Der längste jüdische Witz der Weltgeschichte
Joshua Cohens überbordender Monumentalroman «Witz» ist endlich auf Deutsch erschienen. Das Buch ist eine Zumutung. Und ein Meisterwerk. Das gilt auch für die Übersetzung.
Von Rafaël Newman, 21.02.2022
«Witz» ist ein grosses Buch, und das nicht nur wegen seiner 900 Seiten Umfang.
Dieser wahnwitzige Roman platzt vor geistreichen Wortschöpfungen, waghalsigen Narrativen und stilistischen Eskapaden. Verschiedene Sprachen – ausgestorbene, moderne und erfundene – treffen darin aufeinander und liegen miteinander im Wettstreit. «Witz» rekapituliert und erfindet neu keinen geringeren Stoff als die Flucht aus Ägypten und die alt-testamentarischen Patriarchen, erzählt die jüdische Nachkriegsgeschichte in Amerika und hinterfragt das erlösende Potenzial eines Messias. Und das alles im ersten Drittel.
«Witz» ist aber auch das, was auf gut US-Amerikanisch a gross book heisst: ein skandalöses, groteskes, manchmal abstossendes Werk.
Geschrieben hat es der jüdisch-amerikanische Autor Joshua Cohen. Im Original erschien es bereits 2010, da war Cohen gerade mal dreissig. Seither hat er etliche Romane und Erzählbände mehr veröffentlicht und als Autor an Edward Snowdens Autobiografie «Permanent Record» mitgewirkt. Vier seiner Bücher sind in den letzten Jahren auf Deutsch erschienen – und nun also auch «Witz», das megalomane Hauptwerk.
Worum geht es in diesem Buch?
Kurz zusammengefasst: Zu Weihnachten 1999 sterben weltweit alle Jüdinnen und Juden, mit Ausnahme der erstgeborenen Söhne. Gleichzeitig kommt in New Jersey ein solcher erster Sohn, Benjamin Israelien, zur Welt: ein «Baby» zwar, jedoch bereits erwachsen, behaart und bebrillt. Ausserdem hat er eine Vorhaut, die ständig nachwächst.
Dann sterben allmählich auch alle jüdischen Erstgeborenen – ausser Benjamin. So wird der überlebende Wunderwaise zum Messias eines neu entstandenen, zur Staatsreligion der USA erklärten Judentums erkoren und mit der Tochter des Präsidenten verlobt. Doch Benjamin flieht vor der Nutz-Hochzeit, verliert seine Zunge beim Cunnilingus mit einem Avatar seiner Mutter (wie gesagt: a gross book …), trifft unter anderem auf einen gewissen Professor Doktor Froid im Ufo und verwandelt sich in verschiedene wundersame Gestalten, mitunter eine Kuh. Derweil erleiden die nicht konvertierungswilligen Nichtjuden der Welt einen zweiten Holocaust.
Am Schluss des Romans kehren wir aus Benjamins dystopischer Fantasiewelt in unsere eigene, reelle Welt zurück und hören Joseph, dem letzten Überlebenden des tatsächlichen, historischen Holocausts, zu, wie er in einem 30-seitigen, weitgehend interpunktionslosen Monolog Zeugnis ablegt. Und weil der 1918 geborene Joseph an diesem Punkt des Romans 108 Jahre alt ist, feiert er sein hohes Alter in einer Coda, die aus 108 Pointen besteht – allerdings ohne die dazugehörigen Witze.
Der Abschnitt trägt auf Englisch die Überschrift «Punchlines». Und tatsächlich verdichtet sich hier die ganze wütende Wucht («punch») von «Witz» zu der Einlage eines Borscht-Belt-Comedians. So als wolle Joshua Cohen hier den längsten jüdischen Witz der Weltgeschichte erzählen.
Rafaël Newman ist Autor und Übersetzer. Er ist Herausgeber des Buchs «Zweifache Eigenheit», einer Anthologie neuerer jüdischer Literatur in der Schweiz mit einer kritischen Abhandlung. Seine Lyrik erscheint unter anderem auf Bestiaire Intime, seine englischsprachigen Essays veröffentlicht er auf 3 Quarks Daily. Newman, der in Zürich lebt, tritt regelmässig als Dramaturg des Ensembles Besuch der Lieder auf.
Die deutsche Fassung dieser Zumutung von einem Roman wurde in einem jahrelangen Kraftakt von Ulrich Blumenbach geschaffen. Zuvor hatte er von Cohen bereits den Erzählband «Vier neue Nachrichten» und den Roman «Solo für Schneidermann» übersetzt. Und wenn jetzt, mehr als eine Dekade nach dem Original, endlich auch «Witz» auf Deutsch zu lesen ist, sticht es geradezu ins Auge, wie weit dieser damalige Ton entfernt ist von dem, was Cohen heute schreibt. Zuletzt nämlich hat er ein Buch mit dem Titel «The Netanyahus» veröffentlicht, einen pikaresken College-Campus- und Familienroman, der im Stil denkbar weit weg ist vom apokalyptischen Frühwerk.
Das ist umso auffälliger, als die Sprache selbst als die eigentliche Hauptfigur von «Witz» erscheint.
Sie ist geradezu materiell, lässt sich nie übersehen, wird nie zum blossen Vehikel der Handlung. Cohen evoziert streckenweise die poetische Sprache alttestamentarischer Bücher: Da sind Kinderstimmen «wirbelwindig gedämpft» wie die Stimme des Herrn, die zu Hiob «aus dem Wetter» spricht. An anderen Stellen imitiert der Autor dann die Lautmalerei eines Comicheftes, etwa wenn Sirenen den Tod des Weltjudentums ankündigen:
AAAAAAAAAdiesistkeintestdiesistkeintest!
So knüpft der Roman an experimentelle Werke von David Foster Wallace oder Thomas Pynchon an – aber vor allem natürlich an James Joyce, nicht nur wegen des riesigen Schlussmonologs, der an Molly Blooms Bewusstseinsstrom in «Ulysses» erinnert.
Joyce hat die gewöhnliche, vertraute Welt – den Dubliner Alltag, die Sorgen eines reisenden Verkäufers – vor dem Ersten Weltkrieg in aussergewöhnlicher Sprache erzählt. Cohen hingegen bedient sich dieser Mittel, um eine völlig fremde Welt zu beschreiben. Fast so, als wolle er den Gegenbeweis erbringen zu Theodor Adornos berühmter Formulierung, dass «nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, barbarisch» sei: Nur eine verfremdete, nicht alltägliche, nicht prosaische Wahrnehmung ist imstande, die Welt nach Auschwitz wiederzugeben, scheint Cohen sagen zu wollen.
Kaum jemand wäre geeigneter gewesen als Ulrich Blumenbach, dieses Buch ins Deutsche zu übersetzen. Bereits für den Kultroman «Unendlicher Spass» von David Foster Wallace hat sich Blumenbach ein geradezu enzyklopädisches Wissen aneignen müssen, um diesen ungeheuren, postmodernistischen Brocken zu übertragen, in dem es von Selbsthilfephilosophie, pharmakologischen Fussnoten und Profitennis-Fachsimpeleien wimmelt.
«Witz» ist in dieser Hinsicht vielleicht sogar noch das grössere Kaliber, denn der Roman ist von der gesamten westlichen und speziell der mitteleuropäischen Kultur durchtränkt.
Die vielen jiddischen Vokabeln in Cohens Text musste Blumenbach im deutschen Fliesstext erkennbar machen, was aufgrund ihrer Ähnlichkeit mit dem Standarddeutsch übersetzerische Kreativität erfordert. Wie also geht Blumenbach vor? Er schafft eine eigenwillige, verfremdete Orthografie, um aus Cohens mensch einen «Mentsch» und aus dem bagel einen «Bejgl» zu machen.
Auch bei Cohens unzähligen Wortspielen, die mitunter vielsprachig sind und manchmal wie beiläufig hingeschleudert wirken, schafft es Blumenbach, sie adäquat, ja manchmal regelrecht brillant zu reproduzieren. Cohen hat zum Beispiel aus dem busboy, einem Nachwuchskellner, eine gojische Entsprechung gemacht: den busgoy. Bei Blumenbach wird aus diesem armen Gehilfen, der für die eher unglamourösen Tätigkeiten im Restaurant zuständig ist, dann der «Goihilfe». Und aus Cohens emmigrunts macht Blumenbach «Emigrantler» – gemeint sind hier übrigens jobsuchende Neukonvertiten, die durch den Tunnel von New Jersey nach Manhattan einreisen.
Auch ein für den gesamten Roman tragendes Wortspiel hat Blumenbach mit einem cleveren Kniff auf Deutsch neu geschaffen. Im ganzen Text nämlich ersetzt Cohen das Wort Jewish mit dem Quasineologismus Affiliated. Weil darin der lateinische filius steckt, korrespondiert das Ganze auch mit Cohens Titelwort. In einer Vorbemerkung zum Roman nämlich gibt der Autor zu bedenken, dass das Wort «Witz» sowohl joke als auch son heisse:
Witz
bedeutet im Jiddischen ebenso wie im Deutschen «Scherz» und steht als Endung bestimmter Namen für «Sohn von»:
Abramowitz
heisst etwa «Sohn-von-Abram»
(alternative Schreibungen lauten -wic, -wich, -wics, -wicz, -witch, -wits, -wyc, -wych, -wycz, -vic, -vich, -vics, -vicz, -witsch, -witz, -vitz, -vyc, -vych und -vycz).
Da ist die Bedeutungsaufladung also zugegebenermassen etwas weit hergeholt. Aber Blumenbach muss solche spielerischen Mehrdeutigkeiten ja trotzdem irgendwie ins Deutsche holen.
Seine Lösung: Die Jüdinnen und Juden im Roman werden zu «Eingegliederten» – und bei dem manchmal auch betont frivol-pubertären Humor des Romans darf man die dritte Silbe dieses Wortes ruhig noch mal eigens betonen.
Blumenbach kann auf Deutsch aber auch genauso erhaben dichten wie Cohen auf Englisch. Denn dort, wo im Roman mal weder das Verschmitzte noch der gerechte Zorn dominieren, hält «Witz» Stellen von lyrischer Schönheit bereit. Zum Beispiel als der fliehende Messias Benjamin Israelien, genannt Ben (hebräisch: Sohn …), nach etlichen Proben wie Christus in Jerusalem endlich im neujüdischen Mekka New York ankommt. Bei Cohen entfaltet sich da eine träumerische «huge high world of a city in the head of every one of us, shored in with skin and wharved with bone». Blumenbach macht daraus «die riesige hohe Welt einer Stadt im Kopf eines jeden von uns, mit Knochenkais und von Haut umküstet».
Oder in einer Szene früheren Familienglücks. Bens Schwestern, heisst es da:
(…) flap the tablecloth once, twice, three times to catch air, bounce angels and archangels into the heavens to bump their heads if heads they have or halos upon the ceiling or chandelier.
Auf Deutsch von Blumenbach:
(…) sie schlenkern das Tischtuch zum Lüften einmal, zweimal, dreimal, lassen Engel und Erzengel in die Himmel federn und sich die Köpfe stossen, falls das GOttesgeflügel Köpfe hat und nicht nur Heiligenscheine, die an Decke und Kronleuchter verbiegen.
Der Übersetzer ist aber auch Cohens wüsten Sprachexzessen gewachsen. Im Bewusstseinsstrom von Joseph, dem letzten Holocaust-Überlebenden, zeichnet Cohen den NS-Massenmord nach, indem er den fiktiven Bericht von Joseph auf reelle Zeugnisse gründet: die Berichte von Überlebenden, die Cohen interviewt hat. Die Passage, die das Leben im KZ-Lager schildert, beschwört einen Wirbelwind des Grauens herauf, bevor Josephs Stimme vor dem Unfassbaren kurz versiegt:
(…) the whorses the worst of them the versteppung vershtupping Ukrainians no better than the Poles save they’re saviors the Musclemen the Musclessmen the boneless chickenfingered men the Moslemen the only good Muslims that’s how bad Iran without blood without claim we brought with us our suitcases thirty fifty kilos I weighed what fifteen twenty skinwrapped skintrunked shrunken and marked chalked pulverized bone no more images imaginings no more stories (…)
Blumenbach:
(…) die Pusztapussys die Perversen die Versteppung die Verschtuppung die Ukrainerinnen genauso übel wie die Polinnen Retter nicht gerechnet die Muskelmänner die Entmuskelten die knochenlosen hühnerknöcheligen Männer die Muslime die einzig guten Muselmänner so schlimm Iran ohne Blut ohne Anspruch wir hatten unsere Koffer dabei dreissig fünfzig Kilo ich wog was fünfzehn zwanzig hautumhüllt hautumrumpft geschrumpft und gezeichnet angekreidet pulverisierte Knochen keine Bilder mehr Einbildungen keine Geschichten mehr (…)
«... keine Geschichten mehr»: Trotzdem verstummt «Witz» auch an den qualvollen Stellen zu den Gräueltaten der Judenermordung nicht. Mit dem Roman wollte Cohen, so hat er es einmal formuliert, «ein endloses Buch schreiben»: ein Werk, das trotz des mörderischen Willens der Nazis einfach immer weiter fortfahren würde.
Cohen ist dabei etwas Einmaliges gelungen, wenngleich sein Roman in den bahnbrechenden Behandlungen des Holocausts auch fest verankert ist.
«Witz» ist kein groteskes Holocaust-Märchen wie «Der Nazi & der Friseur» (1977), auch wenn Cohen wohl die satirische Verkehrung der Rollen zwischen Deutschen und Juden von Edgar Hilsenrath gelernt hat. «Witz» ist keine lehrreich allegorische graphic novel wie «Maus» (1980–1991), auch wenn sich Cohen, genau wie Art Spiegelman, bei der amerikanischen Popkultur bedient, um seine todernste Geschichte zu erzählen. «Witz» ist keine «lebensbejahende» Antwort an den Holocaust wie der viel prämierte und heftig diskutierte Spielfilm «La vita è bella» (1997), auch wenn Cohen, genau wie Roberto Benigni, auf die NS-Barbarei mit Hochkultur antwortet. Und «Witz» ist keine Verspottung der «Holocaust-Industrie», wie Gary Shteyngart sie in seinem frühen Roman «Absurdistan» (2006, dt. «Absurdistan») liefert, auch wenn Cohen vielleicht gewisse Züge seines Protagonisten von Shteyngarts überdimensionierter Hauptfigur abgeschaut hat.
Wie alle diese Werke setzt auch «Witz» dem gähnenden, unmenschlichen Nichts des Holocausts seine eloquente, menschliche Präsenz entgegen.
Man spürt bei Cohen den gleichen Drang zur Vollständigkeit, der Beate und Serge Klarsfeld 1994 zu einer möglichst ausführlichen Auflistung der ermordeten Juden und Jüdinnen Frankreichs getrieben hat («Mémorial de la déportation des Juifs de France»). So wie W. G. Sebald einst in einem 10-seitigen Satz über Theresienstadt das Unfassliche gleichsam in einem sich immer weiter aufblähenden Gedanken zu bändigen versuchte, so kommt auch Cohen zu seinen immer weiter anwachsenden Assoziationsketten. Gleichzeitig aber vermeidet er jedes Pathos, jede «Verkitschung von Trauma».
Seine Szenen erinnern bisweilen an eine burleske Komödie. Da ist etwa die Eröffnung einer Museumsausstellung unter kleinbürgerlichen Aufsteigern; oder ein chaotisches Familienfest im amerikanischen Vorort; ein voll auf die Vermarktung des neuen Messias getrimmtes Las Vegas. Wenn Cohen ein Bild des jüdischen Lebens in den USA malt, wird die von ihm verachtete Trivialkultur einer neuen jüdischen hipness zwar zitiert. Sie wird jedoch gleichzeitig ad absurdum geführt und mit der ständigen Erinnerung an den Zivilisationsbruch der Shoah konterkariert.
«Witz» ist also alles andere als komisch. Aber so tiefgründig lehrreich, so ironisch und melancholisch, so hoffnungsvoll und doch realistisch wie die besten Jewish jokes. Zum Beispiel der, mit dessen Pointe der Roman endet.
Vor dem Stadttor wartet ein alter Mann auf den Messias und kriegt dafür ein einziges Fass Hering im Jahr. «Das ist wenig Lohn», wundert sich ein Vorübergehender. «Nu», antwortet der alte Mann, «aber es ist eine geregelte Arbeit.»
Joshua Cohen: «Witz». Aus dem Englischen von Ulrich Blumenbach. Frankfurt am Main, Schöffling & Co. 2022. 912 Seiten, ca. 50 Franken.