Wie klang Dada?
Dada war Dichtung, Kunst, Cabaret – und Musik. Wie hörte die sich an? Wer sich nicht an den Mythen orientiert, sondern an den Quellen, stellt fest: ziemlich anders, als das Klischee es will.
Von Magnus Wieland, 17.02.2022
Wer «Dada» sagt, denkt an Provokation, Revolte, Traditionsbrüche und Antikunst.
Als 1920 der erste Dada-Almanach erscheint, vollzieht das Cover einen bilderstürmerischen Akt: Ein Jahr nachdem Marcel Duchamp der Mona Lisa einen Schnauz angemalt hat, versieht Dada-Oz alias Otto Schmalhausen in einer Fotomontage nun Beethovens Totenmaske mit Haarsträhnen und Schnurrbart. Weit aufgerissen die Augen: Der Übervater der klassischen Musik mutiert zur Fratze.
Ein Sinnbild für Dada. Oder?
Anstelle von harmonischen Klängen setzen die Dadaisten auf Lärm. So will es das geläufige Klischee, das auch Tom Stoppard in seinem Stück «Travesties» aus dem Jahr 1974 bedient. In einer fingierten Szene trifft darin der Dadaist Tristan Tzara auf Lenin – eine Begegnung, die historisch durchaus möglich gewesen wäre, wohnte der angehende Revolutionär doch unweit des Cabaret Voltaire an der Spiegelgasse in Zürich. Auch ist Lenins Vorliebe für die Beethovens «Appassionata» historisch belegt, die Stoppard in seinem Stück zum Anlass nimmt, ausgerechnet den kommunistischen Anführer als Vertreter eines erzbourgeoisen Kunstgeschmacks vorzuführen: Zu Tränen gerührt von einer Beethoven-Sonate, schimpft Lenin auf den Krach der Dadaisten, die gerade ein «noise concert for siren, rattle and fire-extinguisher» beendet haben.
Natürlich übertreibt Stoppard hier. Doch die Pointe funktioniert, weil sie das gängige Lenin-Image konterkariert, nicht etwa das von Dada. Das Bild von den Dadaisten als lautstarker Bürgerschreck-Kombo war schon damals tief im kulturellen Gedächtnis verankert – und das «Lärmkonzert für Sirene, Rassel und Feuerlöscher» passt bestens dazu.
Aber wie klang es bei den Konzerten der Dadaisten tatsächlich? Was war im Cabaret Voltaire zu hören, als Dada in der Zürcher Spiegelgasse seinen Anfang nahm?
Die ersten Regungen von Dada sind äusserst spärlich dokumentiert, entsprechend hoch ist der Hang zur Mythenbildung. Fast alles, was wir über die Frühphase im Cabaret Voltaire wissen, stammt aus späteren Erinnerungen und Selbstdarstellungen der Protagonisten, die entsprechend mit Vorsicht zu geniessen sind, gerade auch was Angaben zur Klangästhetik von Dada betrifft. Historische Tonaufnahmen aus dem Cabaret gibt es leider keine, wir sind allein auf schriftliche Zeugnisse und auf spätere Vertonungen angewiesen. Es existieren nicht einmal Fotografien aus dem damaligen Lokal, geschweige denn von den Auftritten. Das einzige Bild, das wir kennen, ist ein Gemälde von Marcel Janco, und selbst dieses nur in späteren Reproduktionen, das Original gilt als verschollen.
Und so wird das «einzige» Bild zum Quell einer regelrechten Dada-Mythologie.
Hans Arp beschreibt in seinen Memoiren «Dadaland» die dargestellte Szenerie wie folgt:
Wir vollführen einen Höllenlärm. Das Publikum um uns schreit, lacht und schlägt die Hände über dem Kopf zusammen. Wir antworten darauf mit Liebesseufzern, mit Rülpsen, mit Gedichten, mit «Muh Muh» und «Miau Miau» mittelalterlicher Bruitisten. Tzara lässt sein Hinterteil hüpfen wie den Bauch einer orientalischen Tänzerin, Janco spielt auf einer unsichtbaren Geige und verneigt sich bis zur Erde. Frau Hennings mit einem Madonnengesicht versucht Spagat. Huelsenbeck schlägt unaufhörlich die Kesselpauke, während Ball, kreideweiss wie ein gediegenes Gespenst, ihn am Klavier begleitet.
Arp schreibt dies aus einer historischen Distanz von zwanzig Jahren. Auffällig ist, wie er in seiner Erinnerung den Lärm, den Tumult und den Bruitismus akzentuiert.
Will Arp aus der Rückschau ein ganz bestimmtes Bild vom radikalen Dadaismus vermitteln?
Es ist jedenfalls ein Bild, das mit dem musikalischen Programm des Cabaret Voltaire nur schwer in Einklang gebracht werden kann – zumindest mit dem, was dort anfangs auf dem Programmzettel stand.
Piano: Dadas «leiser» Auftakt
Das Cabaret Voltaire – wo bis heute das Erbe der Dada-Bewegung künstlerisch befragt wird – eröffnete Anfang Februar 1916 im Zürcher Oberdorf in einem Hinterzimmer der «Meierei», der sogenannten «Holländerstube». Konzipiert war das Format zunächst als offene Bühne ohne spezifisches Programm.
Über Zeitungsannoncen wurde zur spontanen Beteiligung aufgerufen. Das erste, von Marcel Słodki gestaltete Plakat der «Künstlerkneipe Voltaire» kündigte allabendliche «Musik-Vorträge und Rezitationen» an. Das ist immerhin bemerkenswert, denn bis heute wird Dada vornehmlich als literarisches und künstlerisches Phänomen rezipiert, die musikalische Seite hingegen erhält viel geringere Beachtung. Selbst in den mittlerweile schwer überschaubaren Fachpublikationen zu Dada bleibt die Musik meistens ausgeklammert, obwohl gerade musikalische Darbietungen in den Anfängen – wie es das Plakat nahelegt – zur eigentlichen Hauptsache gehörte
Folgt man zeitgenössischen Quellen, so wurden in den ersten Wochen der Künstlerkneipe vornehmlich Klavierstücke von Rachmaninow, Skrjabin, Schumann, Liszt, Reger, Saint-Saëns, Debussy, Ravel und Roger-Ducasse gespielt: moderne, aber noch nicht die ultramoderne Neue Musik. Und gemäss den Zeitungsmeldungen waren die ersten Veranstaltungen keineswegs von Tumulten oder Skandalen begleitet.
Im Gegenteil berichtete die konservativ-bürgerliche NZZ am 9. Februar 1916 kurz nach der Eröffnung: «Die ungetrübte Freude der Anwesenden, die in lebhaftem Beifall der Vorträge Ausdruck fand, die animierte Stimmung bewies, dass das Kabarett dem Anfang nach zu schliessen, eine gewisse künstlerische Höhe zu halten sich bestrebt.» Wie die Zeitung ebenfalls vermeldete, hatte das unter anderem damit zu tun, dass die «artistische Leitung» in den Händen des «früheren Dramaturgen der Münchner Kammerspiele Hugo Ball» lag.
Hugo Ball, der mit seiner späteren Frau Emmy Hennings als Gründer des Cabaret Voltaire gilt, plante in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg in München ein Theater der Neuen Kunst, für das unter anderem auch der Maler Wassily Kandinsky und der Komponist Arnold Schönberg vorgesehen waren. Balls avantgardistische Pläne wurden aber durch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs vereitelt. Zusammen mit Hennings, die sich einen Namen in der Münchner Kabarettszene rund um das Restaurant Simplicissimus gemacht hatte, emigriert er in die Schweiz, wo beide vor der Gründung des Cabaret Voltaire verschiedenen Engagements in Variétés nachgingen.
Ball musste somit von den grossen Bühnenprojekten zur Kleinkunst wechseln, brachte aber seine klassische Ausbildung mit ins neue Kabarettprogramm ein. Seiner musikalischen Vorliebe ist es denn auch zuzuschreiben, dass er am Eröffnungsabend die 13. Ungarische Rhapsodie von Liszt und die fünf Humoresken von Max Reger am Piano spielte.
Balls erklärte Absicht war es, die «Bildungs- und Kunstidee als Variétéprogramm» zu gestalten. Beide Stücke bringen diese Absicht besonders gut zum Ausdruck, denn beide weisen volkstümliche Elemente auf: Liszt mit seinen eingängigen «Zigeuner»-Melodien, Reger wiederum, indem er in der zweiten Humoreske Mozarts berühmte Sonate in C-Dur mit Stilmitteln der Schlagermusik verfremdet.
Trotz ihres klassischen Zuschnitts passten die Klavierstücke damit gut in die Tingeltangel-Atmosphäre eines Variétélokals und akzentuierten den buntscheckigen Anspruch des Cabarets durch die bewusste Vermischung der Stilebenen. Neben klassischen Kompositionen gab es französische und deutsche Chansons, polnische und russische Volkslieder, auch «Apachenlieder» werden erwähnt, und sogar ein Balalaika-Orchester trat auf. Viele der Gesangsdarbietungen lebten von Emmy Hennings kabarettistisch geschulter Bühnenpräsenz.
Es war dieses Potpourri verschiedener klanglicher Einflüsse, aber auch der Stilmix zwischen sogenannt ernster und unterhaltsamer Musik, die diese Abende im Cabaret Voltaire auszeichneten.
Die Konfrontation von Gegensätzlichem war das durchgängige Prinzip im Arrangement der höchst heterogenen Darbietungen, ganz abgesehen davon, dass es in der Künstlerkneipe, einem verrauchten kleinen Lokal im Zürcher Oberdorf, nie besonders ruhig zuging und sich Publikumsgeräusche unter die musikalischen Darbietungen mischten. Es herrschte keineswegs eine sakrale Konzertatmosphäre. Einzig und ausgerechnet als das «Concert bruitiste» von Ball «in seiner leisen Schlichtheit» aufgeführt wurde, war es plötzlich ganz ruhig: «In einem Kabarett und gerade in diesem hätte man das kaum erwartet.»
Bruit im Kontext von Dada war alles andere als landläufiger Lärm.
Boum, boum – den Rhythmus verstärken
Mit der Ankunft von Richard Huelsenbeck, den Ball bereits aus seiner Münchner Zeit kannte, gelangte ein neues Instrument ins Cabaret, das Hans Arp zwar erwähnt, auf Jancos Bild aber nicht zu sehen ist: die Kesselpauke.
Huelsenbeck, ein Arzt und Autor, legte grossen Wert darauf, als Dada-Trommler in die Annalen einzugehen, und hat dieses Image entsprechend gepflegt. Aber auch Ball hält in seinen Memoiren einiges zum Thema fest, und wer jetzt weiterliest, muss wissen, dass die Dadaisten mit einer aus heutiger Sicht beklemmenden Arglosigkeit das N-Wort benutzten – offenbar ganz ohne Diskriminierungsabsicht: «Hülsenbeck ist angekommen. Er plädiert dafür, dass man den Rhythmus verstärkt (den Negerrhythmus). Er möchte am liebsten die Literatur in Grund und Boden trommeln.»
Im Vorwort zur Revue «Cabaret Voltaire» schreibt Ball: «(...) am 30. März [1916] führten wir eine wundervolle Negermusik auf (toujours avec la grosse caisse: boum boum boum boum (...)» Auch Tristan Tzara erwähnt in seiner «Chronique zurichoise» den Einsatz der grosse caisse, ebenfalls im Zusammenhang mit dem, was auch auf Französisch damals bedenkenlos und affirmativ «bruit musique nègre» genannt wurde.
Die Trommel ist damit als exotisches Instrument konnotiert, das europäische Hörgewohnheiten mit neuen Rhythmen und Klängen herausfordern will. Man ahnt es bereits: Nicht nur waren die dadaistischen tribal performances alles andere als authentisch; sie scheuten sich auch nicht, die Klischees mit Umba-umba-Rufen zu verstärken.
So irritierend das heute erscheinen mag: Die Bezugnahme auf afrikanische Riten war für den gesamten Frühdadaismus prägend, allerdings weniger aus ethnografischem Interesse, sondern vornehmlich als gegenkultureller Impuls zu Europa, das sich im Ersten Weltkrieg gerade selbst eliminierte.
Während man im Cabaret Voltaire auf die grosse Pauke haute, tobte draussen der grosse Krieg. Balls Aussage, man wolle alles in Grund und Boden trommeln, ist diesbezüglich auch als Protest und performative Überbietung des Schlachtgetümmels zu verstehen. Der Krieg soll quasi mit seinen eigenen Mitteln geschlagen werden, schliesslich ist die Trommel das Instrument, das auch in jeder Marschkapelle den Takt angibt. Während die Dadaisten blind waren für rassistische Stereotype, die sie in ihrer Darbietung reproduzierten, lag dem zweckentfremdenden Einsatz der Kesselpauke im Cabaret Voltaire also ein zutiefst subversiver, antimilitaristischer Impuls zugrunde.
Dieses Détournement lässt sich konkret an einem anderen Beispiel noch verdeutlichen. Das Stück «It’s a Long, Long Way to Tipperary» aus der Marschmusik des Komponisten Jack Judge, das zu einem der Lieblingslieder britischer Soldaten im Ersten Weltkrieg avancierte (Hörprobe hier, Track 12), wurde auch im Cabaret Voltaire aufgeführt. Dort erklang es allerdings als «piano Typerrary», wie es in der Chronik von Tzara heisst, in einer Ragtime-Interpretation, also wiederum durch «schwarze» Musik verfremdet: «syncope bourgeoisie, musique bruitiste». Der synkopierte Rhythmus war typisch für den Ragtime, der als Vorläufer des Jazz gilt und Mitte der 1910er-Jahre als «dernier cri» (so Tzara) nach Europa drang.
Wenn also im dadaistischen Kontext von Bruitismus die Rede ist, dann ist weniger an die Kunst der italienischen Futuristen zu denken. Gemeint sind vielmehr Adaptionen – vielleicht muss man treffender sagen: Aneignungen – afroamerikanischer Ragtime-Songs.
Diese Bilanz zieht am Ende auch Huelsenbeck in seinem Buch «En avant dada»: «Dieselbe Initiative, die in Amerika die Steps und Rags zur Nationalmusik machte, war in einem späten Europa Krampf und Tendenz zum ‹bruit›.» Der dadaistische Bruit war also kein störender Krach, sondern die Übernahme eines durchaus populären aussereuropäischen Musikgenres, das vom Publikum des Cabaret Voltaire kaum als störend empfunden wurde.
An der Spiegelgasse verkehrten Proletarier, Emigrantinnen, Kneipengänger. Huelsenbeck spricht von einer «naiven Zuhörerschaft», die öfters auch «betrunken» war. Das änderte sich, als die Dadaisten nach knapp drei Monaten aus dem «kleine[n] muffige[n] Raum im Niederdorf» auszogen und auf die andere Seite der Limmat ins Zunfthaus zur Waag überwechselten.
Auch das ist bemerkenswert und passt keinesfalls so ohne weiteres ins gängige Dada-Bild. Vom Zürcher Vergnügungsviertel, das mit seinen Spelunken, Tanzlokalen und Bordellen als «Stätte der Unsittlichkeit» galt, zog man in die gehobene Sphäre des Bürgertums: Das Stadthaus befindet sich in unmittelbarer Nähe des Rathauses, der Regierungsgebäude und unweit der mondänen Bahnhofstrasse.
Ein knappes Jahr später werden die Dadaisten noch näher ins Luxuszentrum vorrücken und 1917 im Haus Corray am Paradeplatz die Galerie Dada eröffnen: an bester Lage also, dort, wo auch die grossen Banken und Boutiquen noch heute ihren Sitz haben. Es liegt auf der Hand, dass mit diesen Ortswechseln auch eine Veränderung des Publikums einherging. Die relativ hohen Eintrittspreise von drei bis fünf Franken dürften in erster Linie elitärere Klientel angezogen haben. Und auch das spiegelte sich auf der Bühne wider.
Ein Schweizer gibt den Ton an
Der erste offiziell so benannte Dada-Abend fand also gar nicht im Cabaret Voltaire statt, sondern vor mehrheitlich bürgerlichem Publikum im Zunfthaus zur Waag am Zürcher Münsterhof. Improvisierte Auftritte weichen hier einem klassischen Programmablauf. Neben Maskentänzen, Versen und Bildern werden nun auch «Theorie» und «Manifeste» angekündigt, weiterhin steht aber die Musik an erster Stelle.
Den Abend eröffnet ein Klavierstück des jungen Schweizer Komponisten Hans Heusser, der gemeinsam mit Claude Debussy in Paris studierte. Heusser ist heute der grosse Unbekannte des frühen Dadaismus, obschon er damals eine zentrale Figur war und als eigentlicher «Hauskomponist» galt. 1917 wurde ihm gar eine eigene Dada-Soirée gewidmet.
Warum ist «Dada’s forgotten music master», wie ihn der Musikwissenschaftler Peter Dayan nennt, heute nahezu aus der Dada-Historie verschwunden?
Der Hauptgrund dürfte Heussers spätere musikalische und berufliche Entwicklung sein. Die Auftritte mit den Dadaisten waren biografisch bloss ein kurzes Intermezzo, das für ihn überdies unglücklich endete, als an der letzten Dada-Soirée am 9. April 1919 im Kaufleuten die geplante Aufführung seiner ersten Kammermusik durch einen von Tzara und Schriftsteller Walter Serner hervorgerufenen Tumult vereitelt wurde: Das Publikum war von Serners provokativem Vortrag derart erregt, dass es die Bühne stürmte. Auch später hat sich Heusser nie als Dadaist in Szene gesetzt, geschweige denn sich über seine Rolle bei den Dadaisten geäussert. Vielmehr legte er eine steile Karriere hin – als Komponist für Marschmusik. Heusser hat sich just dem Genre zugewandt, das im Cabaret Voltaire aus Protest gegen den Krieg parodiert und verfremdet wurde.
Dessen ungeachtet hatte Heusser die Ehre, den ersten offiziell sogenannten Dada-Abend – «pour la première fois dans tout le monde», so Hans Arp – mit einem Präludium zu eröffnen. Es ist ein Werk, von dem seither kaum jemand mehr Kenntnis genommen hat, auch nicht an den grossen Dada-Jubiläen 1966 und 2016. Dabei ist das Notenblatt zum Präludium, mit dem Dada am 14. Juli 1916 musikalisch aus der Taufe gehoben wurde, in der Zentralbibliothek Zürich erhalten. Hört man sich das kurze Klavierstück an, so wundert es nicht, dass ihm bislang wenig Beachtung geschenkt wurde: Es klingt überhaupt nicht nach dem, womit Dada in der Regel assoziiert wird. Im Gegenteil: Die Komposition bewegt sich durchwegs im tonalen Bereich. Sie beginnt mit einer fast barocken Akkordfolge in C-Dur, leitet dann über zu einem ruhigen, romantisch verspielten Mittelteil, bis dann am Schluss nochmals ein leicht dissonierendes Forte erklingt.
Mit anderen Worten: Konventionelle klassische Musik hatte nach wie vor einen festen Platz im Dada-Programm, weiterhin durchmischt mit aussereuropäischen Einflüssen.
So komponierte Heusser auch exotische Tanzrhythmen und ein Stück mit dem Titel «Wakauabluthe», das auf die Kultur der Maori anspielt. Zudem ist eine Ragtime-Komposition aus dem Jahr 1919 – der «Sumatra Rag» – von Heusser überliefert. Der Schweizer stimmte offenbar, obwohl musikalisch traditioneller sozialisiert, in die Ragtime-Appropriation der Dadaisten ein, die am Eröffnungsabend auch mit Hugo Balls erstem Dada-Manifest präsent war. Darin imitierte er mit der Vokabel «Dada» den synkopierten Ragtime-Rhythmus: «Dada Tzara, Dada Huelsenbeck, Dada m’dada, Dada mhm’ dada, Dada Hue, Dada Tza.»
Was für heutige Hörgewohnheiten kaum mehr aufregend ist, wirkte für einen Rezensenten, der über «formlose Klangkombinationen» und «schrille Dissonanzen» berichtete, offenbar vollkommen fremd. Das soignierte Zürcher Publikum erlebte an den Dada-Soirées mit einigen Jahren Verzögerungen seinen Strawinsky-Schock, den die Pariser Bevölkerung mit dem Aufführungsskandal von «Le Sacre du Printemps» (1913) längst hinter sich hatte. Zürich war eben keine Grossstadt und mit der musikalischen Avantgarde noch gänzlich unvertraut.
«Da da ca ca po po»
Das änderte sich ein Jahr später, als mit der Schweizerin Suzanne Perrottet eine weitere ausgebildete Komponistin und Musikpädagogin dem Kreis der Dadaisten beitritt. Sie war Mitarbeiterin und zeitweilige Partnerin des Choreografen Rudolf von Laban, der mit seiner Tänzerin Mary Wigman bereits im Cabaret Voltaire aufgetreten war.
Mit Perrottet gelangt die atonale Musik von Arnold Schönberg nach Zürich, der auch in Berlin mit seinen Aufführungen für Skandale und heftige Reaktionen sorgte. Schönbergs Erweiterung der Tonalität war tatsächlich eine Revolution. In seinen frühen Klavierstücken verwandeln sich, so der Musikkritiker Alex Ross, «die Tasten in eine Art Schlagwerk, ein Schlachtfeld in dreifachem und vierfachem Forte». Auch Schönberg hatte übrigens eine kurze Vorgeschichte im Variété: Im Jahr 1902 wirkte er interimistisch als Kapellmeister am Kabarett «Überbrettl» in Berlin.
Perrottet erinnert sich später wie folgt an ihre Darbietung der sechs kleinen Klavierstücke:
Das war meine Rolle bei den Dadaisten, die ganz moderne, neuzeitliche Musik dem Publikum vorführen. So spielte ich an etlichen Dada-Soiréen ausschliesslich Werke im atonalen Stil. Dem damaligen Publikum war diese Musik völlig unbekannt und kam ihnen für ihre Ohren grässlich vor.
Die letzte Bemerkung stimmt mit einer von dem Bildhauer Hermann Hubacher kolportierten Anekdote überein. Darin schildert er, wie er mit dem damals im Schweizer Exil lebenden Pianisten und Komponisten Ferruccio Busoni «eine Sitzung der Dadaisten in den Tiefenhöfen» besuchte (gemeint ist das Gebäude der Galerie Dada). Hubacher porträtiert Busoni als einen, der «für alles Neue, alles Revolutionäre einen offenen Sinn hatte».
Tatsächlich verfasste Busoni 1907 den «Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst», in dem er verschiedene nicht tonale Experimente theoretisch durchspielte und sogar die Idee elektronisch erzeugter Musik emphatisch begrüsste. Dieser Essay, mit dem sich auch Schönberg intensiv auseinandersetzte, erschien im Dada-Jahr 1916 in einer zweiten Auflage und löste eine grössere Kontroverse aus als der noch junge Dadaismus. Busoni war, zumindest theoretisch, mit allen musikalischen Wassern gewaschen. Dennoch reagierte er auf Hubachers Frage, wie ihm der Dada-Abend bekommen sei, mit der Bemerkung:
Ich glaube, man müsste diese gestammelte Dichtung und Musik da da ca ca po po hören, um sie zu verstehen, und ein zweites Mal höre ich mir das nicht an.
An dieser Reaktion – die immerhin auch einen gewissen dadaistischen Witz verrät – lässt sich ermessen, wie radikal Neue Musik für damalige Hörgewohnheiten geklungen haben muss. Nicht die exotischen (und exotisierenden) Dada-Inszenierungen und Performances haben damals das Publikum in erster Linie verstört – sondern die sogenannte E-Musik in ihren neuesten, avantgardistischen Form.
Aufschlussreich ist Busonis Formulierung von «gestammelter Dichtung und Musik». Wer stammelt, der spricht nicht flüssig, sondern stockend, abgehackt, zusammenhangslos. Damit scheint Busoni – entgegen seiner abfälligen Absicht – tatsächlich einen gemeinsamen Nenner für alle möglichen Dada-Darbietungen gefunden haben: von der Lautdichtung über Trommelrhythmen bis hin zur Neuen Musik eines Schönberg, in der die einzelnen Akkorde auch auseinanderzufallen drohen.
Wie Schönberg die Tonalität zerlegte, unterminierte Hugo Ball mit seiner Lautdichtung Syntax und Semantik im Bereich der Sprache, um «die einzelnen Satzteile, ja die einzelnen Vokabeln und Laute» in ihrem klanglichen Eigenwert hervorzuheben. Ungefähr gleichzeitig arbeiteten sowohl der Dadaismus als auch die als damals radikal empfundene Neue Musik an der Erweiterung der poetischen und musikalischen Ausdrucksformen, was damals aber zunächst nur als Zerstörung herkömmlicher Strukturen und Normen wahrgenommen wurde.
Von Zürich nach Paris: Dada Jazz Bands
Aus solchen ersten Publikumsirritationen ziehen die Dadaisten schon bald ein programmatisches Kalkül. Dazu kam ihnen ein neues musikalisches Genre entgegen, das gerade den Kontinent eroberte: der Jazz.
Die Ragtime-Ära wurde gewissermassen durch den Jazz beendet. Ab 1917 war der Begriff geläufig und wurde von den Dadaisten rasch adaptiert, unter anderem auch für Phänomene, die mit Jazz kaum etwas zu tun hatten. So erklärt Huelsenbeck rückblickend den Zürcher Dadaismus schlichtweg zur «Geburtsstunde der Jazzmusik» – wiederum durchaus ein Akt der Aneignung: «Wir nannten das damals etwas hochtrabend ‹Sinfonie der Geräusche›, aber es war nichts anderes als das, was heute in technisch höchster Form sich als Jazzmusik präsentiert.»
Tatsächlich lässt sich die Genese des dadaistischen Jazz von Zürich aus über Genf bis nach Paris nachzeichnen.
An der letzten Zürcher Dada-Veranstaltung im September 1919 spielte zum ersten Mal eine «dadaistische Jazz-Band-Kapelle» auf, im Einsatz unter anderem: «Hundepfeife, Mundharmonika» und «seidenpapierüberzogener Kamm». Der Grand Dada Ball vom 5. März 1920 in Genf kündigt dann eine «Jazz Band Dada» an: ein Klein-Orchester, ausgestattet mit Xylophon, Djembe-Trommeln und Klavieren, angeblich ohne Tasten, spielte eigenwillige Stücke wie ein «Twostep für kopulierende Lokomotiven». Hier wird zugunsten des Spektakels zum ersten Mal eine seriöse musikalische Aufführung bewusst unterlaufen. Ein Effekt, der sich in Paris intensivieren wird.
In der französischen Hauptstadt gingen die Begriffe «Jazz» und «Dada» Hand in Hand, denn das neue Genre aus Amerika erreichte die Metropole ungefähr gleichzeitig wie der Dadaismus aus der Schweiz. Der Schriftsteller und Filmregisseur Jean Cocteau sah in dieser zeitlichen Koinzidenz eine ästhetische Verwandtschaft, wenn er im Dada-Almanach schreibt: «Si on accepte les Jazz-Band (…) il faut accueuillir aussi une littérature que l’ésprit goute comme un cocktail.» («Wer Jazz-Bands akzeptiert (...), muss sich auch einer Literatur öffnen, die der Geist geniesst wie einen Cocktail.») Cocteau bezeichnete sich selbst als «Jazz Trop Drummer» – und zwar auf dem berühmten Gemälde «L’Œil cacodylate» von Francis Picabia, auf dem sich alle Protagonisten der Pariser Dada-Szene verewigt haben: Picabia und seine Schwägerin, die Musikerin Marguerite Buffet, Tristan Tzara, der Schriftsteller Georges Ribemont-Dessaignes sowie die Komponisten Georges Auric, Francis Poulenc und Darius Milhaud, Letzterer mit dem Spruch: «Je m’appelle DADA depuis 1892.»
Gemeinsam mit Milhaud und Poulenc, die beide auch zu der von Cocteau geleiteten Avantgarde-Formation «Les Six» gehörten, gründete Cocteau eine experimentelle Jazzband, die populäre Musik mit unkonventionellen Instrumenten spielte. Sie machten sich dabei den skandalisierten Jazz für ihre Zwecke zu eigen. In den Salons der Zeit wurde der Jazz, obschon es sich damals nicht um wilden Free Jazz, sondern um vergleichsweise gemässigte, an traditionellen Standards orientierte Formen handelte, als fürchterlicher Lärm und als Antikunst wahrgenommen. Das kam den Dadaisten entgegen, die diesen Effekt noch verstärkten, indem sie umgekehrt ihre improvisierte Geräuschmusik zum Jazz erklärten.
So kam es, dass in der Presse dadaistische Gruppierungen generell als «littérature jazz bands» wahrgenommen wurden.
Non musique
Noch eine weitere Linie führt von Zürich nach Paris: über Erik Satie, der wie Schönberg eine musikalische Vorgeschichte im Variété besass.
Obwohl der um eine Generation ältere Komponist selbst kein bekennender Dadaist war, stand er dadaistischen Kreisen nahe, nimmt seine Musik doch den «esprit dada» bis zu einem gewissen Grad vorweg, etwa in absurden Titeln wie «Trois Morceaux en forme de Poire» von 1903. (Satie wehrte sich mit diesem Titel angeblich gegen Debussys Vorwurf, seine Stücke seien formlos.) Zudem spielte Saties revoltierende, nicht zuletzt gegen Debussy gerichtete Haltung und seine Abneigung traditioneller Klassik den Dadaisten in die Hand.
Bereits in Zürich bei der grossen Dada-Soirée im Kaufleuten vom 9. April 1919 spielte Suzanne Perrottet einige Stücke von Satie, darunter auch die «Menu propos enfantins», die gewissermassen Hugo Balls Auffassung bestätigten, die Dadaisten seien die «Wickelkinder einer neuen Zeit». Tzara kommentiert Saties Musik in seiner «Chronique zurichoise» entsprechend als «ironie musicale non musique du jem’enfoutiste l’enfant gaga sur la merveille échelle du mouvement Dada»; und er anerkennt sie somit als Vorläufer der Dada-Bewegung, als gleichsam dadaistisches Kleinkind, als «enfant gaga».
Diese Tendenz zu einer «ironie musicale» und zur «non musique» war bestimmend für den Pariser Dadaismus.
Zwar knüpften auch die Pariser Dadaisten an die von Amerika importierte Folkmusik an – Darius Milhaud etwa komponierte mit «Caramel Mou» einen Shimmy, einen Tanz, der dem Foxtrott entsprang; und Georges Auric den Foxtrott «Adieu, New York». Daneben aber waren vornehmlich Francis Picabia und Georges Ribemont-Dessaignes als Nichtkomponisten darum bemüht, mit allen musikalischen Traditionen zu brechen und eine provokante Antimusik zu propagieren, um Saties «non-musique» noch zu überbieten.
An der «Manifestation Dada» in der Maison de L’Œuvre in Paris kam am 27. März 1920 Ribemont-Dessaignes Komposition «Pas de la chichorée frisée» zur Aufführung. Interpretiert wurde das Stück am Klavier von Marguerite Buffet, einer professionellen Pianistin, Ribemont-Dessaignes selbst assistierte als Notenblattwender.
Bei dem Stück handelt es sich um eine reine Zufallskomposition, wie sie zuvor schon der mit Ribemont-Dessaignes befreundete Künstler Marcel Duchamp erprobte und die in gewisser Weise bereits kompositorische Verfahren von John Cages «Music of Changes» vorwegnimmt.
Mithilfe einer Art Roulette-Rad, das anstelle von Zahlen auf dem Zifferblatt Noten in Halbtonschritten enthielt, entstand das Stück buchstäblich als reines Glückspiel, dessen Resultat vollkommen unvorhersehbar war. Für das Publikum, das nicht um die Entstehungsbedingungen wusste, war es nicht zwingend unterscheidbar, ob es sich bei der dissonanten Tonfolge um kontingente Klangerzeugnisse oder um eine Extremform atonaler Tonkunst handelt, die damals für viele nicht weniger arbiträr und willkürlich klang. Diese Ambivalenz gehört zur Subversion des Stücks dazu, das die dominante Rolle des Künstlers und Komponisten im kreativen Akt infrage stellt.
Zwei Monate später, am 26. Mai 1920, am «Festival Dada» in der Salle Gaveau in Paris, kam erneut eine Zufallskomposition von Ribemont-Dessaignes zur Aufführung. Vor allem aber erklang bei dieser Gelegenheit das Stück «La Nourrice Americaine» von Francis Picabia, das als Extrempunkt der dadaistischen Antimusik gelten darf.
Für die anwesende Klavierbauer-Familie Gaveau war es Augenzeugenberichten zufolge schon schwer erträglich, als eine Orgel, mit der gewöhnlich Bach gespielt wurde, für die dröhnende Darbietung eines Foxtrotts herhalten musste. Picabias Stück setzte diesem Affront die Krone auf.
Angekündigt wurde sein Stück als «musique sodomiste», und dass es ebenfalls von der Profipianistin Marguerite Buffet aufgeführt wurde, war ein vollkommener Witz. Die Komposition nämlich besteht lediglich aus drei variationsfrei wiederholten Tönen, wie sie auch jedes Kind hätte spielen können. Und weil die Repetition schier endlos erfolgt, ist diese «musique sodomiste» sprichwörtlich ein pain in the ass. Sie will «auf die Nerven gehen».
Der Titel lässt somit keinen Zweifel: Das Stück war als Angriff auf den Publikumsgeschmack gedacht.
Gleichwohl nimmt die Komposition musikalische Entwicklungen zur Minimal Music oder zur Neuen Musik eines Morton Feldman vorweg.
Dadas musikalisches Erbe
Blickt man von diesem Schlusspunkt in Paris zurück auf die Zürcher Jahre, wird die Ironie der dadaistischen Soundgeschichte deutlich: Was heute als Inbegriff des dadaistischen Selbstverständnisses gilt, steht keineswegs am Anfang der Bewegung, sondern findet sich gewissermassen erst am Ende. Der Bruch mit der Tradition manifestierte sich nicht als programmatische Zäsur, sondern als sukzessive Entwicklung aus einer Vielzahl musikalischer Einflüsse und Experimente, die aus dem Geist der Subversion eine neue klangliche Avantgarde begründeten.
Mehr noch: Was damals den Gipfel dadaistischer Provokation ausmachte, gilt heute als absolute Speerspitze elitärer Kunstmusik. Eine Kunstmusik allerdings, die mit Dada kaum je in Verbindung gebracht wird.
Wie Greil Marcus in seiner epochalen Studie «Lipstick Traces» nachgezeichnet hat, findet das Label Dada hingegen musikhistorisch ganz woanders Resonanz: in der Popmusik. Diese hat sich, im Unterschied zur Klassik, zumindest vom Habitus her das Provokationspotenzial bewahrt.
In popkulturellen Subgenres wie Punk, Noise und Industrial – häufig mit direkten Referenzen in Bandnamen von Cabaret Voltaire bis Merzbow – wird jener brachiale Lärm gepflegt, den die Dadaisten selbst in dieser Form nie praktiziert haben.
Magnus Wieland ist promovierter Literaturwissenschaftler und arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Schweizerischen Literaturarchiv in Bern, wo er unter anderem für den Nachlass von Hugo Ball zuständig ist. Der Beitrag basiert auf einem Vortrag bei den «Meersburger Konzertgesprächen» Ende 2021.