Gegen die Sprachlosigkeit
Der Krieg in der Ukraine verschlägt uns die Worte. Doch die osteuropäische Literatur hat dem Verstummen und der Fassungslosigkeit etwas entgegenzusetzen. Zwei Veranstaltungen vom Wochenende zeigten dies eindrucksvoll.
Von Daniel Graf, 28.02.2022
«Der Krieg», schreibt der grosse ukrainische Autor Serhij Zhadan, «ändert das Vokabular. Er reaktiviert Wörter, die man bis dato nur aus historischen Romanen kannte. Vielleicht weil Krieg immer auch die Geschichte reaktiviert. Man kann sie sehen, schmecken, riechen. Meist riecht sie verbrannt.» Und dann: «Der Krieg bringt seine eigenen Wörter hervor.»
Dieser Text, bezeichnenderweise ein Vorwort für eine Sammlung von «Gedichten und Prosa aus dem Krieg», erschien in der deutschen Übersetzung von Claudia Dathe und Esther Kinsky 2016, doch lässt sich, was Zhadan schreibt, auch auf die vergangenen Tage beziehen.
Wie jeder Aggressionskrieg hat auch Putins Krieg direkt mit Sprache zu tun. Er wurde vorbereitet durch dreiste Lügen, die skrupellose Entstellung von Begriffen, das Verbiegen der Worte bis zum Verlust jeglichen Sinns. Putins aggressiver Geschichtsrevisionismus ist die Aufkündigung sämtlicher Grundlagen von Kommunikation – bis auf die der Propaganda. Und seit der Krieg die Menschen in der Ukraine überfallen hat, greift seine schiere Unmenschlichkeit auch unsere Sprachfähigkeit an. Dass wir «keine Worte finden», ist eben nicht nur eine Floskel. Sondern Ausdruck einer Beklemmung, die Zuflucht sucht bei einem Gegenüber.
Fassungslosigkeit, sagte die Lektorin Katharina Raabe am Samstag im Berliner Maxim-Gorki-Theater, sei eben noch keine Antwort: «Man muss der Fassungslosigkeit die Form entgegenhalten, dem Schweigen die Sprache.»
Wie das gehen kann, zeigte die von Raabe gemeinsam mit der Übersetzerin Olga Radetzkaja kurzfristig organisierte Veranstaltung «Sprachlos die Sprache verteidigen», eine Lesung «für die Ukraine» und eine unmittelbare Reaktion auf Putins seit Donnerstag geführten Angriffskrieg. Zwölf in Berlin lebende Autorinnen lasen aus Texten von zwölf osteuropäischen Kollegen. So wie der Osteuropa-Historiker Karl Schlögel, der, sichtlich angefasst, darauf aufmerksam machte, dass der Epilog in Artur Klinaus Essay «Acht Tage Revolution» über Belarus «in Wahrheit schon der Prolog» sei «für das, was jetzt unter unseren Augen geschieht». Oder wie Herta Müller, die den eingangs zitierten Text von Serhij Zhadan vortrug.
Dass auf der Bühne (und vor Hunderten Zuschauerinnen im Livestream) vorgelesen wurde, ist keine Äusserlichkeit, sondern führt in den Kern der Sache. Zum einen machten die Autoren damit eine Literatur hörbar, die in unseren Breitengraden viel zu oft vernachlässigt wird und die auch in den letzten Jahren, als längst schon ein Krieg im Donbass im Gange war, zu wenig zur Kenntnis genommen wurde. Zum anderen führt diese Form des literarischen Dialogs auch aus dem eigenen Verstummen heraus. Lesen ist, das wurde im Gorki sehr deutlich, auch eine Möglichkeit, die eigene Sprache zurückzugewinnen.
Nora Bossong etwa las nicht nur Prosa von Katja Petrowskaja und Gedichte von Elena Fanajlowa, sondern erklärte auch, sie sei beschämt, dass gerade die deutsche Bundesregierung bisher harte Sanktionen gegen Russland blockiere (was sich dann am Samstagabend ändern sollte) – ein Satz, den man am selben Tag bei der Demo in Bern ganz ähnlich, nur auf die Schweiz gemünzt, von SP-Nationalrat Cédric Wermuth hörte.
Durs Grünbein trug nicht nur aus Gedichten der russischen Lyrikerin Maria Stepanova vor, sondern betonte, wie wichtig gerade jetzt «die Unterscheidung zwischen Russland und Putinland» sei – eine Bemerkung, die man angesichts von mutigen Strassenprotesten und offenen Protestbriefen auch in Russland nur unterstreichen kann.
Und Dmitrij Kapitelman machte mit einem Essay der ukrainischen Autorin und Verlegerin Kateryna Mishchenko auch darauf aufmerksam, dass die Autorin in der Nacht zuvor mit ihrer Familie aus Kiew fliehen musste.
Was den Bogen zu der Veranstaltung im Zürcher Literaturhaus schlägt, zu der Mishchenko am Sonntag aus der westukrainischen Stadt Iwano-Frankiwsk zugeschaltet war, um mit Maria Stepanova (ebenfalls via Zoom) sowie der georgischen Autorin Ana Kordsaia-Samadaschwili zu diskutieren. Geplant hatte das Literaturhaus die Veranstaltung im Rahmen seines Festivals zur Literatur der Kaukasusregion schon vor Monaten. Nun bekam der Titel des abschliessenden Podiums einen brennend aktuellen Akzent: «Wer, wenn nicht die Literatur?» Wer, wenn nicht die Autorinnen, kann aus der Sprachlosigkeit herausführen?
An der Diskussion hätte auch der ukrainische Schriftsteller Artem Tschech teilnehmen sollen. Nach den Ereignissen von Donnerstagnacht wurde er zum Armeedienst eingezogen. Das bringt vielleicht am deutlichsten auf den Punkt, warum es eine absurde Vorstellung ist, von betroffenen Literaten Texte zur unmittelbarsten Gegenwart zu fordern. Aber es gibt die früheren Texte. Es gibt kurze, aktuelle Interventionen. Und es gibt, wie am Wochenende, das Gespräch über Grenzen hinweg, eine gemeinsame Suche nach Worten: im öffentlichen Raum.
Vielleicht ist das die stärkste und durchdringendste Erfahrung der Zürcher wie der Berliner Veranstaltung: Im öffentlichen Gespräch und in der klassischen, oft abfällig so genannten «Wasserglaslesung», ist die vierte Wand zwischen Bühne und Publikum am stärksten aufgelöst. Was diese Veranstaltungen schaffen, ist ein gemeinsamer Raum – auch als Ort für Solidaritätserfahrungen und die gemeinsame Überwindung der Sprachlosigkeit.
In «Prag, Jänner 64», einem Gedicht, das den Weg aus einem tiefen Verstummen thematisiert, hat Ingeborg Bachmann geschrieben:
Gehen, schrittweis ist es wiedergekommen.
Sehen, angeblickt, habe ich wieder erlernt.
Das Sehen kommt hier durchs Angesehenwerden. Man darf das als Bild für die Sprache lesen: Es ist der soziale Raum, es sind die Worte anderer, die die eigenen mit hervorbringen. Wo die eigene Sprache versiegt, finden andere heraus aus der Sprachlosigkeit und stossen mit ihren Worten andere an.
Wer in der ukrainischen, russischen und belarussischen Literatur der letzten Jahre liest, wird genau diese Erfahrung machen. Der Sprachlosigkeit ist immer schon etwas entgegengesetzt. Weil andere bereits zuvor, oft unter ungleich widrigeren Bedingungen, ihre Sprachlosigkeit überwunden und ihren Gedanken eine Form gegeben haben, durch das Verstummen und das Schweigen hindurch.
Oder wie es Ana Kordsaia-Samadaschwili am Sonntag im Zürcher Literaturhaus auf Deutsch formulierte: «Die besten Bücher über den Krieg sind schon geschrieben.»
Man muss ergänzen: In ein paar Jahren werden neue dazugehören.