russischen Präsidenten gründet in einer konsolidierten Ideologie.

Von Daniel Binswanger, 12.03.2022

Es wird dieser Tage zur schwer erträglichen Evidenz: Die Nato ist mit einem Dilemma konfrontiert, für das es keine Lösung gibt. Und das sich, sollte es nicht zu einem Ende der Kampf­handlungen kommen, über die nächsten Tage und Wochen dramatisch verschärfen könnte.

Zum einen erscheint es wahrscheinlich, dass Putin den Krieg durch immer brutalere und ungenauere Flächen­bombardements eskalieren wird, so wie es die russische Armee etwa in Syrien gemacht hat. Zum anderen – da solche Angriffe aus grosser Höhe und ausserhalb der Reichweite von Flugabwehr­systemen wie der Stinger-Rakete erfolgen – müssten die Nato-Staaten bereit sein, der Ukraine Kampf­flugzeuge zur Verfügung zu stellen, um Bombardierungen dieses Typs wenigstens zu erschweren.

Die USA haben nun jedoch entschieden, dass sie es nicht decken werden, wenn Polen MiG-29-Abfang­jäger aus den eigenen Beständen der ukrainischen Luftwaffe überlässt. Polen, das sich für eine solche Aktion der Nato-Einbindung versichern will, ist nur dann zu dem MiG-Transfer bereit, wenn er über die US-Luftwaffen­basis im deutschen Ramstein erfolgen kann. Dazu aber sagen die USA Nein. Sollte Russland sich also tatsächlich entschliessen, die belagerten Städte mit Bomben­teppichen zu überziehen, wird die Ukraine kaum Abwehr­mittel haben.

Offensichtlich fürchten die USA, dass die Lieferung polnischer Kampf­flugzeuge an die ukrainische Armee von Russland als Kriegs­akt betrachtet würde und eine direkte Konfrontation mit der Nato herauf­beschwöre. Eine solche Eskalation soll unbedingt vermieden werden – wohl auch deshalb, weil Putin relativ unverhohlen mit dem Einsatz von Atom­waffen droht. Obwohl sie verheerende Konsequenzen für die ukrainische Zivil­bevölkerung haben könnte, ist die amerikanische Zurück­haltung nachvollziehbar. Sie zeigt aber vor allem eins: Das Amok-Potenzial von Wladimir Putin nimmt man in Washington nicht auf die leichte Schulter.

Unbegründet erscheinen die amerikanischen Bedenken jedenfalls nicht. Nicht nur deshalb, weil der Kreml-Herrscher den Einsatz von Atom­waffen explizit evoziert und seine Nuklear­streitkräfte in erhöhte Alarm­bereitschaft hat versetzen lassen. Auch nicht nur deshalb, weil das zunehmend erratische Verhalten des offenbar an einer paranoiden Covid-Angst leidenden Putin tatsächlich die Frage nach seinem generellen Geistes­zustand aufwirft.

Beunruhigend ist vielmehr, dass Russlands Bereitschaft zum Dritten Weltkrieg beziehungs­weise zum grossen Krieg der Welt­mächte schon sehr viel weiter fortgeschritten sein und eine bereits viel konsolidiertere ideologische Basis haben dürfte, als es im Westen bisher begriffen wurde.

Und dass aus russischer Perspektive schon seit langem völlig klar ist: Im Zentrum dieses grossen Krieges steht der Kampf um die Ukraine.

Jedenfalls ist dies der Befund der erschütternd konzisen, bestechenden und kenntnis­reichen Analyse des Ukraine-Konfliktes, die der Historiker Timothy Snyder unter dem Titel «Der Weg in die Unfreiheit» veröffentlicht hat. Am unheimlichsten an dem Werk ist sein Erscheinungs­datum: Es wurde 2018 publiziert.

Snyder legte schon zu diesem Zeitpunkt dar, weshalb der Russland-Ukraine-Krieg nicht nur als Kristallisations­punkt des Selbst­verständnisses heutiger russischer Macht­eliten gelten muss, sondern auch der Krisen­herd ist, der bestimmend bleiben wird für Russlands Konfrontation mit Europa, den USA und dem «Westen». Der jetzt ausgebrochene Krieg oder – wie man präziser sagen muss – die dramatische Eskalation des schon seit 2014 tobenden Krieges in der Ukraine bestätigt Snyders Thesen.

Was in der Ukraine verhandelt wird, sind nicht nur die Grenzen der russischen Einfluss­sphäre in Osteuropa. Gemäss Snyder ist es unser aller politische Zukunft: nicht nur die Zukunft einer völker­rechtlich gesicherten internationalen Staaten­ordnung – sondern auch die Zukunft des liberalen demokratischen Verfassungs­staates. Blanker Alarmismus? Leider nein. Was Snyder zu seinem Verdikt bringt, ist eine sehr detaillierte Kenntnis der realen Vorgänge.

«Der Weg in die Unfreiheit» legt überzeugend dar, dass eine an rechts­radikal-faschistische Theorien anknüpfende, grossrussisch-«eurasische» Ideologie den eigentlichen Kern des heutigen Putinismus bildet; dass diese Ideologie zur Basis des aktuellen russischen Macht­systems geworden ist und dass sie bereits noch nie da gewesene Erfolge verbuchen konnte bei der Beschädigung ihres vermeintlichen Erbfeindes: des Westens.

Es ist ein delirierendes Panorama des menschen­verachtenden Radikalismus, der Propaganda-Manipulation und der ideologischen Verstiegenheit, welches Snyder über die letzten zwanzig Jahre der Putin-Herrschaft vor unseren Augen entrollt. Der erste Reflex könnte deshalb sein, seine Analyse als kriegs­treibende, atlantistische Polemik abzutun. Aber der Yale-Professor ist einer der ausgewiesensten Kenner der osteuropäischen und ukrainischen Geschichte sowie ein profilierter Kritiker nicht nur der russischen, sondern auch der US-amerikanischen Verhältnisse. Er entwickelt seine Thesen auf der Basis weit zurück­reichender historischer Kenntnisse und präziser tages­politischer Fakten.

Überhaupt erweist sich unsere generelle Ignoranz als zentraler Grund, weshalb die Lage heute so dramatisch ist. Nicht nur die westlichen Regierungen haben auf die fortgesetzten russischen Aggressionen der letzten zwanzig Jahre seltsam passiv reagiert, sei es aus schlichter Naivität oder wegen zynischer Interessen. Auch die öffentliche Meinung zollte der Ukraine nicht die Aufmerksamkeit, die sie hätte bekommen müssen.

Die Republik publiziert heute einen Übersichts­essay zu ukrainischer Literatur, der eindrücklich zeigt, wie luzide die Dimensionen des heutigen Krieges von ukrainischen Autorinnen schon seit den Neunziger­jahren ausgelotet worden sind. Wir haben Aufhol- und Lektüre­bedarf. Wer eine politisch-historisch-ideologie­geschichtliche Analyse zum heutigen Krieg lesen will, sollte beginnen mit Snyders «Weg in die Unfreiheit».

Was ist geschehen, dass wir heute, dreissig Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges, an diesem Punkt stehen? Snyder sieht den initialen Fehler beim Westen, in seiner Geschichts­vergessenheit, seinem Glauben an den unausweichlich gewordenen Sieg der liberalen Markt­wirtschaft, in der Religion des Endes der Geschichte. Er nennt diese den Westen bis heute bis ins Mark prägende Ideologie die «Politik der Unausweichlichkeit».

Die Politik der Unausweichlichkeit ist der Überzeugung, dass es auf gesellschaftliche Werte und politische Programme eigentlich gar nicht mehr ankommt: weil die Märkte ohnehin dafür sorgen werden, dass die Dinge sich unaufhaltsam zum Besseren wenden werden. Weil der Endsieg des Kapitalismus im Grundsatz nicht infrage gestellt werden kann. Weil explodierende Ungleichheit und Zukunfts­ungewissheit vielleicht unschön sind, aber nicht mehr darstellen als vernachlässigbare Begleit­erscheinungen einer nicht aufzuhaltenden Globalisierung.

«Die amerikanische Politik der Unausweichlichkeit war, wie alle diese Erzählungen, fakten­resistent», sagt Snyder. «Das Schicksal Russlands, der Ukraine und Weiss­russlands führte hinreichend vor Augen, dass der Fall eines Systems keine Tabula rasa schafft, auf der die Natur Märkte und die Märkte den Rechts­staat hervor­bringen.» Sehr im Gegenteil: Osteuropa war der Ort, wo die Politik der Unausweichlichkeit schneller als anderswo ad absurdum geführt wurde – anstatt zu Prosperität und Rechts­staatlichkeit führte sie zu einer kleptokratischen Oligarchie, die zu stabilisieren Wladimir Putins historische Mission gewesen ist. Reaktionäre Kommentatoren in der europäischen Presse waren begeistert von dieser Leistung und fabulierten darüber, dass die russische Seele nun einmal eine starke Hand brauche.

Was im Westen viel zu spät begriffen wurde: Die Politik der Unausweichlichkeit gebiert die «Politik der Ewigkeit». Der geschichts­vergessene Glaube an alternativlose Automatismen führt zur nicht mehr nur geschichts-, sondern auch fakten­freien Wieder­entdeckung ewiger, beherrschender «Wahrheiten». «Während die Unausweichlichkeit eine bessere Zukunft für jeden verspricht, rückt der Politiker der Ewigkeit die Nation ins Zentrum des Narrativs eines immer wieder­kehrenden Opfers», sagt Snyder. «Es gibt keine Zeitlinie mehr, die in die Zukunft führt, sondern einen Kreis, der endlos dieselben Bedrohungen der Vergangenheit wiederholt (…) Die Politiker der Ewigkeit verbreiten die Überzeugung, dass die Regierung der Gesellschaft als ganzer nicht helfen, sondern uns nur vor Bedrohungen schützen kann. Der Fortschritt weicht zurück und macht den Weg frei für das Verhängnis. Wenn Ewigkeits­politiker an der Macht sind, produzieren sie Krisen und manipulieren die damit verbundenen Emotionen.»

Der Pionier der heutigen Ewigkeits­politik ist Wladimir Putin. Aber es ist ihm nicht nur gelungen, den russischen Staat in eine Autokratie zu verwandeln. Er hat es zeitweilig auch geschafft, an der Spitze seines grössten Rivalen, des amerikanischen Staates, den Ewigkeits­politiker Trump zu installieren. Die systematische Schwächung des Westens, die Delegitimierung seiner demokratischen Institutionen, die aktive Zerstörung seiner Vorbild­funktion gehören nach Snyder zum innersten Kern des Putinismus. In aller Offenheit propagiert er eine «eurasische Union», welche unter Führung Russlands die «europäische Union» ersetzen soll.

Es ist kein Zufall, dass zahlreiche europäische Anti-EU-Parteien von Russland finanziert werden und dass der Brexit durch massive russische Desinformations­kampagnen unterstützt wurde. Es ist auch kein Zufall, dass sich eine Publikation wie zum Beispiel die «Weltwoche» immer wieder als sich vor Begeisterung überschlagendes russisches Propaganda­organ erwiesen hat (aktuell muss sie kriegs­bedingt einen temporären taktischen Rückzieher machen).

Es ist die Gesamtheit dieser Konflikte, die in der Ukraine ausgetragen werden. «Russlands Invasion der Ukraine im Jahr 2014», so Snyder, «war ein Test für den Realitäts­sinn der Europäischen Union und der Vereinigten Staaten.» Wir haben ihn nicht bestanden – und zahlen dafür den Preis.

Snyder liefert eine detaillierte Analyse der ideologischen Grundlagen des Putinismus. Eine der Haupt­quellen sind faschistische Denker der russischen Gegenrevolution, insbesondere die Schriften des Philosophen Iwan Iljin. Iljin war ein adliger russischer Emigrant, der in den Zwanziger- und Dreissiger­jahren in Berlin und danach bis zu seinem Tod 1954 in der Schweiz lebte. Er war ein glühender Verehrer von Mussolini und Hitler und pflegte auch in der Schweiz Verbindungen zu prominenten Nazis, etwa zu Franz Riedweg, einem gebürtigen Luzerner, der Karriere machte als ausländischer Freiwilliger der Waffen-SS und es bis zum Ober­sturmbann­führer brachte. Er verkehrte auch mit dem evangelischen Theologen Rudolf Grob, der zu den Erst­unterzeichnern der sogenannten Eingabe der Zweihundert gehörte.

In wichtigen, programmatischen Reden berief Putin sich auf Iljin. 2005 liess er die sterblichen Überreste seines ideologischen Mentors aus der Schweiz nach Moskau zurückholen und mit grossem Pomp bestatten. «Anfang 2014 erhielten alle Mitglieder der Regierungs­partei Russlands und alle Angestellten im öffentlichen Dienst vom Kreml eine Auswahl von Iljins politischen Schriften», schreibt Snyder. Es war das Jahr der Krim-Besetzung und des beginnenden Krieges im Donbass.

Iljin propagiert einen «christlichen Faschismus». Er betrachtet Russland als die «reine und objektive Nation», die einen Erlöser hervor­bringen werde. Dass Russland kommunistisch regiert wurde zu seiner Lebenszeit, konnte Iljins Geschichts­bild nicht trüben: Der Kommunismus galt ihm lediglich als eine aus dem Westen eingeschleppte Versuchung, welche die russische Reinheit nicht zerstören werde. Ein faschistischer Putsch werde Russland wieder auferstehen lassen und die Welt erlösen. Zu dieser wieder auferstandenen russischen Nation gehört zwingend die Ukraine. Iljin benutzt das Wort «ukrainisch» gemäss Snyder nur in Anführungs­zeichen. Die Ukraine als Staat existiert gar nicht. Sie ist ein organischer Teil des russischen Volkskörpers.

Es ist horrender Irrsinn, der in Iljins Schriften ausgebreitet wird – aber wir sollten zur Kenntnis nehmen, dass solches Gedanken­gut sehr konkreten Einfluss auf die Politik der russischen Führung hat. Snyder analysiert auch die Wirkung zeitgenössischer faschistischer Denker wie Alexander Dugin, Alexander Prochanow oder Sergei Glasjew. Sie sind Teil des aktiven putinschen Propaganda-Apparates.

Zwei Elemente ihres Diskurses illustrieren auf besonders eindrückliche Weise, wie radikal der Realitäts­verlust inzwischen geworden ist. Zum einen zeichnet Snyder nach, wie systematisch und zentral für die russische Propaganda die Behauptung ist, der Russland-Ukraine-Krieg sei ein Krieg gegen «sexuelle Dekadenz», sprich Homosexualität. Nachdem es 2011 und 2012 zu Massen­protesten gegen das Putin-Regime gekommen ist, nimmt die Behauptung, es gehe bei der Widerstands­bewegung gar nicht um Politik, sondern um eine internationale Verschwörung, welche Russland mit homosexueller Propaganda überschwemmen, die Geburten­rate senken und die Nation schwächen wolle, einen immer grösseren Raum ein. Auch die Maidan-Proteste in Kiew wurden als «perverse» Homosexuellen-Verschwörung dargestellt.

Noch absurder ist der Umgang mit dem Nazivorwurf. Bekanntlich hat Putin die Selenski-Regierung als Bande von «Drogen­abhängigen und Neonazis» bezeichnet, was angesichts der Tatsache, dass Selenski jüdisch ist, zunächst vollkommen bizarr erscheint. Auch diese Verdrehung ist jedoch ein tragendes Element des russischen Propaganda-Dispositivs. Snyder bezeichnet es als «Schizofaschismus».

Bekennende Faschistinnen versuchen ihre Gegner zu diskreditieren – indem sie sie als Faschisten bezeichnen. Seit 2014 wird das von der russischen Propaganda ständig und systematisch getan. Ihren eigentlichen Anker­punkt hat diese Verdrehung in der Behauptung, den Holocaust hätten die Juden selber durchgeführt. «Faktische Faschisten nennen ihre Gegner ‹Faschisten›, schieben den Juden die Schuld am Holocaust zu», sagt Snyder. Eine radikalere Form der Realitäts­leugnung ist nicht mehr möglich. Es ist der Punkt, an dem die putinsche Herrschafts­technik heute steht.

Zwar mag die Hoffnung bleiben, dass das alles «nur» Propaganda ist. Dass es sich um Kommunikations­strategien handelt, an welche die Akteurinnen selber keine Sekunde glauben. Dass sie rein opportunistisch eingesetzt werden und schnellstens revidiert werden könnten. Aber auch Propaganda­diskurse schaffen Fakten. Wie viel Rationalität kann man einer Staats­führung zuschreiben, deren Legitimität auf solchem Wahnsinn beruht? Und wie viel Vertrauen sollen wir haben in demokratische Werte­bindungen ihrer deklarierten und nicht deklarierten Komplizen?

Der Westen hat den Test des Russland-Ukraine-Krieges 2014 nicht bestanden. Heute kommt ein Erwachen von äusserster Brutalität. Es kommt spät.

Illustration: Alex Solman