Szenen einer Krise
Wie schlimm hat Corona die Weltwirtschaft wirklich getroffen? Und was bleibt von der «Jahrhundertkrise»? Rückblick auf zwei aussergewöhnliche Jahre, Ausblick in eine ungewisse Zukunft.
Von Simon Schmid (Text) und Pieter Van Eenoge (Illustration), 22.02.2022
Am 24. Februar 2020, einem Montag vor ziemlich genau zwei Jahren, beginnt der Sinkflug. Die Börsenkurse rasseln nach unten – wegen Corona. «Anleger voller Angst vor Pandemie», titelt am Tag darauf die «Neue Zürcher Zeitung». «Panik an den Börsen» zum Ende der Woche die «Finanz und Wirtschaft».
Es ist einer der heftigsten Börsencrashs, die die Finanzwelt je gesehen hat. Innerhalb eines Monats sinken die Kurse um ein Drittel. Auch die Realwirtschaft ist betroffen: Produzenten können nicht produzieren, Konsumentinnen nicht konsumieren – Covid-19 verschont niemanden.
Grenzen werden gesperrt, Veranstaltungen abgesagt, Läden geschlossen. Zum ersten Mal seit Generationen erlebt die Welt synchron einen solchen Ausnahmezustand. Und bald steht die Frage im Raum: Wird sich die Corona-Krise zur «Jahrhundertkrise» auswachsen – zu einem Ereignis, das die Weltwirtschaft nicht nur hart trifft, sondern sie auch fundamental verändert?
Die Antwort darauf ist bis heute nicht ganz einfach zu geben. Denn seit Beginn der Corona-Pandemie ist dermassen viel passiert, dass man leicht den Überblick darüber verliert, was wirklich wichtig war – und was nicht.
Doch der Blick zurück – die nochmalige Reise durch das Auf und Ab der vergangenen zwei Jahre – hilft, darüber nachzudenken. Und der Corona-Krise, dieser so sonderbaren Episode, einen einordnenden Sinn zu geben.
Shutdown: Die Wirtschaft wird stillgelegt
Als Regierungen im Frühling 2020 den Shutdown verhängen, steht die Welt einen Moment lang still. Flugzeuge bleiben am Boden, Restaurants machen dicht. Wer keine «systemrelevante» Arbeit verrichtet, darf nicht ins Büro.
Je nach Region werden bis zu 20 Prozent weniger Arbeitsstunden geleistet. Das ist ein historisch beispielloser Rückgang. Viele Länder sind vom Virus überrumpelt; es fehlt an Schutzmasken, Desinfektionsmittel, Testkits. Und niemand weiss zu jener Zeit, wie lange der Krisenmodus währen wird.
Für risikofreudige Spekulantinnen ist dies die goldene Gelegenheit, an der Börse einzusteigen, wie sich bald herausstellen wird. Für alle anderen ist es ein Schockmoment. Die Weltwirtschaft tanze «auf einem Drahtseil», urteilt die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD).
Ihre Prognose ist düster: Um 12 Prozent soll die globale Wirtschaftsleistung kurzfristig einbrechen. Und selbst zwei Jahre nach Ausbruch der Pandemie soll sie immer noch 6,5 Prozent unterhalb ihres wahren Potenzials liegen.
Ein solcher Einschnitt wäre drastischer als während der Finanzkrise 2008 und sogar härter als während der Grossen Depression der 1930er-Jahre. Und so nennt auch der Internationale Währungsfonds (IWF) in seinem Outlook-Bericht vom Sommer 2020 die Corona-Krise «eine Krise wie keine andere».
Kickstart: Die Wirtschaftspolitik greift durch
Doch was genau ist eigentlich derart einzigartig an dieser Corona-Krise? Ein Punkt, der auf der Hand liegt: Die Krise hat einen besonderen Auslöser.
Viele Krisen sind nach geplatzten Blasen entstanden – etwa die Finanzkrise als Folge eines waghalsigen Immobilienbooms in den USA; oder auch die Eurokrise, nachdem sich herausgestellt hatte, dass Investoren in Ländern wie Griechenland ihr angelegtes Geld verlieren würden. Andere Krisen folgten auf geopolitische Ereignisse: Als die Golfstaaten im Jom-Kippur-Krieg von 1973 den Ölhahn zudrehten, stürzten zahlreiche Länder in die Rezession.
Doch eine weltumspannende Wirtschaftskrise als Folge eines neuartigen Virus: Das hat es in der Menschheitsgeschichte wohl noch nie so gegeben.
Und so sind die Gesundheitsbehörden vielerorts zunächst überfordert. Maskenpflicht, Testing, Contact-Tracing: Besonders im Westen fällt es schwer, ein adäquates Pandemiedispositiv zu organisieren.
Anders die Finanzministerien und Zentralbanken: Sie haben genügend Erfahrung mit Krisen. Rasch realisieren sie, dass jetzt – ein gutes Jahrzehnt nach der letzten grossen Krise – erneut eine überzeugende Reaktion gefordert ist.
Sinnbildlich dafür steht der 25. März 2020. An diesem Tag halten Ueli Maurer, Thomas Jordan und Mark Branson in Bern eine Pressekonferenz ab. Die Chefs des Schweizer Finanzdepartements, der Nationalbank und der Eidgenössischen Finanzmarktaufsicht (Finma) verkünden ein milliardenschweres Kreditprogramm: Firmen können sich bei ihrer Hausbank gratis Geld leihen, um trotz Umsatzeinbussen liquid zu bleiben.
Der Auftritt ist ein Signal: Der Schweizer Staat wird keine Kosten scheuen, um die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie abzumildern. Nach und nach werden in der Folge auch die Arbeitslosenversicherung, die Kurzarbeit und die direkte Unterstützung betroffener Branchen ausgebaut. Obwohl die Massnahmen bei weitem nicht perfekt sind – so manche Selbstständige fällt durch die Maschen –, erfüllen sie doch ihren Zweck: Angestellte behalten ihre Jobs, Unternehmen bleiben im Geschäft, die Kaufkraft bleibt erhalten.
Ähnliche Efforts unternehmen zu dieser Zeit praktisch alle Industrieländer, seien es die USA, Japan oder Frankreich. Und auch Schwellenländer wie Indien bauen das soziale Sicherheitsnetz im Rahmen ihrer Möglichkeiten aus. Sie verabreichen der Konjunktur damit einen substanziellen Booster.
Auch die Zentralbanken stehen in der Corona-Krise bereit – wie eigentlich immer bei Krisen im vergangenen Vierteljahrhundert. Viele von ihnen senken die Zinsen und pumpen Geld in die Finanzmärkte sowie ins Bankensystem. Das stellt sicher, dass einen Kredit bekommt, wer ihn auch braucht.
Zum Jahresende dreht deshalb die Stimmung. Optimismus herrscht: Hatte der Internationale Währungsfonds seinen Jahresbericht im Oktober 2020 noch unter die Überschrift eines «langen und schwierigen Aufstiegs» gestellt, so träumt die OECD im Dezember bereits von einer besseren Zukunft: «Turning hope into reality».
High life: Ein Stich in den Arm für die Konjunktur
So ungewöhnlich die Corona-Krise beginnt, so abgeklärt und konventionell begegnet ihr also die Wirtschaftspolitik. Sie verschreibt noch mehr von derselben Medizin – geldpolitische und fiskalpolitische Stimuli –, wie sie schon in der Finanzkrise zum Einsatz kam. Und sie wiederholt nicht die Fehler, die in der Eurokrise passiert sind – als manche Staaten zu sparen begannen, dabei hätte in dem Moment die Wirtschaft die Unterstützung am dringendsten gebraucht.
Obwohl über die Nordhalbkugel gegen Ende 2020 die zweite Pandemiewelle fegt – und Regierungen erneut Einschränkungen für Bars und Restaurants, für Fitness und Wellness, für Konzerte und Theaterbesuche beschliessen –, kommen die Konjunkturschätzungen in dieser Phase deshalb entspannter daher.
Den Grund dafür formuliert die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich rückblickend so: Als Covid-19 ausbrach, war unter Ökonominnen die Angst weitverbreitet, dass die Krise dauerhafte «Narben» im Konsum hinterlassen würde. Weil sie den Job verloren hätten – oder auch aus Furcht davor –, würden Menschen weniger Geld ausgeben, und das wiederum würde der Wirtschaft dauerhaften Schaden zufügen. Doch diese Befürchtung stellt sich als unbegründet heraus. «Das Verlangen nach Normalität war stärker.»
Massgeblichen Anteil daran haben die Impfungen, die in jenen Monaten ausgerollt werden. Nicht «im Kopf», wie der Slogan während der Rezession der 1990er-Jahre in der Schweiz hiess, sondern mit einem Stich in den Arm beginnt in der Corona-Krise also der Aufschwung. Das Vakzin verheisst eine baldige Rückkehr zum gewohnten Leben, fast so, wie es vor Covid-19 war.
«Konjunkturhilfen und Impfungen dürften die Aktivität heben», titelt denn auch der Internationale Währungsfonds über sein Update vom Januar 2021. Die einschlägigen Indikatoren zeigen nun einhellig nach oben. In der Schweiz klettert etwa das Barometer der Konjunkturforschungsstelle KOF im März auf ein Zehnjahreshoch.
Und auch die Börse schüttelt das Coronavirus ab. Im Februar 2021, nur ein Jahr nach dem Crash, stehen die Kurse bereits wieder 15 Prozent über dem alten Spitzenwert. Aktien, Immobilien, Rohstoffe, Kryptowährungen: Beinahe alles, was auf irgendeinem Markt gehandelt wird, legt an Wert zu.
In den USA schnürt Präsident Joe Biden ein 1,9-Billionen-Dollar-Hilfspaket, und in Europa nimmt der 750-Milliarden-Euro-Wiederaufbaufonds Gestalt an, den die Staats- und Regierungschefs im Jahr zuvor beschlossen hatten. Für die EU, die in Krisen oft hilflos gewirkt hat, ist dies ein riesiger Erfolg.
So bringt der Frühling 2021 zumindest im Westen eine lockere Atmosphäre mit sich, die auch Schreckensmeldungen aus dem Rest der Welt verkraftet («Indiens massive zweite Welle ist ein Desaster für das Land und die Welt»).
Verwerfung 1: Vom Kaufrausch zum Engpass
Doch die Zuversicht trübt sich ein weiteres Mal. Den Expertinnen wird klar: Ganz so einfach wird es mit dem Post-Covid-Aufschwung doch nicht.
Denn dieser Aufschwung ist «kein gewöhnlicher Aufschwung» (OECD), sondern ein «divergenter» (IWF), ein auseinanderlaufender Aufschwung. Ansatzweise deutet sich das bereits in den ersten Krisentagen an, als ein Run auf Toilettenpapier einsetzt. Das simpelste aller Konsumprodukte wird plötzlich zur Mangelware, weil Menschen ihr Kaufverhalten verändern.
Statt nach Ibiza zu reisen und im Pub Bier zu trinken, geben die Leute ihr Geld nun für andere Dinge aus. Hanteln und Hometrainer sind in, Laptops und Bildschirme, Velos und Gebrauchtwagen. Ganz allgemein schnellen die Verkäufe von Konsumgütern, speziell von langlebigen Gütern, in die Höhe. Jene von Dienstleistungen brechen währenddessen ein. In Europa ist diese Ausgabenverschiebung etwas schwächer, in den USA dafür umso stärker.
Auch auf der Gegenseite, bei den Produzentinnen, werden die Auswirkungen der Pandemie zunehmend sichtbar. Es kommt zu Engpässen bei der Lieferung von Mikrochips. Die Autoindustrie muss ihre Produktion drosseln, Schuhe fehlen in den Regalen, Geschirrspüler werden knapp.
Covid-19 hat die weltumspannenden Lieferketten empfindlich gestört, das wird nun offensichtlich. Nicht nur Fertigprodukte, sondern auch Bauteile und Materialien sind davon betroffen: Schrauben, Kunststoffe, Glas. Dinge mit dem Schiffscontainer um die Welt zu verfrachten, kostet plötzlich ein Vielfaches. In chinesischen Häfen stapeln sich die Container, weil nicht voll gearbeitet werden kann. Es steigen die Preise von Holz, Eisenerz und Kohle. Und auch Nahrungsmittel werden im Verlauf des Jahres 2021 deutlich teurer.
So dominieren jetzt wieder die Misstöne. Entsprechend übertitelt der Internationale Währungsfonds seinen Juli-Bericht: «Zunehmende Verwerfungen in der globalen Wirtschaft».
Die Pandemie führt vielen Unternehmen vor Augen, auf welch wackligen Beinen ihre globalisierten, auf möglichst kurze Bestell- und Lieferfristen getrimmten Produktionsabläufe stehen, die sie in den letzten Jahrzehnten aufgebaut haben. Braucht es also einen Gegentrend zu den Verlagerungen nach Ostasien? Sollen wieder mehr Dinge lokal hergestellt werden – mit möglichst kurzen Transportwegen dorthin, wo sie auch konsumiert werden?
Solche Fragen beschäftigen Regulatoren, Thinktanks, Consultingfirmen. Auf die «Slowbalisierung» der vergangenen Jahre – eine politisch motivierte Verlangsamung des Welthandels – könnte nach Covid-19 eine Phase der «Deglobalisierung» folgen, mutmassen sie: ein Zeitalter, in dem Regierungen wieder mehr Wert auf heimische Jobs und Versorgungssicherheit legen.
Verwerfung 2: Das grosse Kündigen
Auch Arbeitnehmerinnen stellen sich Fragen: Warum soll ich genau diesen Job machen, bei genau diesem Arbeitgeber, zu genau diesen Bedingungen?
Die wiederholten Shutdowns werden für viele zur Offenbarung – im Guten wie im Schlechten. Sie lösen auf dem Arbeitsmarkt einen Trend aus, den Medien flugs als great resignation bezeichnen: das grosse Kündigen.
Besonders die Dienstleistungsbranchen sind davon betroffen. Angestellte im Gesundheitswesen oder in der Gastronomie beschliessen, dass sie genug haben vom täglichen Stress, von miesen Löhnen und langen Schichten. Als die Covid-Restriktionen enden, kehren sie nicht mehr zur Arbeit zurück.
Stark ausgeprägt ist dieser Trend – abermals – in den Vereinigten Staaten. Zwei Faktoren begünstigen dort die Kündigungswelle. Einerseits spielt in den USA die Kurzarbeit kaum eine Rolle: Der Staat garantiert während der Krise keine Lohnfortzahlungen, so stellen klamme Firmen ihre Angestellten eben auf die Strasse. Zu Spitzenzeiten ist in Amerika jede achte Erwerbsperson arbeitslos.
Andererseits baut die US-Regierung die Arbeitslosenversicherung aus. Und sie schickt der Bevölkerung Checks per Post: Erst 1200 Dollar im April 2020, dann 600 Dollar im Dezember 2020 und nochmals 1400 Dollar im März 2021. Viele Amerikaner erfahren dadurch erstmals so etwas wie sozialen Schutz.
Auch in Europa bekunden Firmen im Lauf der Pandemie zunehmend Mühe, Stellen zu besetzen. Allerdings scheint es sich hier eher um eine akzentuierte Version des bekannten Fachkräftemangels zu handeln: Es sind tendenziell Hochqualifizierte, die bei der Jobwahl wählerischer werden. Ähnlich ist es in China (aber anders in Südamerika, wo weitaus mehr Leute im informellen Sektor arbeiten und der Wirtschaftskrise schutzlos ausgeliefert sind).
Das grosse Kündigen, das bald zur «grossen Wechslerei» umgetauft wird, hat seine guten Seiten. Die Menschen kehren der Arbeitswelt nicht den Rücken, sondern suchen nach dem Shutdown nach anderen – besseren – Jobs. Doch makroökonomisch kommt der Aufruhr auf dem Arbeitsmarkt zur Unzeit.
O mein Gott: Die Inflation kommt!
Bemerkbar macht sich dies in einer wirtschaftlichen Messgrösse, die jeder versteht – oder von der zumindest jeder glaubt, sie zu verstehen: die Inflation.
Nachdem sie zwölf Monate lang auf Eis lag, meldet sie sich im Herbst 2021 furios zurück: mit Raten von bis zu 5 Prozent in der Eurozone und von bis zu 7 Prozent in den USA (in der Schweiz sind es allerdings nur 1,5 Prozent). Als stabil gilt die Inflation, wenn sie im Bereich von maximal 2 Prozent liegt.
Dass die Teuerung während Krisen wild ausschlägt, ist an und für sich nichts Aussergewöhnliches. Während der Finanzkrise war es genau umgekehrt gegenüber heute: Unmittelbar nach Krisenausbruch stiegen die Preise. Später kam es zur Gegenbewegung nach unten, mit zeitweise sehr tiefen Inflationsraten.
Aus den Daten lässt sich auch ablesen, dass alles im Grunde halb so wild ist. Sondereffekte wie die gestiegenen Energiekosten verzerren die aktuellen Werte: Rechnet man den Anstieg der volatilen Strom-, Öl- und Gaspreise heraus, so beträgt die Teuerung im Euroraum nur noch rund 2 Prozent. Sie liegt damit genau dort, wo Zentralbanken sie eigentlich haben wollen. In den USA haben derweil der Güter-Kaufrausch, die Lieferengpässe und das «grosse Kündigen» die Inflation temporär angeheizt. Dass diese Effekte weit übers Ende der Pandemie hinaus anhalten, ist praktisch ausgeschlossen.
Nichtsdestotrotz treibt die Inflation nun den Wirtschaftsjournalisten, aber zunehmend auch den Zentralbankerinnen den Angstschweiss ins Gesicht. Zwar haben Letztere noch bis vor kurzem zu verstehen gegeben, dass sie Teuerungsraten über der Zielmarke eine Weile lang tolerieren würden – oder dass sie eine höhere Teuerung sogar explizit anstreben würden, weil diese zuvor während mehrerer Jahre aussergewöhnlich tief ausgefallen war.
Doch davon ist jetzt keine Rede mehr. Und so deutet nach dem Präsidenten der amerikanischen Notenbank, Jerome Powell, bald auch die Chefin der Europäischen Zentralbank, Christine Lagarde, an: Mit den geldpolitischen Nothilfen ist es künftig vorbei. Schon 2022 könnten die Zinsen steigen.
Die Corona-Krise wird damit abermals zum «Balanceakt», wie die OECD in ihrem Outlook vom Dezember 2021 schreibt. Kann es die Weltwirtschaft überhaupt verkraften, wenn ihr die Stimuli bereits jetzt entzogen werden?
High Noon: Die Wirtschaft am Wendepunkt
Zum Ende des zweiten Corona-Jahres überwiegen deshalb wieder die Sorgen. Regierungen und Zentralbanken könnten es mit ihrem Aktivismus übertrieben haben – und die Gesellschaft könnte bald den Preis dafür zahlen, in Form einer anhaltenden Stagnation oder, noch schlimmer, einer Stagnation mit zusätzlicher Inflation: einer sogenannten Stagflation.
Die Corona-Krise würde damit zum Bruch. Eine Politik, die ein gutes Vierteljahrhundert lang die Party am Laufen hielt, aber eigentlich nicht nachhaltig ist, wäre nun am Ende ihrer Möglichkeiten angelangt: Probleme mit gedrucktem oder geborgtem Geld zu bekämpfen statt mit Reformen.
Dass hier ein Funken Wahrheit drinsteckt, ist kaum zu bestreiten. Während der Pandemie ist der Schuldenberg weiter gewachsen: 226 Billionen Dollar haben Staaten, Firmen und Haushalte inzwischen gegenseitig ausstehend. Das ist Rekord und entspricht 256 Prozent der globalen Wirtschaftsleistung.
Blendet man private Kredite aus und misst man nur die Staatsschulden, so kommt manches Industrieland auf über 100 Prozent des Bruttoinlandprodukts. Das bedeutet nicht zwangsläufig, dass die Situation sofort kritisch wird. Aber so viel ist klar: Hohe Schulden mindern die Fähigkeit eines Staates, in die Zukunft zu investieren. Und sie erschweren es, künftige Krisen abzufedern.
Im Januar 2022 wird das nächste Wirtschaftsupdate fällig. «Steigende Fallzahlen, ein gestörter Aufschwung und höhere Inflation» heisst es, und der IWF spricht darin primär über «abwärtsgerichtete» Risiken. Zwar sind die Autoren zuversichtlich, dass die Krise mit der Zeit abklingt und sich alles bald wieder einpendelt. Aber so richtig erwartungsfroh klingt ihr Bericht nicht – auch weil eine neue Virusvariante aufgetaucht ist: Omikron.
Die Variante ist äusserst ansteckend: Von Japan über Frankreich bis Mexiko verzeichnen sehr viele Länder neue Ansteckungsrekorde. Doch Omikron scheint mildere Verläufe zu verursachen. Beide Eigenschaften zusammen kommen gelegen: Während die Fallzahlen steigen, landen weniger Patienten im Spital – das ermöglicht es Regierungen, Öffnungen ins Auge zu fassen.
Manchen Ländern, darunter die Schweiz, kann es gar nicht schnell genug gehen. Alle Massnahmen sollen fallen, «Turbo-Öffnungen» stehen auf dem Programm. Das Wetter ist warm, die Laune ist gut, und während Athleten in einer hermetisch abgeriegelten Blase im fernen Peking die Olympischen Spiele abhalten, normalisiert sich der Alltag an vielen anderen Orten zusehends (zumindest für jene Personen, die nicht an Long Covid leiden).
The End: Und jetzt?
So abrupt sie kam, so unvermittelt scheint die Corona-Krise zu enden.
Diesen surrealen Moment einzufangen, ist schwierig genug. Noch schwieriger ist es, ein finales Fazit zu ziehen. Ist die Wirtschaft auch bald «genesen»? Oder wird sie ihre eigene Version von «finanziellem Long Covid» durchmachen?
Die verfügbaren Daten zeigen, dass die Rezession weniger heftig ausgefallen ist, als man ursprünglich dachte. Statt um 6,5 Prozent hinkt die Wirtschaft ihrem Potenzial heute nur um knapp 3 Prozent hinterher. Es gab keinen Finanzkollaps, und die Krisenpolitik hat alles in allem gut funktioniert.
Offenkundig sind aber auch die Diskrepanzen. Schwellenländer hat die Krise härter getroffen. Ihr Gesundheitswesen, ihr Sozialstaat und auch ihre Betriebe waren schlechter für das Virus gerüstet, als dies etwa in der reichen Schweiz der Fall war, wo Laptops fürs Homeoffice schnell angeschafft waren. Wegen des starken Rückgangs beim Tourismus steht Sri Lanka vor der Zahlungsunfähigkeit.
Zudem stehen Aufräumarbeiten an. So manche Firma wird ihren Covid-Kredit nicht zurückzahlen können – und nach der Krise in Konkurs gehen. Betroffen davon sind vor allem kleine und mittelgrosse Unternehmen. Und obwohl die Arbeitslosigkeit gesunken ist, hat sich die Beschäftigung noch nicht erholt. Es wird dauern, bis alle einen Job haben, die einen Job wollen.
Krisen waren oft auch Zäsuren. Mit dem Ölschock von 1973 endeten die «Zeiten des unbedenklichen Optimismus» der Nachkriegszeit: Erstmals gab es in Industrieländern so etwas wie eine Sockelarbeitslosigkeit, die auch in der Hochkonjunktur nie ganz verschwand. Und den Menschen wurde bewusst, dass Energie etwas ist, mit dem man sparsam umgehen muss.
Die Finanzkrise besiegelte die Ära der trickle-down economics. Die Idee, dass Reichtum in einer deregulierten Wirtschaft von selbst zu den Armen hinuntersickert, wird seither nur noch belächelt. Regierungen haben gelernt, dass sie Banken regulieren müssen – und dass die Gewinne der Wall Street nicht gleichbedeutend sind mit dem Wohlstand der restlichen «99 Prozent».
Auch die Corona-Krise hält einige Learnings bereit:
Resilienz ist wichtig, Effizienz ist nicht alles: Billigere Güter sind nicht zwingend die besseren Güter, wenn sie in der Krise nicht verfügbar sind.
Gesundheitspolitik ist auch Wirtschaftspolitik: Man muss Ausgaben für die Gesundheit nicht nur als Kosten, sondern als Investitionen begreifen.
Sozialpolitik ist auch Wirtschaftspolitik: Wären die Menschen in der Krise sich selbst überlassen worden, wäre die Wirtschaft total eingebrochen.
Entschleunigung ist okay: Man muss nicht jedes Jahr in die Ferien fliegen. Abende mit den Nachbarn, Spaziergänge im Quartier sind auch ganz nett.
Freiheit ist nicht absolut: Manchmal braucht es die Unterordnung unter das Kollektiv, um das Wohl der Individuen zu maximieren.
Ob die Corona-Krise tatsächlich einen Mentalitätswandel hervorbringt, ist offen. Oft dauert es eine Weile, bis sich nach Krisen herauskristallisiert, wo ein Kurswechsel stattfindet und wo nicht. Die Sehnsucht, es möge einfach alles wieder so werden wie früher, ist im Augenblick noch sehr mächtig.
Doch auch das ist eine Eigenheit dieser Pandemie: Man kann hoffen und bangen, antizipieren und relativieren – am Ende passiert meistens doch etwas Überraschendes. Etwas, mit dem die wenigsten wirklich gerechnet haben.