Epochenbruch
Der Ukraine-Krieg ist eine Wende. Man muss es jedenfalls hoffen.
Von Daniel Binswanger, 05.03.2022
Es gehört wohl zum Wesen des Epochenbruchs, dass die Ereignisse sich nicht nur überstürzen, sondern so widersprüchlich und überwältigend erscheinen, dass ein Sinnvakuum erzeugt wird. So ist es auch jetzt, nach dem Ausbruch des Ukraine-Kriegs.
Es gibt bewundernswerte Menschen, die, obwohl sie nicht direkt betroffen sind, das Gesetz des Handelns an sich reissen. Sich in die Flüchtlingshilfe stürzen oder gar gewillt wären, zu den Waffen zu greifen. Für viele von uns mag aber fast der Eindruck dominieren, dass nichts mehr geschieht. Dass eine mörderische Bedrohung zusammenfällt mit dem lähmenden Gefühl, es gehe alles so weiter wie bisher. In Charkiw, Kiew, Mariupol heulen die Sirenen, fallen die Bomben, sterben Menschen. Wer in der Schweiz könnte von sich behaupten, er sei von diesem Krieg nicht zutiefst erschüttert? Hierzulande hat er für die meisten Bürgerinnen bisher jedoch keine Folgen. Ausser eben die Ungewissheit.
Diese extreme Widersprüchlichkeit prägt allerdings nicht nur die Stimmungslage, sondern auch die analytisch zugänglichen Fakten, die jetzt die Situation definieren.
Einerseits befinden wir uns tatsächlich in einem völligen Ausnahmezustand, herbeigeführt durch einen in diesen Dimensionen seit 1945 in Europa nie mehr vollzogenen Bruch mit dem Völkerrecht: ein Aggressionskrieg des grössten Nuklearwaffenstaates der Welt gegen den zweitgrössten Flächenstaat des europäischen Kontinents.
Es ist allerdings furchtbar ärgerlich und zeugt von der allgemeinen Konfusion, wenn nun Politiker durch die Medien paradieren und behaupten, in Europa habe es seit siebzig Jahren keinen Krieg mehr gegeben. Es gab die Balkan-Kriege, es gab die Tschetschenien-Kriege, es gab den Georgien-Krieg. Zwei davon wurden von einem gewissen Wladimir Putin geführt. Richtig ist allerdings, dass ein so grosser Krieg, wie er sich jetzt abzeichnet, mit so vielen Flüchtlingen und, wie wir fürchten müssen, potenziell auch mit so vielen Opfern, nicht mehr stattgefunden hat. Richtig ist, dass es wohl noch nie ein so konkretes Szenario gab für eine nukleare Eskalation.
Andererseits liegt die Unerträglichkeit der Situation aber genau darin begründet, dass wir uns nicht in einem Ausnahmezustand befinden. Dass der Ukraine-Krieg nicht zwingend als erratisches Wahnsinnsprojekt des russischen Autokraten erscheint, sondern genauso gut als stringente Fortsetzung und Übersteigerung einer seit langen Jahren erfolgreich verfolgten Strategie betrachtet werden kann.
Putin hat zahlreiche blutige Feldzüge geführt und verantwortet fürchterliche Kriegsverbrechen. Er hat in einem beispiellosen Bruch des Völkerrechts die Krim annektiert, auf Nato-Boden politische Gegner ermorden lassen, gigantische Desinformations- und Destabilisierungskampagnen gegen den Westen geführt. Er wurde dennoch nie in die Schranken gewiesen, nie zur Rechenschaft gezogen, nie gestoppt. Weshalb hätte es für ihn so eindeutig sein sollen, dass es diesmal anders ist?
Um den gegenteiligen Eindruck zu vermitteln, wurde jedenfalls alles Menschenmögliche getan: Der von der deutschen Regierung mit letzter Entschlossenheit vorangetriebene Bau der Nord-Stream-2-Pipeline startete im Jahr 2018 – vier Jahre nach der Krim-Annexion. In den USA hat bis vor nur ein paar Tagen ein grosser Teil des republikanischen Establishments Putin euphorischen Applaus gespendet, und gemäss Umfragen hielten die republikanischen Wähler Joe Biden für die grössere Bedrohung als den russischen Präsidenten.
Schliesslich und endlich: Auch die Eidgenossenschaft belegt im Klassement der westlichen Autodestruktion einen absoluten Spitzenplatz. Putins Militärmaschinerie wird fast ausschliesslich über den Rohstoffhandel finanziert, und 80 Prozent des russischen Ölhandels werden über die Schweiz abgewickelt. 30 Prozent der Auslandvermögen in Russland lebender Oligarchen liegen in der Schweiz. Kann man noch von Komplizenschaft sprechen? Oder sind wir schlicht und einfach Mittäter?
Es ist nicht ersichtlich, wie man Putin vorwerfen soll, dass er die Mächte, welche die freie, demokratische, dem Völkerrecht und der Rechtsstaatlichkeit verbundene Welt repräsentieren wollen, für eine Bande zynischer, egoistischer und heuchlerischer Clowns gehalten hat. Schon heute, nicht einmal zwei Wochen nach Ausbruch des Ukraine-Krieges erscheint die westliche Appeasement-Politik vollkommen absurd und unverständlich. Wie werden künftige Generationen darüber urteilen?
Natürlich ist die Haltung, die hinter dem Prinzip von «Wandel durch Handel» steht, im Grundsatz nicht zu verdammen. Wie schön wäre es doch, wenn das Spiel der wirtschaftlichen Interessen, die ständige Intensivierung der Handelsbeziehungen, die immer umfassendere Globalisierung ganz automatisch einen befriedenden Effekt hätten! Spätestens seit der Jahrtausendwende akkumuliert sich allerdings die Evidenz, dass diese Hoffnung eine wohlfeile Illusion ist.
Wie genau hätte es eigentlich funktionieren sollen, dass der immer autokratischer, brutaler und grossrussischer agierende Putin sich ganz plötzlich durch Pipelines und Aussenhandel zivilisieren lässt? Diese Theorie wirkt nicht nur irrwitzig, sondern zynisch – umso mehr als ihre Vertreterinnen selber häufig keine Sekunde daran glauben, sondern auf den eigenen, kurzfristigen Vorteil schielen. Am Putin-Wahn muss die Welt nicht zugrunde gehen. Eher schon am Schröder-Syndrom.
Und jetzt ist plötzlich alles anders. Die Versäumnisse der letzten Jahrzehnte bezahlen wir voraussichtlich mit einem brutalen Epochenbruch. In den 1990er-Jahren, als die neue Weltordnung nach dem Kalten Krieg ihre euphorische Jugendphase durchlebte, wurde der amerikanische Publizist Thomas Friedman weltbekannt mit der sogenannten Big-Mac-Theorie. So felsenfest war damals der Glaube an die zivilisatorische Wirkung von ökonomischem Fortschritt, Globalisierung und Konsum, dass Friedman die These aufstellte, Länder, in denen es McDonald’s-Filialen gebe, würden niemals Krieg gegeneinander führen.
Warum soll man sich gegenseitig töten, wenn man stattdessen konsumieren kann? Heute machen grosse Konsumgüterbrands wie Apple oder VW die Ankündigung, sich aus Russland zurückzuziehen. Eine demokratische Friedensordnung beruht auf etwas anderem als Wirtschaftsfreiheit und globalisierten Brands.
Es ist wohl Zeit, jetzt aufzuwachen. Demokratien haben eine Wertebasis, die man nicht mit Rohstoffhandel, Tiefsteuersätzen und Finanzdienstleistungen für Oligarchen verteidigt. Diese unsanft erneuerte Erkenntnis wird sehr viel verändern, nicht nur aussenpolitisch, sondern auch gesellschaftlich. Es wird nicht damit getan sein, die Verteidigungsausgaben zu erhöhen. Es sind neue Antworten gefordert auf die Frage, wofür wir eigentlich stehen.
Das heutige Erwachen ist beängstigend, verstörend, lähmend. Aber den Preis bezahlen jetzt nicht wir. Den Preis bezahlt die Ukraine.
Illustration: Alex Solman