Im Dazwischen

Die Revolution in Belarus, die Oppositionellen in Russland und der ukrainische Widerstand gegen den Krieg gehören zum gleichen Kampf für eine freiheitliche Demokratie. Doch noch immer denken wir in gefährlichen Pauschalisierungen.

Ein Essay von Iryna Herasimovich (Text) und Christian Grund (Bilder), 09.03.2022

Iryna Herasimovich plädiert in Zeiten des Krieges für genaues Hinschauen, für die Vielfalt der Erfahrungen.

Als Übersetzerin deutsch­sprachiger Literatur lebte ich viele Jahre im Dazwischen. Zwischen dem bela­russischen Raum meiner ersten Sprachen Bela­russisch, Russisch und des bela­russischen Dialekts der Region Pastawy in der Nähe der litauischen Grenze und dem deutsch­sprachigen Raum einschliesslich seiner Literatur.

Zum Dazwischen gehört man nicht per se, man muss sich immer wieder dafür entscheiden, indem man die verein­nahmenden Zuschreibungen zurück­weist. Auf der bela­russischen Seite war ich zum Beispiel eine Schmarotzerin, weil ich mich für eine freie Existenz als Kultur­schaffende jenseits von Institutionen entschieden habe. Auf der deutsch­sprachigen war ich «eine aus dem Osten» – jenem grossen geografischen Raum, den man sich in Mittel­europa immer noch zu oft als einheitliche Fläche vorstellt. Vor allem aber war ich eine aus der «letzten Diktatur Europas» und später «eine von den Revolutionären».

Zur Autorin

Iryna Herasimovich wurde 1978 in Minsk geboren und ist seit 2009 freiberufliche Übersetzerin. Sie hat Werke von Lukas Bärfuss, Georg Büchner, Monika Rinck, Nora Gomringer, Mehdi Moradpour, Jonas Lüscher, Michael Köhlmeier, Franz Hohler und Franz Kafka ins Belarussische übersetzt. Seit 2018 kuratiert sie den über­setzerischen Teil des Forums «Literature Intermarium» im Künstlerdorf Kaptaruny. Sie arbeitet auch als Dramaturgin und Kuratorin im Bereich bildende Kunst und ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Seit 2021 ist sie Doktorandin am Slavischen Seminar der Universität Zürich.

Warum reist du nicht aus, wurde ich jahrzehnte­lang gefragt, auf beiden Seiten. Vielleicht, weil ich nie nur in Belarus war? Vielleicht, weil es auch in Belarus Frei­räume gab, an deren Aufbau ich mich beteiligt habe und die ich nicht aufgeben wollte. Unsere Freiräume waren oft versteckt, sie existierten unter Druck und ständiger Gefahr.

Mein guter Freund Artur Klinau, ein bela­russischer Schrift­steller, spricht vom Partisanen­dasein der bela­russischen Künstlerinnen, denn sie mussten stets auf einem feindlichen Territorium agieren. Das ist mit einer Art Unsichtbarkeit im eigenen Land verbunden: Es gibt so gut wie keine staatliche Unter­stützung der unabhängigen Kultur­szene. Hinzu kommen das Risiko, sich selbst und die anderen in Gefahr zu bringen, die Notwendigkeit, Projekte bei ausländischen Stiftungen zu beantragen, und inhaltliche Selbst­zensur.

Wer sich in einer solchen Situation für das Sichtbar­werden entscheidet, dem liegt viel daran, Zuschreibungen zu vermeiden, die das eigene Tun auf einen einzelnen Aspekt reduzieren – man will schliesslich nicht aus der einen Unsichtbarkeit in die nächste wechseln. Wer allerdings im Westen mit seiner Kunst oder dem eigenen Schreiben gesehen werden wollte, für den stellten sich die Fragen ganz neu.

Kategorien der Krise

Auf der deutsch­sprachigen Seite wollte man vor allem den plakativen Kampf gegen das Regime sehen, bela­russische Kunst an sich, ohne laut­starken Protest gegen das Regime, war uninteressant. Also haben bela­russische Künstler und Autorinnen, die im Westen präsent sein wollten, nicht selten einfach angeboten, was sich da gut verkauft: eben die plakative politische Kunst, Posen ohne Zwischen­töne. Klare Marker wie «Revolution», «Verfolgung», «Geheim­dienst» werden sehr bereit­willig abgenommen.

Mit der Revolution kam eine Sichtbarkeit in mein Leben, die ich vorher nicht gekannt habe. Mit ihr ging allerdings auch eine zweifache Gefahr einher: In Belarus stieg das Risiko, dem Regime aufzufallen und verhaftet zu werden. Im deutsch­sprachigen Raum war das Problem, sofort auf bestimmte Zuschreibungen festgelegt zu werden.

Als Übersetzerin war ich schon immer eine Vermittlerin, daran hat sich auch 2020 nichts geändert. Ich musste viel Kraft investieren, meinen Gesprächs­partnern klarzumachen, dass ich immer noch Über­setzerin bin, keine «Aktivistin», «Oppositionelle» oder «verfolgte Autorin». Nun musste ich also plötzlich meine eigene Position übersetzen.

Krisen, Konflikte oder, wie gegenwärtig, Kriege erhöhen massiv das Risiko allzu fester Zuschreibungen.

Das Paradox besteht darin, dass Menschen sich in einer Krise gern an festen Kategorien orientieren, das macht sie für Schubladen­denken und Pauschalisierungen besonders anfällig. Wir erleben das auch in diesen Tagen wieder: «Die Russen» erscheinen generell als Feind­bild, als gäbe es unter ihnen keine Oppositionellen. Bei «den Bela­russinnen» behalten viele nicht mehr im Auge, dass die Mehrheit Lukaschenkos System für illegitim hält. Diejenigen, die jetzt im Gefängnis, auf der Flucht oder in Gefahr sind, verhaftet zu werden, werden in einem Zug mit Lukaschenko zu den «Mitschuldigen» gezählt.

Menschen­gruppen aber sind nie eine homogene Masse. Und eine Krise, zumal ein Krieg, ist ein Zustand mit offenem Ausgang. Deshalb helfen die pauschalen Kategorien nicht. Sondern wir brauchen genaues Hinschauen, Raum und Zeit fürs Offene, fürs Persönliche, für die Vielfalt der Erfahrungen.

Im Mai 2021 bin ich aus der Schweiz nicht mehr nach Belarus zurück­gekehrt. Als das Flugzeug mit Roman Protassewitsch an Bord zur Landung gezwungen wurde, wusste ich, dass ich nicht zurück­wollte. Dank der Unter­stützung von Schweizer Freundinnen konnte ich hier im Land bleiben.

Als ich dies einer Schweizer Kollegin erzählte, sagte sie: Also bist du nicht wegen einer Bedrohung geflohen. Ich weiss, was sie meint. Nein, ich wurde nicht straf­rechtlich verfolgt und war nicht im Gefängnis, ich konnte schlichtweg nicht schlafen, jedes Mal, wenn mein Kommentar zu den Ereignissen in den Massen­medien veröffentlicht wurde, aus Angst vor einer Haus­durchsuchung. Ich war einfach schlecht darin, den Patrouillen zu entkommen und ständig darüber nachzudenken, welche Bilder ich in meinem Handy hatte oder welche Sätze in meinen Büchern und Papieren mich in Gefahr bringen konnten. Ich hatte einfach nicht mehr die Nerven, am Flughafen bei den Kontrollen mit laufendem Anruf zu stehen, damit meine Freundin Bescheid wüsste, falls ich festgenommen würde. Ich hatte Angst, zurück­zugehen.

Sind Sie bereit, sich mit widersprüchlichen Gefühlen und Gedanken zu beschäftigen und womöglich auch der eigenen Ratlosigkeit zu begegnen?, fragt Iryna Herasimovich.

Aber nein, eine direkte Bedrohung war das nicht. Doch ich bin die Frage nicht mehr losgeworden, ob die Schweizer Kollegin wohl eine direkte Bedrohung sehen würde, wenn sich eine solche Lage nicht in Minsk, sondern in Zürich einstellen würde. Ist diese Vorstellung nicht an sich schon eine Heraus­forderung? Denn man kann sich noch vorstellen, dass solche Dinge «dort im Osten» passieren, aber dass etwas Ähnliches hier in der Schweiz geschehen könnte, sprengt die Fantasie.

Noch mehr Fragen: Spricht man im deutsch­sprachigen Raum vielleicht deshalb so gerne von Heldinnen und Kämpfern, weil das eine gewisse Distanz schafft? Ein Widerstands­held im Gefängnis oder eine Kämpferin auf der Flucht zerstören nicht den eigenen Alltag, sie lassen sich als Thema gut zwischen Garten­pflege und Gerüchten aus der Nachbarschaft platzieren. Was aber, wenn es keine Helden sind, die im Gefängnis landen, sondern Menschen, die genauso lieber im Garten arbeiten und mit den Enkelinnen spielen würden? Wenn es sich nicht um Berufs­revolutionäre handelt, die fliehen müssen, sondern um Ärztinnen, Ingenieure, Rentnerinnen oder eben Übersetzer?

Ich darf sagen: Einige von ihnen sind nicht mal besonders mutig, zum Beispiel ich. Es ging mir weder um Mut noch um die Über­windung von Angst, es ging um die eigene Integrität. Vielleicht wäre ich lieber nicht gefragt worden, aber da ich gefragt worden war, habe ich geantwortet, und das war gefährlich.

Wie man in diesen Tagen wieder deutlich sieht: Ob man als Einzelne in eine solche Situation gerät, ist kein besonderes Verdienst, sondern eine Frage von Pech oder Glück. Ebenso deutlich ist, dass Zäsuren wie die des gegen­wärtigen Krieges alles verändern.

Und plötzlich öffnen sich die Handlungs­räume, wo man es früher gar nicht vermutet hatte. Belarus konnte zumindest 2020 doch sichtbar werden, nachdem es jahrzehnte­lang ein weisser Fleck auf der europäischen Land­karte gewesen war. Die Ukraine kann doch zum Kandidaten für den EU-Beitritt werden, nachdem ihr jahre­lang leere Hoffnungen gemacht wurden.

Wir wollen auch im Privaten handeln, etwas tun, wir spenden, teilen Informationen, versorgen Menschen in Not. Vielleicht können wir diese Erfahrungen auch nutzen, um unsere binären Oppositionen und Zuschreibungen stärker hinter uns zu lassen.

Von den Ukrainern, den Russinnen und den Belarussen zu sprechen, verdeckt aus meiner Sicht das Wesen dieses Krieges. Dies ist ein Krieg einer imperialen Macht gegen die pluralistische, freiheitliche Demokratie. So gesehen sind die Revolution in Belarus, die oppositionellen Proteste in Russland und der Kampf gegen Putins Angriffs­krieg in der Ukraine Glieder von ein und derselben Kette. Immer wieder habe ich den Satz gehört: «Wie können wir euch helfen?» Dabei wäre die grösste Hilfe, nicht mehr in den Kategorien wir und ihr zu denken.

Räume für den Rückzug

Pauschale Gruppen­zuschreibungen sind auch in Friedens­zeiten zerstörerisch, sie löschen die Erfahrungen Einzelner aus und entfremden uns voneinander. Wir benötigen aber gerade jetzt die Polyfonie der Erfahrungen, ein viel­stimmiges Gespräch. Dafür braucht es Räume, in denen über Zugehörigkeits­grenzen hinweg Begegnungen stattfinden. Räume, in denen Erfahrungen statt Slogans und einfacher Wahrheiten getauscht werden. Aber auch Räume, in denen geschwiegen werden kann und darf, und damit meine ich nicht das sich wegduckende Schweigen. Sondern das Schweigen, das Platz schafft für das Hinein­horchen in sich selbst, für das Zuhören und das Denken.

In einer Revolution und bei der Auflehnung gegen den Krieg machen Menschen unzählige, oft schwer fassbare Erfahrungen: Neben offenem Protest sind da auch Zweifel, neben Momenten der Begeisterung stehen herbe Enttäuschungen. Und neben Zeiten des Engagements gibt es Phasen von Hilflosigkeit und Resignation, von lähmender Angst und Müdigkeit, von Trauer, Scham und Verzweiflung. Nicht alle diese Erfahrungen sind gleich gut vermittelbar, aber alle haben Auswirkungen auf die Gegenwart und die Zukunft. Gerade aus den unsichtbaren, verschwiegenen Erfahrungen setzen sich meistens Traumata zusammen, die lange Zeit spürbar sind.

Deswegen brauchen Menschen, die gegen ein feindliches Regime und gegen die existenzielle Bedrohung kämpfen, nicht nur Mutmach­parolen und Aufrufe, weiter­zumachen. Sondern auch Unter­stützung beim Rückzug, bei ihrer Trauer, in Momenten der Erstarrung und Verzweiflung – eben bei der Verarbeitung von äusserst komplexen Erfahrungen.

Solche Räume für mitgeteilte Erfahrungen brauchen nicht nur die sogenannten direkt Betroffenen; nicht nur die, die protestieren, kämpfen, fliehen oder ins Exil gegangen sind. Sondern auch diejenigen, die von hier aus das Geschehen im Osten Europas beobachten – und die Menschen wie mich dann beim Mittag­essen fragen, wie es denn so war für mich in der Revolution? Sind sie in diesem Moment bereit, sich zwischen der Suppe und dem Haupt­gericht mit wider­sprüchlichen Gefühlen und Gedanken zu beschäftigen und womöglich auch der eigenen Ratlosigkeit zu begegnen? Oder sind sie froh, wenn ihnen durch ein paar Floskeln die Zugehörigkeit zum Welt­geschehen verschafft wird?

Wann wird aus aufrichtigem Interesse verletzende Neugier? Wann wird Solidarität dekorativ? Wie unterstützt man die anderen, ohne aufdringlich zu werden? Wie macht man die eigene Zugehörigkeit sichtbar, ohne unter Gruppen­druck zu geraten? Wo sind die legitimen Räume, in denen diese und viele andere Fragen verhandelt werden können?

Diesen Text zu schreiben, war für mich ein Wagnis. Der Krieg in der Ukraine hat auch mich sprachlos gemacht. Ich bin dieser Sprach­losigkeit noch längst nicht entkommen, aber ich kann sie sichtbar machen und teilen. Vielleicht hilft das nicht nur mir.

«Ich hatte Angst, zurück­zugehen»: Iryna Herasimovich lebt und arbeitet in der Schweiz.