«Viele Dinge, an die sich die Russen gewöhnt haben, werden nun verschwinden»

Mit Sanktionen des Westens habe Putin gerechnet, sagt der Ökonom und Russland­experte Janis Kluge. Aber nicht mit so harten. Und vor allem nicht mit ihrer Dynamik.

Ein Interview von Philipp Albrecht und Ronja Beck, 04.03.2022

Seit russische Truppen Ende des letzten Jahres Stellungen an der ukrainischen Grenze bezogen haben, ist Janis Kluge als Ökonom und Russland­experte ein gefragter Mann. Er gibt nicht nur Einschätzungen für die Öffentlichkeit ab, sondern berät in erster Linie die Politik. Derzeit ist seine Expertise in Ministerien und im Deutschen Bundestag gefragt.

Herr Kluge, Sie haben kürzlich in einem Interview gesagt, der Krieg werde Russland in den Abgrund stürzen. Was haben Sie damit gemeint?
Russland wird in den nächsten Tagen und Wochen eine massive Trans­formation durchlaufen von einer international vernetzten Wirtschaft zu einer vom Westen isolierten Wirtschaft. Der Lebens­standard der Russen wird sich dadurch massiv verändern. Wir rechnen mit einem Einbruch der Wirtschafts­leistung von bis zu 20 Prozent. Es gibt keinen Präzedenz­fall, wo eine so tief vernetzte Wirtschaft in so kurzer Zeit weitgehend von inter­nationalen Beziehungen ausgeschlossen wurde. Es ist auch ein gesellschaftlicher Abgrund, ganz besonders für den Mittel­stand. Das hat nicht nur mit den Sanktionen zu tun, sondern damit, dass in Russland viele bestürzt sind über diesen Krieg und die Reaktion des Staates darauf extrem repressiv ist. Wir sehen eine gesellschaftliche Veränderung durch diese Schrecken des Krieges. Und wir sehen eine Transformation des russischen politischen Systems hin zu einer noch mal deutlich autoritäreren Zeit.

Mit welchen Folgen?
Es kann bis dahin gehen, dass an irgendeinem Punkt das Kriegs­recht in Russland ausgerufen wird. Das sind Szenarien, wie man sie sich nicht vorstellen kann. Es ist für mich völlig unklar, ob dieses politische System stabil bleibt. Das Regime stützt sich aktuell fast nur noch auf Repression und Propaganda.

Es gibt kaum Demonstrationen im Land. Glauben Sie, dass die Sanktionen der Opposition in Russland helfen?
Es gibt dort aktuell keine tatsächliche Opposition. Die Organisationen, die man ihr hätte zuordnen können, wurden zerschlagen. Es gibt eine Opposition auf dem Papier, die aber loyal ist und grössten­teils für den Krieg gestimmt hat. Wer gegen den Krieg auf die Strasse geht, ist polizeilicher Gewalt ausgesetzt. Studierende müssen damit rechnen, dass sie aus der Uni exmatrikuliert werden. Wer sich jetzt gegen den Krieg ausspricht, riskiert Freiheit und Karriere.

Zur Person

zvg

Dr. Janis Kluge, 39, ist Ökonom und forscht für die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin über Russland, Ost­europa und Zentral­asien. Die SWP bezeichnet sich selber als einer der grössten Thinktanks Europas in den Bereichen Aussen- und Sicherheits­politik. Finanziert wird sie durch den deutschen Staat, Stiftungen und mehrere deutsche Unternehmen. Kluge berät unter anderem Bundestags­abgeordnete und verschiedene Ministerien. Er stammt aus Kassel und lebt in Berlin.

Was bekommt die Bevölkerung überhaupt vom Krieg mit?
Die russische Gesellschaft wurde in den letzten Jahren von der Propaganda und vom System darauf konditioniert, ihr normales Leben zu leben und sich nicht mehr in die Politik einzumischen. Aber das wird jetzt schwierig werden. Ich glaube, wir können inzwischen sagen, dass der Krieg in dieser Form nicht geplant war. Er sollte nicht so blutig werden. Die Art und Weise, wie der Einmarsch organisiert war, war darauf ausgelegt, dass der Widerstand ausbleibt. Diese Fehl­kalkulation hat zu einem sehr, sehr blutigen Krieg geführt. Ein Rückzug der Russen ist erst einmal nicht möglich. Darum hat Putin seine Taktik in der Ukraine geändert und versucht nun, über Bomben­angriffe die Zivil­bevölkerung zu treffen und damit zu demoralisieren. Für diejenigen in Russland, die das realisieren, ist diese Situation schrecklich. Es gibt einige im Land, die versuchen, den Krieg zu verdrängen und ihr gewohntes Leben weiter­zuleben. Aber die Sanktionen werden für alle im Land spürbar werden. Viele Dinge, an die sich die Russen gewöhnt haben, werden in Zukunft nicht mehr zur Verfügung stehen. Es wird eine hohe Inflation und wahrscheinlich auch Arbeits­losigkeit geben.

Glauben Sie, Putin wurde überrascht von der Wucht dieser Sanktionen? Etwa, dass Devisen­reserven der russischen Zentral­bank im Ausland blockiert wurden?
Damit hat er wohl nicht gerechnet. Auch weil er nicht mit diesem Verlauf des Krieges gerechnet hat. Das hängt ja miteinander zusammen. Auch für mich war es überraschend, dass sich der Westen zu dieser Art von Reaktion durch­ringen konnte. Denn die Kosten sind sehr hoch.

Warum hat Putin nicht mit solchen Sanktionen gerechnet?
Weil es in den letzten Jahren Risse gab im westlichen Sanktions­bündnis. Weil die Sanktionen nach Beginn der Gefechte im Donbass 2014 ein vollständig anderes Kaliber waren. Und auch weil Russland 2008 nach dem Einmarsch in Georgien relativ glimpflich aus dem Konflikt dort heraus­gekommen ist. Was nun das Einfrieren der russischen Reserven angeht: Das ist eine begleitende Massnahme, die verhindert, dass Russland die anderen Sanktionen abfedert. Aber es ist gleichzeitig auch die härteste Massnahme selbst, weil es eben die gesamten Bemühungen Russlands, sich gegen Sanktionen immun zu machen, konterkariert. Das hat man sicherlich nicht erwartet, sonst hätte man auch nicht das Aufbauen der Zentralbank­reserven als einen Schlüssel-Abwehr­mechanismus überhaupt erst installiert.

Damit sprechen Sie die Tatsache an, dass Russland in den letzten Jahren im grossen Stil Devisen angehäuft hat.
Russland hat in den letzten Jahren eine Art Austeritäts­politik betrieben, also zumindest nach 2014 und 2016, als der Ölpreis sehr niedrig war. Sozial­leistungen wurden reduziert und eine Renten­reform eingeführt, also das Renten­alter erhöht. Das hat extrem viel politisches Kapital gekostet, Putins Popularität ist danach eingebrochen. Diese politisch unangenehmen Schritte hat die russische Regierung unternommen, um die Devisen­reserven aufbauen zu können, um vom Ausland unabhängiger zu sein und damit sicher vor Sanktionen. Vergebens, wie sich nun zeigt. Zwar hat die Zentral­bank weiterhin einen gewissen Aktions­radius, sie hat noch Gold und andere Reserven. Aber dass es so hart kommt, damit hat man ganz offensichtlich nicht gerechnet.

Warum hat Putin nicht bedacht, dass diese Devisen­reserven, die im Ausland lagern, eingefroren werden?
Weil der Schaden für den Westen selbst sehr hoch ist. Er ist schwer zu beziffern, aber wir sprechen von mehreren Dutzend Milliarden Dollar, die es den Westen kostet, die Sanktionen durchzusetzen. Man hat wohl in Russland nicht geglaubt, dass dieser Krieg für den Westen eine so fundamentale Sache wird.

Wie meinen Sie das?
Aus unserer Perspektive ist natürlich klar, dass hier ein autokratischer Staat eine Demokratie vernichten will. Doch in Russland wird die Demokratie im Westen oft einfach als Lippen­bekenntnis gesehen. Putin hat vor einigen Tagen den Westen als Imperium der Lüge bezeichnet. Man hält die westliche Demokratie eigentlich für eine Heuchelei. Letztlich ist man in Russland immer davon ausgegangen, dass bei uns Wirtschafts­interessen und harte Macht­interessen regieren und nicht Werte oder Moral­vorstellungen, wie sie jetzt ein wichtiger Treiber dieser Sanktionen sind. Der Westen könnte ja auch eine sehr kühl kalkulierte Macht­politik betreiben und – salopp formuliert – die Ukraine abschreiben und versuchen, sich nicht selbst durch kostspielige Sanktionen wirtschaftlichen Schaden zuzufügen. Das wäre ja eine Position, die aus russischer Sicht nahe­liegender wäre. Und dass man das nicht tut, hat Putin wohl überrascht.

Aber Öl und Gas können weiterhin aus Russland gehandelt werden. War es falsch von Europa, auf dieses Embargo zu verzichten?
Die Sanktionen wirken auf sehr unterschiedliche Weise. Man hat sich in der ersten Phase auf Finanz­sanktionen konzentriert, weil sie sofort wirken. Mit Finanz­sanktionen gegen Banken kann man praktisch innerhalb von Minuten den Zusammen­bruch des russischen Aktien­markts erwirken. Banken sind das Nerven­system des internationalen Handels und der internationalen Wirtschafts­zusammen­arbeit. Wenn man da eine system­kritische Grossbank Russlands mit dem härtesten Instrument der Amerikaner belegt, sogenannten blocking sanctions, dann trennt man Nerven­bahnen des Wirtschafts­organismus. Was die Rohstoff­exporte angeht: Russland verdient damit etwas mehr als eine Milliarde US-Dollar pro Tag. Davon stammen ungefähr 700 Millionen aus dem Öl- und etwa 150 Millionen aus dem Gas­handel. Natürlich ermöglicht das Russland, aktuell den Schaden etwas in Grenzen zu halten. Das ist auch einer der Gründe, warum der Absturz des Rubels jetzt nicht so dramatisch war. Ob Russland jetzt 10 Milliarden mehr oder weniger Devisen hat, ist für das aktuelle Chaos im russischen Wirtschafts­system erst einmal nicht so wichtig, weil das Problem für Russland ein anderes ist.

Welches?
Die Dynamik der Sanktionen. Aktuell weiss man weder in Russland noch bei den Handels­partnern im Westen noch in Indien oder China, ob in zwei Wochen noch ein Geschäft gemacht werden kann, ob Zahlungen abgewickelt werden können, ob irgend­etwas geliefert werden kann. Wirtschafts­akteure verhalten sich deshalb heute schon so, als ob bereits schärfere Sanktionen eingeführt worden wären. Man nimmt das vorweg. Diese strafende Reaktion des Marktes ist eigentlich die härteste Sanktion. Die Unsicherheit, dieses Chaos und die Frage, welche Bank morgen überhaupt noch eine Zahlung abwickelt, lässt sozusagen die Handels- und Zahlungs­ströme gefrieren. Alle Unter­nehmen warten ab. Das ist ähnlich wie am Anfang der Corona-Krise, als alles zum Stillstand kam. Ich denke, dass wir bald auch über Massnahmen wie eben ein Ölembargo sprechen müssen. Wir haben auch schon eine sehr starke Reaktion beim Ölpreis aktuell, was eine Antizipation einer solchen Massnahme ist.

Heisst das, dass ein Ölembargo des Westens ein nächster eskalierender Schritt sein könnte?
Wir haben beim Kriegs­verlauf in der Ukraine wahrscheinlich noch nicht die schlimmste Entwicklung gesehen. Bei einer Bombardierung Kiews wird sich der Westen spätestens die Frage stellen müssen, wie man darauf noch reagieren kann. Dann wird das Embargo ins Gespräch kommen. Man kann natürlich auch noch weitere Banken mit Sanktionen belegen. Bisher sind es nur sieben russische Banken, die wirklich mit blocking sanctions belegt sind. Denn das Ölembargo wird sehr schwer durch­zuführen sein, weil Russland ein wichtiger Akteur im internationalen Energie­markt ist und weil die Preise ohnehin schon so angespannt sind. Bei einem Embargo muss man für Ersatz sorgen: Man muss aus den strategischen Reserven im gleichen Umfang Öl freigeben, wie man es durch ein Embargo von Russland eben nicht mehr bezieht. Das heisst, es braucht sehr massiven politischen Druck auf die Opec-Ölförder­staaten, insbesondere Saudi­arabien, das noch über ziemlich grosse Reserven verfügt und vielleicht auch daran interessiert wäre, dem jetzt isolierten und angeschlagenen Russland Markt­anteile abzunehmen. Zwischen den beiden gibt es ein Konkurrenz­verhältnis, das der Westen nutzen müsste.

Ist es ausgeschlossen, dass China auch Teil des Sanktions­bündnisses wird?
Für China steht in dieser Krise sehr viel auf dem Spiel. Auf der einen Seite ist es wirtschaftlich eng mit dem Westen verflochten. Dieses Verhältnis möchte China nicht durch Russland bestimmen lassen, es will nicht in diese Krise hinein­gezogen werden. Auf der anderen Seite schätzt es die Partnerschaft mit Russland und möchte Moskau nicht vor den Kopf stossen. Für China ist Russland ein extrem wichtiger Partner auf der internationalen Welt­bühne. Das Land steckt also in einem Zwiespalt, deshalb hören wir aktuell sehr wider­sprüchliche Äusserungen aus Peking. Natürlich wäre es wünschens­wert, dass China Druck ausüben würde auf Moskau. Aber das können wir nicht erwarten.

China fürchtet ums eigene Business.
Wir sehen, wie chinesische Staats­banken jetzt erst mal keine Rohstoff­geschäfte mit Russland mehr finanzieren. Sie handeln nach einer Geschäfts­logik, sehen Geschäfts­risiken, weil man nicht absehen kann, was an Trans­aktionen in zwei Wochen noch möglich ist. Auch ob eine bestimmte Bank dann noch beim Zahlungs­system Swift ist, ob sie überhaupt noch existiert, ob die Lieferung überhaupt ankommt, weil vielleicht irgendein Reeder jetzt nicht mehr mit Russland kooperieren darf. Es gibt zurzeit in der gesamten Kette der wirtschaftlichen Kooperation so viele Stellen, wo alles Mögliche wegbrechen kann.

Infolge der Gefechte im Donbass ab 2014 hat der Westen Russland bereits Sanktionen auferlegt. Dennoch hat Putin die Invasion gestartet. Was haben diese Sanktionen damals überhaupt gebracht?
Sie haben Putin an den Verhandlungs­tisch gezwungen und dazu gebracht, sich auf die Minsker Vereinbarungen zur Befriedung des Krieges einzulassen. Und ich denke, die Sanktionen hatten damals einen deeskalierenden Effekt. Russland befand sich zeitgleich in einer Wirtschafts­krise, ausgelöst durch den fallenden Ölpreis. Man kann gar nicht genau sagen, wie viel wirtschaftlicher Schaden auf die Sanktionen zurückgeht, wie viel auf den Ölpreis. Zusammen hat beides aber zu einer enormen Bedrängung Moskaus geführt, zu einer grossen wirtschaftlichen Unsicherheit. Natürlich ist dieses Kaliber von Sanktionen heute für Russland überhaupt kein Problem mehr, man hat sich an diese Einschränkungen gewöhnt.

Was halten Sie von individuellen Massnahmen von Reedereien wie Maersk und MSC, die russische Transporte stoppen, oder Apple, das in Russland keine Produkte mehr verkaufen will – sind diese Massnahmen wirksam?
Natürlich. Hier zeigen sich nun genau diese Probleme, vor denen alle Unter­nehmen stehen, die bisher mit Russland Geschäfte gemacht haben. Niemand weiss, wer als Nächstes seine Tätigkeit in Russland einstellt. Es müssen viele zusammen­kommen, damit ein Gut von hier nach Russland gelangt und dort verwendet werden kann. Und wenn etwa Reedereien ausfallen, bricht ein kritischer Teil in der Handels­kette weg.

Und umgekehrt gefragt: Wie wichtig ist Russland als Markt für international tätige Unternehmen?
Russland ist ein kleiner Markt. Wir sprechen hier von 2 bis 3 Prozent der Welt­wirtschaft, wenig Wachstum und einer Bevölkerung von 140 Millionen Menschen, die insgesamt nicht besonders zahlungs­kräftig ist. Es gibt weitaus interessantere Orte für multi­nationale Konzerne, insbesondere auch weil man sich in Russland massiven Reputations­risiken oder politischen Risiken aussetzt.

Sehen Sie ein absehbares Ende dieses Krieges?
Ich erwarte, dass er sich zu einem langen Partisanen­krieg entwickelt. Voraus­gesetzt, es gibt keine überraschende Wendung und Russland lässt von seiner Offensive ab. Gleichzeitig halte ich es für fast ausgeschlossen, dass sich die ukrainische Bevölkerung mit einem russischen Marionetten­regime – was ja das Ziel Putins in der Ukraine ist – abfinden wird. Es ist ein Krieg, den Russland nicht gewinnen kann.