Feminin? Maskulin? Auf seinem neuen Album «Multitude» vereint Stromae noch mehr Rollen in sich. Michael Ferire

Mon Dieu

Nach achteinhalb Jahren ist der belgische Musiker Stromae mit einem neuen Album zurück – und scheint endgültig im Stadium der Heiligen­verehrung angekommen. Ist das nun himmlisch oder die Hölle?

Von Theresa Hein, 04.03.2022

Es gibt eine Geschichte über den belgischen Musiker Stromae, die geht so: Stromae wollte ein Musik­video zu seinem Song «Formidable» aufnehmen und führte dafür alle an der Nase herum.

In dem Song, halb Ballade, halb Elektropop-Schock-Hymne, erzählt ein betrunkener Mann davon, dass seine Partnerin ihn verlassen hat, weil er keine Kinder zeugen kann. Jetzt steht er auf der Strasse, gräbt frustriert junge Frauen an und klagt ihnen sein Leid. Stromae geht also im Jahr 2013 an die Tramhalte­stelle Louise in der Innen­stadt Brüssels, tut einen halben Tag lang so, als sei er hagelvoll, legt sich mehrmals beinahe aufs Tramgleis, macht wankend Frauen an und lässt alles heimlich von Handy­kameras filmen. Irgendwann kommt ein Polizist, fragt höflich, was los sei, und geht, als er den Sänger erkennt, beinahe in die Knie: «Danke für deine Musik, bin grosser Fan.» Subtext: Du hast mir das Leben und mindestens eine Beziehung gerettet, ich liebe dich, bitte geh jetzt nicht kaputt.

Als der Videoclip zum Song erschien, der aus dem Handy­material dieses Tages zusammen­geschnitten war, spielten Musik­kritikerinnen, Fans und die belgischen Verkehrs­gesellschaften verrückt. Alle bejubelten den «Stunt». Man wusste ja, dass Stromae genial ist, aber dass er so genial ist, das hätte man doch nicht für möglich gehalten, so das Echo.

Diese Geschichte ist wahr, der Aufwand, mit dem ihre Inszenierung betrieben wurde, für Stromae typisch. Die Über­inszenierung einer wahren Begebenheit, das verfremdete Nacherzählen einer wahren Geschichte ist sein Marken­zeichen. Und sein Erfolgs­rezept, spätestens seit seinem zweiten Album «Racine carrée».

Ist es wirklich so cool, in den Nachrichten das Singen anzufangen?

Fast sieben Jahre war Paul Van Haver, wie der bald 37-Jährige mit bürgerlichem Namen heisst, weitgehend in der Versenkung verschwunden. Seine jahre­lange Abwesenheit hat seine Mystifizierung in den vergangenen Jahren befeuert. Ende 2021 dann ein Lebens­zeichen: ein neuer Stromae-Song. Im Januar 2022 stellte er die zweite Single seines aktuellen Albums vor, «L’enfer». Der Video­clip dazu ging um die Welt.

Wer nicht gerade auf einer einsamen Insel in den Ferien war, hat vermutlich mitbekommen, dass Stromae «L’enfer» im Januar in den französischen Abend­nachrichten zur Uraufführung brachte. Und zwar noch während eines Interviews. Das Interview lief ganz normal ab, bis Stromae auf die vierte Frage der Moderatorin nicht mit gesprochenen Sätzen antwortete. Sondern mit Musik.

Die Reaktionen bestanden beinahe ausschliesslich aus devotem Jubel, abgesehen von der – wichtigen – Nachfrage, ob ein journalistisches Format sich derart in den PR-Dienst eines Künstlers stellen dürfe.

Was kaum gefragt wurde: Ist das nicht unfassbar kitschig? Ein Sänger beginnt nach der Frage einer Journalistin zu singen? Entschuldigung, sind wir hier bei «Les Misérables»?

In einem französisch­sprachigen Medium würden diese Fragen vermutlich als Gottes­lästerung aufgefasst. Deutsch­sprachige Medien, Kritiker und Hörerinnen haben in der Vergangenheit häufig den gegen­teiligen Fehler gemacht: Sie haben Stromae chronisch unterschätzt.

Die Frage «Wie gut ist der wirklich?» wird fast nie gestellt

Seit er im Alter von 24 den Hit «Alors on danse» veröffentlichte, wurde er entweder als One-Hit-Wonder abgestempelt und als verzichtbar eingeordnet oder bejubelt. Dazwischen gab es scheinbar nichts. Die Polarisierung führte dazu, dass Stromae in den vergangenen neun Jahren der Frage nach der Qualität entging. Das heisst aber nicht, dass man sie nicht umso kritischer und umso schärfer stellen muss. Wer den Namen Stromae hört und sich denkt, «eh super», der verpasst alles, wofür sich dieser Mensch verausgabt.

Nirgendwo wird das so sichtbar, also hörbar, wie im neuen Album, «Multitude», man hört es an der Sprache und an der Musik. Beide Aspekte kann man nur begrenzt getrennt voneinander betrachten, und beide sind durchwirkt von Stromaes Ausnahme­fähigkeit, sie in Szene zu setzen.

Zu viele Stimmen im Kopf können das Leben zur Hölle machen – das gilt auch für Popstars. Michael Ferire

«Santé» heisst die erste Single. Sie ist eine Lobes­hymne auf all jene, die in der Pandemie unsichtbar gelitten und sich abgerackert haben. Stromae singt, er erhebe sein Glas auf diejenigen, die von der Gesellschaft für selbst­verständlich genommen werden und kaum etwas zurück­bekommen: Kranken­pfleger, Taxi­fahrerinnen, junge Eltern und Bäcker. Und eigentlich ist das die Steil­vorlage für maximale Peinlichkeit.

Denn es geht sehr selten gut, wenn in der Popmusik irgend­jemand auf irgend­was sein Glas erhebt, was vielleicht auch daran liegt, dass die Geste verstaubt wirkt. Eine Mitschuld tragen aber auch Pink («Raise Your Glass») oder der Klang gewordene Schüttel­frost, der einen beim Gedanken an die Ohrwurm­zeile «Ein Hoch auf uns» des deutschen Sängers Andreas Bourani überkommt.

Stromae erhebt trotzdem sein Glas auf die Malocher der Welt. Er legt einen leicht schleppenden Beat darunter, der klingt, als müsste er sich bei jeder Wiederholung besonders anstrengen, und transportiert damit über die Musik, was er vertextet: was für eine Schufterei, das alles. Auch stimmlich multipliziert Stromae diese Aussage. Er verwandelt sich singend und rappend in einen meckernden, arroganten Menschen mit Schnapp­atmung, der meint, es sei sein Recht, Menschen anzupflaumen, schliesslich bezahle er sie dafür:

Appelle-moi ton responsable, et fais vite, elle pourrait se finir comme ça ta carrière

Ruf mir deinen Vorgesetzten, und zwar fix, kann sein, dass deine Karriere hier endet

Dazu spielt Stromaes langjähriger Begleiter Manoli Avgoustinatos die Cavaquinho, eine kleine, mit Stahlseiten bespannte Gitarre, deren Klang immer wieder wie ein plötzliches Geschenk auf dem Album auftaucht. Das Besondere an diesen Klängen ist, dass sie einen sofort nach Brasilien oder Kap Verde versetzen, und von Kap Verde stammt Stromaes grosses Idol, die Sängerin Cesária Évora.

Von Bach bis Jacques Brel

«Multitude» ist, noch mehr als «Racine carrée», eine Hommage an sie. Auch das Schlüpfen in verschiedene Rollen gab es auf dem Vorgänger­album schon. In seinem Hit «Tous les mêmes» besang Stromae zum Beispiel einen Streit zwischen einer Frau und ihrem grobschlächtigen Liebhaber. Bei Konzerten nahm er dazu überzeugend beide Rollen ein, trat mit akkurat bis zur Hälfte feminin geschminktem Gesicht auf und lieferte einen Hüft­schwung ab, der die Menschen im Publikum ernsthaft ihre sexuelle Orientierung infrage stellen liess.

Auf «Multitude» vereint Stromae noch mehr Rollen in sich (daher ja auch der Titel).

In «Fils de joie», einem barocken Verwirr­spiel, sampelt er eine klassische Geige, spielt sie rückwärts ab und tritt nicht nur als Freier einer Prostituierten auf, sondern auch als ihr Zuhälter und ihr Sohn.

Der Freier kündigt seinen Fetisch an:

Et puis, cette fois-ci, bien j’pourrais l’faire en l’insultant

Diesmal machen wirs so, dass ich sie beleidige, während wirs tun

Der Zuhälter versteht nicht, warum er wie Abschaum behandelt wird:

Pourquoi tout le monde me déteste? Alors qu’ c’est moi qui les nourrit

Warum hassen mich alle? Ich bins schliesslich, der sie ernährt

Der Polizist sagt, er mache schliesslich auch nur seinen Job:

Entre l’tien et le mien, la différence, c’est que moi je paie des impôts

Mal unter uns, der Unterschied ist, dass ich meine Steuern bezahle

Und der Sohn versucht, die Würde seiner Mutter zum Sound eines sich abrackernden Cembalos zu verteidigen:

Laissez donc ma maman, oui je sais, c’est vrai qu’elle n’est pas parfaite

Lasst meine Mutter in Ruhe, ja ich weiss, es ist wahr, sie ist nicht perfekt

Das Cembalo erinnert daran, dass es Ungerechtigkeiten zulasten der Frau, die mit Sex ihr Geld verdient, schon zu Zeiten gab, als Johann Sebastian Bach noch zu jung für eine gepuderte Perücke war. Das ist schon ein ziemlich guter Witz, inmitten dieses ernsten Themas. Nicht nur bildet Stromae schon wieder musikalisch ab, wovon der Text handelt. Dadurch, dass er die Frau nur indirekt auftreten lässt, kritisiert er zugleich die Wahrnehmung der Prostituierten als Objekt, das nicht selbst sprechen darf, und macht sich über das Patriarchat lustig, das sie umgibt.

Dieser Liebe zum Detail und der Arbeit, die damit verbunden ist, ist zu verdanken, was für ein ausgezeichnetes Stück Musik «Multitude» geworden ist. Insgesamt ist das neue Album viel, viel weniger ein Tanzalbum als «Racine carrée», und der Musiker stimmlich noch näher an Jacques Brel – ein Vergleich, den er angeblich übertrieben findet. Es gibt fast keinen Song, der ohne Chanson-Anleihen oder Streicher auskommt. Keinen, der nicht in einer kleinen Weltreise besteht, der nicht plötzlich von kongolesischem Rumba in brasilianischen Samba wechseln könnte. Da sind sie wieder, die vielen verschiedenen Rollen – sogar im Rhythmus.

Sprung in den Kopf des Künstlers

Dass es allerdings nicht nur bereichern, sondern auch sehr unglücklich – und sogar krank – machen kann, so viel auf einmal in sich zu spüren, ist das dominierende Thema von «Multitude».

Stromae hat früher immer betont, dass er nicht von sich selbst erzähle, sondern nur von Geschichten, die ihm so begegnen. Die wesentliche Neuerung ist deshalb wohl die Innen­schau, die «Multitude» auch darstellt. Denn Stromae bekam im Jahr 2015 während einer Westafrika-Tournee Malaria und danach Depressionen und Panik­attacken; mutmasslich durch die Malaria­medikamente ausgelöst.

Die Depressionen sind auf «Multitude» zum Beispiel die Stimmen im Kopf im Song «L’enfer» (das ist der aus dem Interview in den Nachrichten). Er beginnt als melancholische Klavier­ballade und kippt dann mit einem Ruck und kreischenden Synthesizern in elektronisch untermalte und von einem dreistimmigen Chor herausgeschriene Kopfschmerzen:

J’ai parfois eu des pensées suicidaires
Et j’en suis peu fier
On croit parfois que c’est la seule manière de les faire taire
Ces pensées qui me font vivre un enfer

Ich hab ja auch schon an Suizid gedacht
und bin nicht stolz drauf
Man glaubt manchmal, es sei die einzige Chance, sie zum Schweigen zu bringen
diese Gedanken, die mich die Hölle erleben lassen

Suicidaire, fier, taire, enfer. Dass sich im Französischen ein Adjektiv zu «selbst­mörderisch» auf «Hölle» reimt, könnte ein Grund dafür sein, dass das Chanson in Frankreich erfunden wurde. (In Deutschland hat das Wort «Hölle» immer nur für den Schlager gereicht.)

Um Depressionen geht es auch in «Mauvaise journée». An diesem «schlimmen Tag», an all den schlimmen Tagen, lauern Stromae die depressiven Gedanken in Form düsterer Bläser auf. Er kommt nicht gegen sie an, gibt sich ihnen geschlagen und widerspricht sich erst verzweifelt, dann selbstironisch:

Aidez-moi
Je m’sens si seul
Laissez-moi
C’est mon droit d’être déprimé dans mon fauteuil

Helft mir
ich fühl mich so allein
lasst mich
ich hab ein Recht drauf, hier deprimiert auf der Couch zu vergammeln

Dann kommen schon wieder die Marsch­bläser und kubanischen Gitarren­klänge, und Stromae stellt die zugleich übertriebene, aber deswegen nicht weniger nach­vollziehbare Frage, warum es einem selbst immer so viel mehr wehtut als allen anderen. Nein, diese Musik hat eine emotionale Schwere und Tiefe, die einen nicht unbedingt zum Tanzen animiert. Sie hält einen aber auch davon ab, das Album im Hinter­grund laufen zu lassen. Es reicht nicht, Stromae mit den Ohren zu hören. Man hört ihn mit der Lunge. Nach jedem Atemzug, den man getan hat, kommt eine neue Überraschung.

Wer sich die Zeit nimmt, wird dieses Album 15-mal sehr nahe am Laut­sprecher hören können und noch etwas Neues entdecken. Und wird trotzdem nie diese Fragen beantworten können: Ist das ein Orchester? Oder eines von diesen teuflisch guten Samples, die es mittlerweile gibt?

Es ist ein Zeichen der Raffinesse dieses Albums. Was organisch gespieltes Instrument und was elektronische Kopie ist, ist fast nicht auseinander­zuhalten. Stromae arbeitet teilweise auf dem neuen Album mit dem belgischen National­orchester zusammen (Streicher! Bläser! Dudelsack!), teilweise mit Samples. Fast alle Songs auf dem Album hat er selbst produziert (typisch für Perfektionisten, alles selbst machen zu wollen) und sein Lieblings­spiel auf eine neue Spitze getrieben: Die Inszenierung der echten Instrumente als elektronische Reproduktionen und umgekehrt ist die ultimative Inszenierung der wahren Geschichte. Sie zeigt sich nicht nur auf der Ebene der Musik, sondern auch auf der Ebene der Texte und im durch­choreografierten Tanz, mit dem er gerade in ausgewählten Late-Night-Shows auftritt.

Es ist, wie das Song­interview aus den Abend­nachrichten, total überzogen. Aber es ist so ausnehmend gut gemacht, dass man es schlicht bewundern muss. Und es wird dauern, bis das jemand nachzumachen imstande ist.

Übrigens schliesst und beginnt «Multitude» sehr hoffnungs­voll. Der erste Song, eines der wenigen Stücke in einer Dur-Tonart, drückt schon im Titel aus, dass hier einer das Schlimmste überstanden hat, «Invaincu», unbesiegt. Und nach der «Mauvaise journée», dem schlimmen Tag, kommt als letzter Song, als Abschluss, «Bonne journée», der gute Tag.

Hier fährt Stromae noch mal das ganze Arsenal auf: ein fernöstlich klingendes, gezupftes Grund­thema, schwingende afrikanische Chöre, Flöten. Es ist die letzte Weltreise, bevor einen dieses Album geplättet entlässt.

Wenn man nur halb so gut durch die Zähne pfeifen könnte wie Stromae, man würde es tun.