Natasha
Fotograf Lesha und seine Frau kriegen Besuch: Natasha schaut vorbei. Sie arbeitet als Kurierin und verteilt Waren an Menschen in Kiew. Angst ist ihr ständiger Begleiter – ihren Humor hat sie trotzdem nicht verloren.
Von Lesha Berezovskiy (Text und Bilder) und Annette Keller (Bildredaktion und Übersetzung), 10.03.2022
Meiner Frau Agata und mir geht es okay. Unsere Gefühlslage schwankt zwischen «bald ist es vorbei, und alles wird gut» und «könnte sein, dass wir heute sterben». Die letzten paar Tage waren daher schwierig. Wir schlafen möglichst lange, um den Moment hinauszuzögern, an dem uns die Realität wieder einholt. Wir wollen im Frieden aufwachen, nicht im Krieg.
Der letzte Sonntag aber war ein guter Tag, wir verbrachten ihn mit unserer Freundin Natasha. Es war schön, sie zu sehen und zu umarmen. Sie ist als Kurierin im Einsatz und bringt mit ihrem Auto Essen und andere lebensnotwendige Dinge zu jenen Menschen, die sie nicht selber besorgen können. Nach einer intensiven Woche hat sie einen freien Tag und kommt zu uns. In unserem Tiefkühlfach liegt noch ein Teig für Schokoladenkekse, den Agata vor dem Krieg zubereitet hatte. Natashas Besuch ist ein guter Grund, daraus Kekse zu backen.
Natasha ist 30 Jahre alt und kommt ursprünglich aus der Stadt Netischyn. Normalerweise arbeitet sie als Artdirector in einer Kreativagentur in Kiew. Als der Krieg ausbricht, ist sie allein zu Hause, die News prasseln auf sie ein. Sie kann sie nicht aus den Augen lassen, und was sie sieht, macht ihr Angst. Sie überlegt, ob sie Kiew verlassen soll. Dann sieht sie, wie sich Bekannte und Freundinnen organisieren, um zu helfen. Diese Energie gibt ihr das Gefühl, dass es schon irgendwie gut kommen wird. Sie sagt sich: «Wer soll das tun, wenn nicht wir?», und meldet sich als Fahrerin.
Als der Fernsehturm von Kiew bombardiert wird, ist sie gerade mit einer Essenslieferung auf dem Weg zu den Verteidigungskräften und nur etwa einen Kilometer vom Einschlag entfernt. Die nahe Explosion lässt sie vor Schreck erstarren, und eine innere, verängstigte Stimme meldet sich. Sie fragt: «Was mache ich eigentlich hier? Ich habe als Frau hier doch nichts verloren, sollte irgendwann Kinder bekommen und nicht im Krieg rumfahren.» So geht es ihr jeden Tag – einmal fühlt sie sich zuversichtlich und mutig, und dann wieder ist sie das kleine, verschreckte Mädchen, das hier nichts zu suchen hat. Trotzdem macht sie weiter.
Die Menschen, denen Natasha Essen und andere Waren bringt, reagieren unterschiedlich auf ihr Auftauchen. Die einen freuen sich, und manche weinen auch. Andere aber wollen die Sachen zuerst nicht annehmen. Vielleicht aus Stolz oder weil sie denken, dass sie dafür bezahlen müssten. Ihnen sagt Natasha dann, dass es nichts kostet, dass die Zeit drängt und dass sie die Sachen nehmen sollen, weil sie sie sonst gleich jemand anderem bringen werde. Das funktioniert dann meistens.
Natasha trifft keine besonderen Sicherheitsvorkehrungen, man kann auch nicht viel tun. Natürlich achtet sie auf die Sirenen, fährt schneller, wenn sie heulen. An einem Checkpoint – von denen es nun viele gibt – wird Natasha gefragt, ob sie etwas dabeihabe, um sich zu verteidigen, wenigstens etwas Spitzes. «Nur meinen Sinn für Humor», ist ihre Antwort.
Die Dinge ändern sich schnell in Kiew: «Natasha hat Kiew inzwischen verlassen», hat Lesha der Republik gestern mitgeteilt.