Misty morning, Westminster Bridge: Morgenverkehr in Londons City.

Grossbritannien zerfällt

Die Sowjetunion, Jugoslawien, Österreich-Ungarn, das König­reich beider Sizilien: Sie zerbrachen letztlich als Ansammlung von Nationen und Territorien. Steht das Vereinigte Königreich vor dem gleichen Schicksal? Kann ausgerechnet der Brexit es retten?

Von Tom McTague (Text), Tobias Haberkorn (Übersetzung) und Robbie Lawrence (Bilder), 05.02.2022

Die düstere Wirklichkeit, der die Briten Anfang 2022 ins Auge sehen müssen: Unter den mächtigen Ländern der Erde steht kein anderes so kurz vor dem Zerfall wie ihres. Wenn man sich Gross­britanniens jüngere Vergangenheit anschaut, ist das nicht verwunderlich. Zwei Kriege hat das Vereinigte Königreich seit dem Jahrtausend­wechsel verloren, in Afghanistan und im Irak.

Und musste dabei zweimal mitansehen, wie seine strategische Ausrichtung nieder­gerissen wurde. Zuerst torpedierte 2008 die Finanzkrise die ökonomisch-soziale Ordnung des Landes. Und mit dem Brexit-Referendum von 2016 machten die Briten nicht nur ihre langfristige aussen­politische Strategie obsolet. Ihre Regierung vollbrachte auch das Kunst­stück, eine wirtschaftliche Grenze sowohl zu ihrem grössten Handels­partner – der EU – als auch im Landes­inneren – zu Nord­irland – zu errichten. Nebenbei gab der Brexit der schottischen Unabhängigkeits­bewegung einen kräftigen Schub. Als ob das alles nicht genug wäre, verpatzte die Regierung auch noch die Antwort auf die Corona-Pandemie: Neben einer der höchsten Todes­raten der entwickelten Welt hatte das Vereinigte Königreich auch eine der schwersten Rezessionen zu ertragen.

Viele ausser­gewöhnliche Dinge sind da zusammen­gekommen. Doch mir scheint, als sei die existenzielle Bedrohung Gross­britanniens nicht einfach auf schlechtes Regierungs­handeln zurück­zuführen, obwohl natürlich auch das eine Rolle spielt. Die britische Krise geht tiefer. Sie hat eine spirituelle Dimension.

Zum Autor

Tom McTague lebt in London und schreibt für den «Atlantic». Er ist Co-Autor von «Betting the House: The Inside Story of the 2017 Election». Dieser Beitrag erschien zuerst am 5. Januar 2022 im «Atlantic».

Die ersten zwanzig Jahre des neuen Jahr­tausends mögen für Gross­britannien objektiv betrachtet eine schreckliche Zeit gewesen sein. Doch das Land hatte in seiner jüngeren Geschichte schon ganz andere Krisen zu überstehen, ohne dabei dem Verlust des Zusammen­halts so nahe zu kommen wie jetzt. Im Zentrum der aktuellen britischen Malaise steht eine Identitäts­krise. Keine Macht der Erde ist sich so uneins, ob sie überhaupt eine Nation darstellt. Geschweige denn, wie sie sich als Nation verhalten sollte.

Grossbritannien ist nämlich kein Land im traditionellen Sinn, wie es Frankreich, Deutschland, ja sogar die Vereinigten Staaten von Amerika sind. Britain, «Grossbritannien», das steht als Abkürzung für «Vereinigtes Königreich Gross­britannien und Nord­irland». Eine Ansammlung von Nationen und Territorien – England, Schottland, Wales, das umstrittene Gebiet Nord­irlands –, zugleich aber ein legitimer, souveräner, einheitlicher National­staat.

Böses Omen? Ein Rabe nahe dem Regierungsbezirk Westminster in London.
Besucher warten auf den Einlass zur Downing Street, dem Wohnsitz des britischen Premierministers.

Nach dem Untergang der Sowjet­union und Jugoslawiens ist Gross­britannien eines der wenigen Länder des Westens, deren Name nicht einfach das sagt, was es ist. Das Vereinigte König­reich ist nicht gleich Gross­britannien. Einige seiner Einwohnerinnen definieren sich als Britinnen, andere nicht. Wieder andere nennen sich Briten und etwas anderes, sprechen von schottischer oder walisischer Nationalität. Für die Nordirinnen ist die Lage noch vertrackter. Manche definieren sich als ausschliesslich britisch, andere als ausschliesslich irisch.

Viele halten den Brexit für den Ursprung der britischen Krise. Mit dem Referendum, glauben sie, hätten englische Nationalisten den Gesellschafts­vertrag gebrochen, der die Nation zusammen­hielt, und dabei die wahre Natur dieser Nation offengelegt. Gross­britannien als ungleiche Union, gemacht von Engländern für Engländer. Es war aber eine Mehrheit des gesamten König­reichs, die für den Brexit gestimmt hat. Diese Mehrheit ist geografisch so verteilt, dass zwei Teile des Landes, Schottland und Nord­irland, mehrheitlich gegen den Brexit stimmten. Es waren die Stimmen der Engländer, der dominierenden Nation, die den Ausschlag gaben.

Diese englishness des Brexit kann allerdings nur zu einem Streit­thema werden, wenn die Menschen sich als etwas anderes als «britisch» definieren. Wenn ein amerikanischer Präsident die Mehrheit des Electoral College auf sich vereint, dann ist egal, ob seine Konkurrentin in diesem oder jenem Bundes­staat mehr Stimmen hatte als er. Selbst wenn sie ihren Präsidenten ablehnen, sehen amerikanische Wähler sich zuerst als Amerikaner.

Kann das Vereinigte Königreich sich dieses fundamentalen Zusammen­halts überhaupt noch sicher sein? Der Brexit mag binnen­nationale Spannungen verschärft haben. Verursacht hat er sie nicht. Er hat nur die Ausmasse eines Problems gezeigt, das schon lange bestand.

Ein faules, selbst­gefälliges Land

Vergangenen Sommer konnte ich mich selbst davon überzeugen, wie weit sich das Vereinigte König­reich auseinander­gelebt hat. Während alle Pläne für Reisen in die Tropen in einer Jahrhundert­pandemie zerstoben, nutzten meine Frau, meine Kinder und ich einen dreimonatigen Elternschafts­urlaub, um unser eigenes Land von oben bis unten zu bereisen. Nach dem G-7-Gipfel in Cornwall im Südwesten Englands brachen wir auf.

Eine deprimierende Veranstaltung war dieser Gipfel gewesen. Uninspirierte Staaten­lenkerinnen hatten versucht, die Idee eines vereinigten Westens zu verteidigen – während ihr Gastgeber seine liebe Mühe hatte, die Idee eines vereinigten Gross­britanniens zu verteidigen. Nach dem Gipfel löschte ich Twitter und die meisten News-Apps von meinem Handy, und wir fuhren los.

Während ich Nachrichten mied, nahm ich ein Buch zur Hand, das ich seit Jahren lesen wollte: «Der Leopard» von Giuseppe Tomasi di Lampedusa. Es wurde schnell zu einer Art prophetischem Begleiter für mich. Die Identitäts­krise des Vereinigten König­reichs fand ich darin besser beschrieben als in all den Zeitungs­artikeln und Fernseh­reportagen der vergangenen Jahre.

Claire, eine junge Bloggerin in Edinburgh.
Es ist kalt in Glasgow: Fenster eines Pubs bei der Queen Street Station.

Der Roman beginnt im revolutionären Sizilien der 1860er-Jahre. Das alte König­reich beider Sizilien zerfällt und wird von Garibaldis neuem Italien geschluckt. Im Zentrum der Geschichte steht Don Fabrizio, Fürst von Salina, ein Spross der alten sizilianischen Aristokratie. Als er erfährt, dass auf seinen Besitzungen ein Soldat im Kampf für den letzten bourbonischen Herrscher Neapels gefallen ist, lässt ihm dieser Tod keine Ruhe.

Wofür hatte sich dieser Soldat geopfert? Es gab keine Zweifel, dass Sizilien im italienischen Staat aufgehen würde. «Für den König hat er sich geopfert», versucht sich Don Fabrizio zu beruhigen. «Der König steht für Kontinuität, Anstand und Ehre, Recht und Ordnung.» Der Soldat soll also für eine höhere Sache gestorben sein. Doch der Fürst weiss, dass diese Erklärung nicht hält. Der alte König hatte seine Funktion schon lange verloren. «Könige, die für eine Idee stehen, können, ja dürfen ein gewisses Niveau niemals unterschreiten. Tun sie es doch, dann leidet diese Idee.»

Die Passage erinnerte mich an ein Gespräch mit einem Vertrauten von Premier­minister Boris Johnson. Er war besorgt, das Vereinigte Königreich werde bald so anachronistisch aussehen wie das sizilianische König­reich oder wie einstmals Österreich-Ungarn. Gross­britannien drohe der Zusammen­bruch, weil es zu einem faulen, selbst­gefälligen, blockierten Land geworden sei. Der Staat würde seine Grund­funktionen nicht mehr erfüllen: die Wirtschaft stärken, die Grenzen schützen, die nationale Einheit sichern. Stattdessen sei die Regierung einem elitären Klüngel anheim­gefallen, der den Separatismus angeheizt und allen Wohlstand in London und Umgebung konzentriert habe – eine politische Elite, der die Stimmung in der Bevölkerung egal sei.

Welch drastisches, trostloses Bild. Ähnlich wie das sizilianische König­reich hatte Österreich-Ungarn seine Akzeptanz beim Volk verspielt, weil es sich in der Krise des Ersten Weltkriegs als unfähig erwies, seine Bevölkerung zu ernähren, zu schützen und zu repräsentieren. In seinem Buch «Habsburg – Geschichte eines Imperiums» hat der Historiker Pieter M. Judson eindrucks­voll gezeigt, dass Österreich-Ungarn nicht etwa deshalb unterging, weil das Reich ein illegitimes Relikt vergangener Zeiten gewesen wäre. Es scheiterte an der Heraus­forderung, den Ersten Weltkrieg zu überstehen. Indem er sich zu einer bloss noch österreichischen Autokratie entwickelte, untergrub der österreichisch-ungarische Staat seine Legitimität als Vielvölker­staat. Im Überlebens­kampf war ihm die Vorstellung abhanden­gekommen, wer oder was er einmal gewesen war.

Würde Grossbritannien dasselbe widerfahren? Fuhr ich durch ein Land, das sich überlebt hatte und bald in seine Bestand­teile zerfallen würde? Eine Spaltung des König­reichs ist gewiss nicht undenkbar. Wir stellen uns mächtige Nationen als unverwüstliche Protagonisten des Welt­geschehens vor, aber das ist ein Trugbild. Man muss nur wenige Generationen zurück­blicken, um zu sehen, wie das Vereinigte König­reich einen Grossteil seines Territoriums verlor.

London war daran gescheitert, den Einheits­staat, in den es 1800 neben der britischen auch die irische Insel gezwungen hatte, zu einer wirklichen Nation zu formen. 1991 zerbrach die Sowjet­union, weil sie nicht mehr imstande war, das Gewicht ihrer Fehler zu tragen. Was als Bestreben nach grösserer Autonomie für die Teil­republiken begonnen hatte, wurde zum Verlangen nach Unabhängigkeit vom Zentral­staat selbst: Russland.

In der Sackgasse: Am frühen Morgen in Glasgow.

Wenn man mit britischen Parlamentariern spricht, frappiert das Ausmass des Pessimismus, mit dem sie auf die Zukunft des Landes blicken. Ein Bekannter von mir, der anonym bleiben möchte, weil ihm seine Position ein offenes Spekulieren über die Zukunft des Landes verbietet, erzählte mir die Geschichte seines Grossvaters.

Der Grossvater hatte für Österreich-Ungarn gekämpft, bis das Land zusammen­brach und er nach Grossbritannien flüchtete. Er wurde im Vereinigten Königreich begraben, doch seinen Sarg liess er mit der Flagge des alten Reiches schmücken, jenes Staates, der ihn als Juden geschützt, für den er gekämpft hatte und dem er sich bis zuletzt verbunden fühlte. Sein Enkel, der selbst unter der Flagge des Vereinigten Königreichs gekämpft hatte, erzählte mir von seiner Angst, ihm könne eines Tages dasselbe widerfahren, dass seine Enkel­kinder ihn unter der Flagge einer Nation begraben würden, der er gedient und für die er gekämpft hatte – die nun aber Geschichte war.

Im Herzen Englands

Die erste Etappe unserer Reise führte uns in ein Ferien­resort namens «Butlin’s» in Somerset. Somerset ist eine Grafschaft im südwestlichen England, vielleicht ist es der britischste Ort der Welt. Das «Butlin’s» wurde Anfang der 1960er-Jahre erbaut, um der Arbeiter­klasse erschwingliche Ferien zu ermöglichen. Das Resort hat Billig­flieger, Pauschal­urlaube und den Aufstieg der Mittel­schicht überlebt. Es ist ein volkstümlicher, relevanter Ferien­ort geblieben. Irgendwie scheint er mir repräsentativer für das moderne Gross­britannien als jeder andere Ort, den wir auf unserer Reise sahen.

Ich bin ein Mittelschichts­kind der 1980er. Und ich muss zugeben, dass das «Butlin’s» für mich eine befremdliche Erfahrung war – befremdlicher, als ich es zunächst wahrhaben wollte. Es ist ein Ort, an dem die Art Gentrifizierung, die für mich die Normalität darstellt, nicht stattgefunden hat. Das «Butlin’s» wirkt etwas altmodisch, ist aber überhaupt nicht aus der Zeit gefallen. Eher hat es sich eine Zeitlosigkeit bewahrt, es ist modern und vergangen zugleich.

Als ich meiner Mutter von unserem Trip dorthin erzählte, schickte sie mir ein Foto aus den 1960ern, das sie als kleines Mädchen im selben Resort zeigt. Man erkennt dieselben billigen, terrassen­artig geordneten Bungalows, die knallroten Uniformen des Personals, die Fahr­geschäfte und die Fritten­buden.

Heute ist das «Butlin’s» viel multi­kultureller, multi­ethnischer und inter­generationeller als all die hochpreisigen Ferien­anlagen, die wir auf unserer Reise sonst besuchten. Der Wein und das Essen waren an diesen Orten natürlich besser als im «Butlin’s», und die Gespräche klangen eher wie auf Twitter. Aber diese Orte waren sozial viel selektiver und monokultureller.

Mich erinnerte das «Butlin’s» daran, dass es etwas dezidiert Britisches gibt, denn diese Ferien­anlage hätte nirgendwo anders sein können als in Gross­britannien. Weder war sie ein Abklatsch von etwas Amerikanischem noch ein Versuch, europäische sophistication nachzuahmen. Okay, es gab dort auch ein paar italienische und andere Restaurants, die es zu Zeiten meiner Mutter vielleicht nicht gegeben hatte. Aber die Kantinen servierten noch immer Frittiertes zum Frühstück, Gebratenes zum Abend­essen und sponge pudding mit Eier­creme zum Nachtisch.

Es war eine jener englischen Institutionen, die George Orwell in «The Lion and the Unicorn» («Der Löwe und das Einhorn») beschrieben hatte: Orte, die von der Mittel­klasse – von Leuten wie mir – belächelt, ja beinahe verachtet werden, obwohl sie zum modernen Gross­britannien ein viel realistischeres, entspannteres Verhältnis haben als diese Mittel­klasse selbst. Der Umstand, dass ich mich dort nicht besonders wohl oder heimisch fühlen konnte, sagt mehr über mich selbst als über das «Butlin’s».

Als Nächstes fuhren wir nach Wiltshire zum «Chalke Valley History»-Festival. Die Grafschaft liegt im Herzen von Wessex, dem alten angel­sächsischen König­reich, aus dem England einst hervor­gegangen ist. Die felsige, bewaldete Landschaft und die unverfälschten Hobbit-Dörfer im Süden Englands schienen direkt aus einer Beschreibung J. R. R. Tolkiens zu stammen. Mich liess diese Landschaft an die uralte englische Geschichte denken. Das Land hält sich gerne für eine Miniversion der USA. Wenn man aber erst mal so tief ins alte England vorgedrungen ist, wird einem klar, dass dieses Land, ganz wie der Rest Europas, auf eine Weise in Raum und Zeit verankert ist, die mit Amerika nicht zu vergleichen ist.

Zweifellos befanden wir uns im Herzen Englands, aber scheinbar doch in einem anderen Land als im «Butlin’s». Es war, als hätten wir ein Lager angel­sächsischer Leibeigener verlassen, um uns mit ihren normannischen Lehns­herren zu versammeln. Wie das «Butlin’s» hatte auch das Chalke Valley seine Kleider­ordnung: Pastell­töne in allen erdenklichen Schattierungen, Leinen­jacken, dazu eine Auswahl von Segel­schuhen, die jede Regatta übertraf.

Als ich für Kaffee anstand, kam mir ein Gesprächs­fetzen zu Ohren, der im «Butlin’s» undenkbar gewesen wäre: «Nein, nein», sagte eine Frau ganz aufgeregt zu ihrer Freundin, «damit sind überhaupt keine Verpflichtungen verbunden. Es handelt sich um eine ‹non-executive position›.» Es ging um ihren neuen Posten als Aufsichts­rätin einer Firma oder Charity.

Auf dem Festival traf ich meinen Freund Dan Snow. Wir sprachen über die Komplexität Englands. Als wir den Blick über die Landschaft streifen liessen, deutete Dan auf eine Abfolge deutlich sichtbarer Mulden im gegenüber­liegenden Hang. Es könnte sich um alte römische Terrassen­gärten handeln, sagte er, niemand wisse es genau. Dan ist Historiker. England hat eine historische Tiefe, deren Geheimnisse bis heute nicht geklärt sind.

Ist es in einem derart alten Land überhaupt von Bedeutung, ob das Vereinigte Königreich – ein politisches Gebilde, das gerade einmal 100 Jahre alt ist, eine Zukunft hat? Die heutigen Staats­grenzen sind das Resultat der irischen Abspaltung von 1921. Doch schon die vorherige Staats­form war nicht sehr alt. Sie war das Ergebnis zweier Unionen: jener zwischen England und Schottland im Jahr 1707 und jener zwischen Gross­britannien und Irland im Jahr 1800. Sollte das Vereinigte König­reich untergehen und mit ihm Gross­britannien, dann würde England weiter existieren.

War das kein Trost? Meine Traurigkeit über die nachlassenden Binde­kräfte des König­reichs schien rein sentimental begründet. Würde sich irgendetwas in meinem Leben wirklich ändern?

Wie ich so vor mich hingrübelte, fand ich meine Gedanken im «Leoparden» wieder. Don Fabrizio sinniert über Sizilien: «Alles wird bleiben, wie es ist. Es werden lediglich ein paar Mitglieder der herrschenden Klassen ausgetauscht.» Damit verabschiedet er die revolutionären Hoffnungen der liberalen garibaldini, die einen gesellschaftlichen Umsturz gekommen sahen. «Die Salinas werden die Salinas bleiben», sagt der Fürst voller Stolz über seine Familie.

Ein Gefühl von Verlust

Wir fuhren von England nach Schottland, das sich heute beinahe wie ein anderes Land anfühlt. Wir wollten auf die schottischen Inseln. Eine Woche nach Shetland – ein 100 Meilen nördlich des Festlands gelegener Archipel –, dann auf das etwas weiter südlich gelegene Orkney, schliesslich quer durch die Highlands zu den spektakulären westschottischen Inseln, den Hebriden.

Auf Shetland ist man dem norwegischen Küstenort Bergen näher als Edinburgh. Schottische Flaggen sind eine Seltenheit. «Nach Schottland fahren» ist eine übliche Rede­wendung. Auch in Orkney spürt man eine erstaunliche Distanz. «Die beiden Insel­gruppen unterscheiden sich sehr vom restlichen Schottland», sagte mir Alistair Carmichael, der die Inseln im britischen Parlament als Abgeordneter vertritt. «Sie sind nordisch, nicht keltisch.»

Slàinte mhath! Tony’s Fish Bar in Newington, Edinburgh.

Orkney hatte in der Neusteinzeit enorme Bedeutung. Die Menschen, die hier vor 5000 Jahren lebten, errichteten gigantische Stein­tempel, die zu grossen Teilen erhalten sind. Wie das Chalke Valley strahlt Gross­britanniens hoher Norden einen beruhigenden Fatalismus aus: geography is destiny, Geografie ist Schicksal. Orkney wird immer Orkney bleiben, egal was mit dem Vereinigten Königreich passiert. Doch dieser Fatalismus beruhigt nur für kurze Zeit. Was ich in Orkney spürte, war ein Gefühl von Verlust, nicht von Stabilität.

Der Eindruck festigte sich während meiner gesamten Zeit in Schottland. Noch auf der Insel hatten wir Skaill House besichtigt, den Sitz der einstmals mächtigsten lokalen Adels­familie. Das Landgut ist Ausdruck einer vergangenen Zeit und einer vergangenen Klasse. Jedes Zimmer ist vollgepackt mit fernöstlichen Trophäen: Tigerfell­teppiche mit intaktem Tigerkopf, japanische Seiden­kunst, chinesisches Porzellan, indische Teppiche. In einem Raum erklang eine Tonaufnahme der letzten Hausherrin. Was da zu hören war, war keine schottische, sondern eine britische Adels­dame. Zuerst dachte ich, es sei die Queen.

Die Tonspur erinnerte mich daran, dass die Aristokratie eine britische Institution gewesen war. Im ganzen Land schickte die Adels­klasse ihre Kinder auf dieselben Schulen, trat in denselben Staats­dienst ein, führte dasselbe Empire. All das ist heute Vergangenheit, doch es lebt, seiner Substanz beraubt, in alten Kostümen und Titeln weiter. Die alte Adels­dame klingt heute nicht mehr britisch, sondern englisch. Sie ist die Repräsentantin einer ausländischen Klasse.

All das soll nicht heissen, dass das Vereinigte Königreich wegen der Aushöhlung der britischen Aristokratie zerfiele – so ist es nicht. In ihrem Kern hat diese Union ein viel tieferes Problem, das Skaill House nur illustriert: Die Britinnen haben keine gemeinsame Vorstellung davon, was sie sein wollen.

Wer heute Schottland besucht, fährt durch ein Land, aus dem sich der britische Staat beinahe vollständig zurück­gezogen hat. Einstmalige nationale Industrien oder Institutionen sind verschwunden. Auf unserem Weg nach Glasgow passierten wir eine verlassene britische Nuklear­forschungs­anlage und eine aufgegebene Militär­basis. Die einzigen Spuren des britischen Staates waren die teilprivatisierte Post, das Pfund und die Monarchie. Reicht das wirklich aus?

Das volle Ausmass des freiwilligen Rückzugs Gross­britanniens wurde uns klar, als wir in Schottland unsere zweite Dosis des Covid-Vakzins bekommen sollten. Nominal hat Grossbritannien einen National Health Service (NHS), einen nationalen Gesundheits­dienst. In Wahrheit wurde diese Behörde aber in subnationale Einheiten zerlegt. In Glasgow gab es ein riesiges Impf­zentrum, offen für alle, ohne Termin. Es funktionierte vorzüglich: Eine Kranken­pflegerin nahm mit einem iPad unsere Daten auf, und ein paar Minuten später hatten meine Frau und ich unsere zweite Impfdosis im Arm. Schwierig wurde es erst, als wir nachweisen wollten, dass wir auch wirklich geimpft worden waren.

Nachdem wir am 20. Juli in Glasgow unsere zweite Dosis bekommen hatten, versuchten wir fünf Monate lang, vom schottischen Gesundheits­dienst einen Impf­nachweis zu erhalten. Wir waren in ein bürokratisches schwarzes Loch gefallen, in ein Labyrinth der Covid-Bürokratie, das die Ausmasse des britischen Rückzugs offenbart.

Um an unsere Impfnachweise zu kommen, sollten wir uns auf der Website des schottischen NHS einloggen. Die dafür notwendigen Log-ins stehen aber nur Menschen zur Verfügung, die auch in Schottland leben. Es war unmöglich, diese zirkuläre Logik zu durchbrechen. Auch per Post konnten wir den Nachweis nicht bekommen, denn der schottische NHS versendet keine Dokumente ausserhalb Schottlands. In der Hoffnung, sie könne etwas für uns tun, kontaktierten wir unsere Londoner Parlaments­abgeordnete. Doch auch sie hatte keinen Zugriff auf die Systeme nördlich der Grenze. Es war letztlich der britische Gesundheits­minister, der das System so änderte, dass seither Impf­nachweise zwischen England und Schottland transferiert werden können.

Ethylen-Cracker-Anlage in Mossmorran unweit von Edinburgh.

Ein solches Durcheinander hätte man vorhersehen können, denn die britische Verfassungs­ordnung befindet sich seit Jahren in einem absurden Zustand. In einem devolution genannten Prozess hatte Tony Blair 1998 einen Grossteil der Macht­befugnisse von Westminster nach Edinburgh verlagert, vom britischen an das schottische Parlament. Dieser konstitutionelle Umbau war so radikal wie umstritten. Gegner warnten, er würde den Zusammen­halt des Vereinigten König­reichs untergraben, weil er im Herzen des Staates ein Ungleich­gewicht entstehen lasse.

Das Hauptproblem ist Folgendes: Neben den Mitgliedern ihres schottischen Parlaments wählen die Schottinnen auch Abgeordnete für das britische Parlament in Westminster, das über die britischen und auch über alle englischen Gesetze entscheidet. Englische Wähler hingegen können die Gesetz­gebung des schottischen Parlaments in Edinburgh nicht beeinflussen, obwohl die Steuer­gelder, über die die schottische Regierung verfügt, von der britischen Regierung erhoben werden.

Für diese strukturelle Schieflage gibt es keine Lösung. Denn würde man neben dem schottischen ein gleich­rangiges englisches Parlament erschaffen, das sich um englische Belange kümmert, dann wäre die wichtigste Person im Staat nicht länger der britische Premier­minister, sondern jene Person, die diese neue englische Versammlung zu ihrer Chefin wählt.

Boris Johnson steht an der Spitze einer Regierung, die grössten­teils englisch und nur gelegentlich britisch ist. Seine Pandemie­politik beispiels­weise ist ausschliesslich auf England ausgerichtet. De facto agiert er in den meisten seiner Amts­handlungen als englischer Premier­minister. Fährt er nach Schottland, dann wird er dort, zumindest in der Psychologie der Schotten, als ausländischer Regierungs­chef empfangen.

So war es nicht gedacht. Die Befürworterinnen der devolution von 1998 hatten stets behauptet, sie würde die Union stärker machen und die schottische Unabhängigkeits­bewegung «mausetot». Schottland würde die Vorzüge der Autonomie und der Union zugleich geniessen. Wie sollte es da jemals auf die Idee kommen, sich formal vom Vereinigten König­reich abzuspalten?

Im «Leoparden» sorgt sich der Fürst um die Zukunft. «Eine böse, namenlose Fee» müsse hinter der italienischen Staats­gründung stehen, denkt er, denn all die Reden über das neue Land waren ein wenig zu emphatisch, um wahr zu sein. «Italien wurde geboren, und man konnte sich nur wünschen, dass es in dieser Form auch leben würde. Jede andere Form wäre etwas Schlechteres.» Er bleibt besorgt: «Etwas im öffentlichen Bewusstsein war gestorben, das spürte er, doch nur Gott konnte wissen, was genau das war.»

Auch in Gross­britannien ist etwas gestorben.

Zweifel am Sinn der Union

Staaten, die vergessen haben, wer sie sind, leben für gewöhnlich nicht mehr lange.

Die Sowjetunion, Jugoslawien, Österreich-Ungarn, das König­reich beider Sizilien. Dass diese Länder zerfielen, hatte gleicher­massen mit den Problemen des dominierenden Landes­teiles zu tun (oder, im Fall Siziliens, mit Ansprüchen von aussen) wie mit den Ansprüchen der Peripherie auf Unabhängigkeit oder grössere Autonomie.

Der Glaube an das Land ist in einem Ausmass verloren gegangen, dass eine Restauration kaum noch vorstellbar scheint. Inzwischen bezweifeln nicht mehr nur walisische, irische und schottische Nationalisten den Sinn der Union. Auch die einstmals unionistische englische Mittel­klasse, deren verbliebener Glaube an Gross­britannien unter dem Brexit gelitten hat, hegt Zweifel. Für manche ist Gross­britannien zu etwas geworden, dessen Erhalt die Mühe nicht wert ist. Etwas Anachronistisches, ja Beschämendes wie das «Butlin’s». Sie würden es vorziehen, in einem weniger mächtigen, aber in sich ruhenden europäischen Land zu wohnen. In einem grösseren Holland, nicht in einer «kleinen USA». Für diesen Wunsch gibt es gute Gründe. Die Niederlande sind schon lange keine Weltmacht mehr. Ein reiches und stabiles Land sind sie sehr wohl.

Wer in jüngerer Zeit die Irische Republik besucht hat (wir taten es am Ende unserer Reise), der muss zugeben, dass sie den britischen Unionismus vor einige unangenehme Heraus­forderungen stellt. Und zwar nicht nur wegen des irischen Wohlstands und der irischen Stabilität. Das Land hat einfach eine klare Vorstellung davon, was es sein möchte. Seine nationalen Mythen und Erzählungen mögen nicht weniger zweifelhaft sein als die anderer Länder. Aber die Irinnen glauben an sie, und der Staat befördert diesen Glauben durch Symbole und Zeremonien. Eigentlich ist Irland ein zutiefst konservativer Staat, der sich auf eine Weise für den nationalen Zusammen­halt einsetzt, wie Gross­britannien es nicht tut. Für die Iren bringt das eigene Heraus­forderungen mit sich, etwa wenn sie Nord­irland mit Millionen von protestantischen Britinnen eingemeinden wollen. Diese Briten glauben nicht an die irische National­erzählung.

Eine Erinnerung an grosse Zeiten: St. Paul’s Cathedral, London.

Wenn Grossbritannien wirklich überleben will, muss es an etwas Britisches glauben und sich so verhalten, als gäbe es dieses Britische tatsächlich. Die österreichisch-ungarische Monarchie sei «keineswegs an dem hohlen Pathos der Revolutionäre» gestorben, schreibt Joseph Roth in seiner Novelle «Die Büste des Kaisers», «sondern an der ironischen Ungläubigkeit derer, die ihre gläubigen Stützen hätten sein sollen». Nicht ausgeschlossen, dass wir über Grossbritannien einmal dasselbe sagen werden.

Das ist auch der Grund, weshalb der Brexit die Union zugleich weiter spaltet und zusammen­hält. In ihm hat sich etwas Nationales, das heisst Britisches manifestiert. Aber mehrheitlich geschah dies durch die Engländerinnen.

Darin liegt das grund­legende Paradox. Der Brexit ist eine Revolution, die den Zerfall der Nation beschleunigen könnte, indem er ihre Englishness offenlegt. Zugleich bringt er aber die Möglichkeit mit sich, einen gemeinsamen Sinn von Britishness wieder­herzustellen. Denn er definiert ein gemeinsames Anderes: Europa.

Als Nicht-EU-Land erfährt sich Gross­britannien natürlich auf andere Weise als ein Kollektiv. Seine Wirtschaft funktioniert anders als die der EU. Die Handels- und Zoll­bestimmungen, Industrie­standards und Produkte sind verschieden. Es gibt ein eigenständiges britisches Migrations­regime, ein eigenes Grenz­regime und ein eigenes Staats­bürgerschafts­recht. Sei es im Guten oder im Schlechten, durch den Brexit wird sich Gross­britannien stärker von allen anderen europäischen Ländern unterscheiden.

Deswegen hat der Brexit die schottische Unabhängigkeit kurzfristig wahrscheinlicher, langfristig jedoch unwahrscheinlicher gemacht. Denn eine solche Unabhängigkeit würde eine harte Grenze auf der britischen Insel bedeuten. Wäre das Vereinigte Königreich weiter in der EU, so gäbe es keinen Grund für eine solche Grenze.

All das bedeutet nicht, dass die EU-Mitgliedschaft eine Gefahr für die britische Einheit dargestellt hätte. Mit Ausnahme Spaniens ist kein europäisches Land von der Spaltung bedroht. Klar ist auch, dass Nord­irland die Folgen des Brexit nicht auf dieselbe Weise wie der Rest des Vereinigten König­reichs spürt. Um eine harte Grenze zu Irland zu verhindern, muss Nord­irland auf Dauer andere Regeln akzeptieren als das britische Festland.

Solange es in Schottland kein nennens­wertes britisches Regierungs­handeln gibt, werden alle Versuche, einen britischen National­sinn wieder­aufleben zu lassen, marginal bleiben. Die Zeit wird zeigen, ob der Brexit dem Vereinigten Königreich den Todes­stoss versetzt oder ob er seine lange, schmerzhafte Restauration einleitet. Wie die Sache auch ausgeht, meine Reise hat mich gelehrt, dass der Brexit ein Wende­punkt war. Es wird darauf ankommen, ob die Menschen in Schottland anfangen, sich zugleich als Briten zu begreifen und die britische Regierung und den britischen Staat zugleich als die ihrigen anzusehen.

Am Ende des «Leoparden» liegt Don Fabrizio im Sterben. Der Fürst erkennt, dass sein jugendlicher Gleichmut gegenüber dem Schicksal des Landes und seiner eigenen Klasse ein Irrtum war. Er irrte sich, als er glaubte, nichts würde sich ändern. «Die Bedeutung einer Adels­familie liegt in ihren Traditionen, das heisst in ihren lebendigen Erinnerungen», denkt er. Die Revolution hat die aristokratischen Privilegien, ja den ganzen Lebensstil seiner Familie zerstört. Nach und nach wurde sein Name, wurden sein Adelstitel zu nichts als «leerem Pomp». «Die Salinas werden immer die Salinas sein, hatte er gesagt. Er hatte sich geirrt. Er selbst war der letzte Salina.»

Das Vereinigte Königreich Grossbritannien und Nord­irland ist ein ungewöhnliches Land. Seine lebendigen Erinnerungen liegen im Sterben. Will es überleben, dann muss es mehr sein als leerer Pomp.