Aus dem Bekannten und Erlernten das Unverwechselbare schaffen: Nicole Eisenman, «Night Studio», 2009. Ingo Bustorf/Courtesy of the artist/Collection Joshua Gessel & Yoel Kremin Marina Herzliya

Darüber ist nur noch der Sternenhimmel

Das Aargauer Kunsthaus zeigt Nicole Eisenman. Es geht bei der Malerin um lesbischen Sex, queere Identität – und vor allem auch um einen neuen Blick auf den künstlerischen Kanon.

Von Jörg Heiser, 28.01.2022

Wenn es ein Schlüsselbild im Werk der amerikanischen Malerin Nicole Eisenman gibt, dann ist es vielleicht dieses: Zwei liegen aneinander­geschmiegt auf dem Bett im Licht der Stehlampe; eine ist nackt bis auf die Melone auf dem Kopf, eine üppige rosa Brust wie im Cartoon mit knallig klarem Strich umrissen, die Brustwarze ein grosser roter Punkt; die andere nackt bis auf eine weisse Schieber­mütze und ein graues Muscle-Shirt, wie eine Rüstung über der goldgelben Haut, die Augen zu, der Mund halb offen im Schlaf.

«Night Studio» heisst das Bild, und entstanden ist es 2009. Der Körper der Melonen­trägerin ist wie mit Craquelage überzogen, dem Muster der Risse eines alten Ölbilds; und das Bett, auf dem sie liegen, ist mit einem detailreich ausgeführten gelben Patchwork­muster bedeckt. Darüber prangt ein üppiger Sternen­himmel wie aus der Gross­aufnahme ferner Galaxien. Links und rechts des Betts sind Kunstbände gestapelt, wir lesen die Buchrücken. Links oben: Japonisme, Goya, Henri Rousseau, Matisse, Emil Nolde, ein Band der englischen Malerin Nicola Tyson. Rechts unten: Munch, Hans Bellmer, Édouard Vuillard, ein Sotheby’s-Auktionskatalog, Bruegel, Picasso, Ernst Ludwig Kirchner, byzantinische Kunst, Max Ernst, Peter Doig.

Wie Nicola Tyson ist auch der Schotte Doig ein paar Jahre älter als Eisenman, bewegt sich auf ähnlichem Terrain, wobei Doig am Markt teurer ist, also weit oben gleich hinter den Altvorderen Gerhard Richter und Georg Baselitz, wenn man so schnöde von zeitgenössischer figürlicher Malerei als einem Ranking reden will. Aber man muss wohl, wenn man sieht, dass die figürliche Malerei immer noch die Auktionen dominiert und immer noch von einer Handvoll Männer dominiert bleibt.

Aber warum Schlüsselbild? Eisenman hat die britischen Kolleginnen Doig und Tyson neben berühmten alten Meistern und Modernen platziert, weil sie die Zeitgenossen ebenso schätzt und aufmerksam studiert, ihre Techniken und Motive beobachtet. «Ich bin wie ein menschlicher Kaffeefilter», sagt Eisenman, «ich vertraue einfach dem Prozess, der es den Eindrücken erlaubt, zu einer Mischung zu werden aus dem sehr Persönlichen und etwas Grösserem.» Und das führt sie in diesem Bild mustergültig auf und vor.

Sie tut das, was im Grunde Maler aller Epochen gemacht haben, nur dass es hier auf entwaffnende Art explizit gemacht ist: die Alltäglichkeit der Lektüre der Kunstgeschichte am Bettrand, verbunden mit der Intimität von Liebes­beziehung. Das Bett unterm Sternen­firmament. Übersetzt heisst dies, dass Eisenman keine Angst vor Einfluss und Berührung hat.

Die Bettdecke lässt mit ihrer betonten dekorativen Zweidimensionalität an Matisse denken, dem der kunstgeschichtliche Standard-Topos des liegenden Akts immer ein willkommener Anlass für solche Kompositionen war. Und die bündig am unteren Bildrand abgestellte Flasche Pilsner Urquell und die Camel-Zigaretten­packung wirken wie das hyperrealistisch ins Bild hineingemalte Signatur-Zettelchen in einem Renaissance-Gemälde. Ja, es gibt keine Schöpfung aus dem Nichts, aber die seltene Fähigkeit, unversehens aus dem Bekannten und Erlernten das Unverwechselbare zu schaffen.

Eisenman schreibt sich selbstbewusst in die Kunstgeschichte hinein und zugleich aus ihr heraus, im Sinne ihrer Erweiterung. Es ist ein Prozess, der sich über die Jahrzehnte fortentwickelt und präzisiert hat.

Zur Ausstellung

«Köpfe, Küsse, Kämpfe. Nicole Eisenman und die Modernen». Aargauer Kunsthaus. Vom 29. Januar bis 24. April 2022. Details finden Sie hier.

Geboren wurde sie 1965 im französischen Verdun, wo ihr Vater als Psychologe der US-Armee stationiert war. Die Urgrossmutter war die polnisch-jüdische Malerin Esther Hamerman, deren Familie vor den Nazis nach Trinidad geflohen war. In den 1980ern studierte Eisenman Malerei an der renommierten amerikanischen Rhode Island School of Design, heute lebt sie in Brooklyn. In den frühen 1990ern bekam sie zuerst Beachtung vor allem für ein zeichnerisches Werk, das mit Humor und genauem Strich eine Cartoon-Welt selbstbewusst lesbischen, queeren Lebens und Liebens entwarf.

Nicole Eisenman: «Support System for Woman IV», 1998. Courtesy of the artist and Tilton Gallery, NewYork
Nicole Eisenman: «Northern California Potter Woman», 2015. Ingo Bustorf/Courtesy of the artist and Vielmetter Gallery, LA

Eine Tuschezeichnung von 1993 mit dem Titel «Got Me a Big Girl» zeigt die Stossrichtung dieses Humors: Eine wie von Picasso hinplatzierte Gruppe posierender nackter Frauen wird unterbrochen durch ein kleines Mädchen mit Schleifchen im Haar, das sich eine grosse Liegende packt und sich anschickt, sie wegzuschleifen, ihr Bein wie eine Jagdbeute geschultert.

Wie so oft bei Eisenman ist der Witz als Bild multidimensional: Er macht sich lustig über das Traditionsbild weiblicher Anmut als Fetisch und Objekt im Auge männlicher Künstler, wirft zugleich aber auch einen von grosser Selbstironie zeugenden Blick auf die Dynamik lesbischen Begehrens. Eisenmans Kunst der folgenden drei Jahrzehnte ist von der kontinuierlichen Erweiterung ihres Repertoires geprägt, inklusive des Ausgreifens auf grosse Skulpturen­gruppen wie etwa ihr Brunnen zu den Skulptur-Projekten Münster 2017. Er avancierte mit seinen drolligen, geschlechts­neutralen Figuren zum Publikums­liebling, wurde mehrfach aber auch beschädigt und mit Haken­kreuzen besprüht.

Im Zentrum steht jedoch nach wie vor die Malerei, weshalb Eisenmans Werk eine Steilvorlage für das Ausstellungs­projekt ist, das am 29. Januar im Aargauer Kunsthaus eröffnet wurde: eine Überblicks­schau ihres Œuvres, ergänzt und in Dialog gesetzt mit modernistischen Gemälden von anderen Künstlerinnen aus den Sammlungen dreier Museen. Aarau, die zweite von vier Stationen nach dem deutschen Bielefeld und vor Den Haag und Arles, ist Heimstatt der grössten öffentlichen Kollektion Schweizer Kunst seit dem 18. Jahrhundert. Die Sammlung der Kunsthalle Bielefeld birgt herausragende Einzelwerke von Edvard Munch bis Max Beckmann. Und das Kunstmuseum Den Haag in den Niederlanden steuert unter anderem ein Mohnblumen­feld von van Gogh und einen schönen Picasso bei – das Kopfporträt «Sibylle» von 1921. Hinzu kommt die Fondation Vincent van Gogh im französischen Arles (die keine eigene Sammlung besitzt).

Der intensive Austausch lohnt sich

Diese Art der Zusammenarbeit ist in gewisser Weise neu. Zunächst einmal findet sie abseits der ausgetretenen Pfade der ganz grossen Museen der Metropolen statt – an Orten, wo auch ungeahnte Schätze auf ihre Entdeckung warten können. So waren in Bielefeld – und sind es nun wieder in Aarau – brillante Bilder des Aargauer Malers Wilhelm Schmid und des Luzerner Surrealisten Max von Moos zu sehen.

Schmids «Luna» von 1920 erscheint wie die perfekte Synthese aus dem naiven Stil Rousseaus und der Grossstadt­groteske eines George Grosz: eine herausfordernd dastehende Variété-Nackte mit Schieber­mütze auf kurzem Bubikopf, neben ihr ein Schoss­hündchen. Und bei «Sünde (Schlangenzauber)», 1930 von Max von Moos gemalt, ist es ähnlich verblüffend und vielschichtig: eine aus geometrischen Elementen komponierte Stehende – ihr Kopf ein Ei, die Brüste geometrisch gezirkelt wie Untertassen in der Andeutung eines modernistischen Etui-Kleides steckend – betrachtet eine kleine Schlange in ihrer Hand, die wie ein zum Leben erwachtes Monokel neben ihrem Auge schwebt. Das biblische Motiv des Sündenfalls verschränkt sich unmittelbar mit der Öffnung der Augen als Sinnbild von Neugier und Erkenntnis.

Perfekte Synthese von Rousseau und Grosz: Wilhelm Schmid, «Luna», 1920. Aargauer Kunsthaus Aarau

Beide Bilder treten über das 20. Jahrhundert hinweg mit Eisenmans Werken in einen Dialog: Auch ihnen geht es um das Groteske, die geometrische Reduktion, das Hervortreten so selbstbewusster wie schamloser Frauen­figuren, die mit trockenem Witz geführte Auseinandersetzung mit dem vorgeprägten Gemeinplatz des weiblichen Akts.

Überhaupt setzt sich die Schau von den weniger glücklichen Beispielen musealer Konfrontationen zwischen Klassikern und Zeitgenossinnen ab, bei denen es vor allem darum geht, das vermeintlich Alte aufzupeppen und zugleich die Jungen im Glanz der Kunst­geschichte zu baden. Das führt meist zu Zusammen­stellungen wie etwa zuletzt in der Hamburger Kunsthalle, wo – für sich durchaus sehenswerte – Alltags­fotografien des Star­schauspielers Lars Eidinger nebst Schrift­bildern des Hamburger Künstlers Stefan Marx mit niederländischer Genremalerei des Goldenen Zeitalters in «Wechselwirkung» gebracht worden sind: eine völlig willkürliche und vordergründige Konstellation.

Bei Eisenman ist jedoch das Gegenteil der Fall: Erstens weil ihr Werk nicht bloss belanglose Pseudoaffinitäten zu früheren Epochen aufweist, sondern von intensiver Auseinandersetzung zeugt. Vor allem aber, weil die beteiligten Ausstellungs­macherinnen Christina Végh (Bielefeld), Bice Curiger (Arles), Katharina Ammann (Aarau) und Daniel Koep (Den Haag) im kontinuierlichen Dialog mit der Künstlerin standen bei der Auswahl der gezeigten Werke. Das muss intensiv gewesen sein: Denn Eisenman hat – so berichtet Christina Végh – nicht nur Ja oder Nein gesagt zu Vorschlägen aus der Kuratoren­runde, sondern in Reaktion auf Vorschläge selber andere eigene Bilder ins Spiel gebracht, was wiederum bei den Ausstellungs­machern neue Vorschläge provozierte. Ein echter Austausch.

Auch die Zeichnungen aus den 1990ern profitieren von dem Ausstellungs­konzept. Eine heisst «Untitled (Lesbian Recruiting Booth)»: Auf der Strasse ist ein Stand aufgebaut, ein Banner für die Anwerbung von Frauen zu lesbischem Sex («You’ll like it»), davor eine Frau mit Megafon. Das Ganze wirkt, als gehe es um einen Strassen­stand der Heilsarmee, würden sich nicht direkt daneben glückliche Probandinnen im Liebesspiel befinden.

Der belgische Künstler James Ensor (1860-1949) stellt zwar keinen Bezug zu gleich­geschlechtlichem Sex auf der Strasse her – aber auch er schuf Strassen­szenen zwischen Sozial­realismus und Witz-Cartoon, auf denen beispielsweise ein Karnevals­umzug von 1893 plötzlich wie der Aufmarsch einer Dämonen­armee erscheint. Platte Parallelen werden vermieden, die in Beziehung gesetzten Werke von Eisenman und den anderen Künstlerinnen hängen nicht einmal unbedingt direkt nebeneinander. Wie ein guter Film unterschätzt die Ausstellung nicht die Kombinations­fähigkeit der Betrachtenden.

Man sieht nicht nur Eisenmans Arbeiten mit anderen Augen, sondern auch die der Klassiker. Max Beckmanns «Italienische Fantasie» von 1925 wirkt durch die Eisenman-Einfärbung noch drollig-grotesker, als es das Bild aus der Bielefelder Sammlung ohnehin schon ist: ein schmal-vertikaler Blick auf eine Segelboot-Gruppe vor Hafen und Campanile. Man weiss nicht so recht, ob die Frau und die drei dicht gedrängten Männer streiten oder singen oder beides.

Singen sie, streiten sie – oder tun sie beides? Max Beckmanns «Italienische Fantasie», 1925. Kunsthalle Bielefeld

Es geht munter hin und her mit den Aufladungen: Ein Eisenman-Gemälde von 2004 zeigt zwei Herren in grauen Pullovern und mit ungesunder Gesichtsfarbe, die mit ihren Händen kundig in einem grossen braunen Haufen rühren. Die Szene dürfte als Parodie auf die bedeutungs­schwangeren Leinwände des deutschen Malers und Eisenman-Zeitgenossen Neo Rauch gelesen werden müssen.

Die Hetero-Herren bleiben nicht ungeschoren

Überhaupt beschreibt ihr Werk immer wieder einen Spannungsbogen von zugespitzt grotesken oder drolligen Szenen zu Bruegel- oder Hieronymus-Bosch-haften Allegorie-Landschaften, die allerdings nicht von Dorf­bewohnern oder Höllen­gestalten bevölkert sind, sondern von Frauen, die nackt im Bergwerk der Ölfarben arbeiten und im Fluss fischen («Mining I», 2005) oder nachts Gräber aufbuddeln, um nach Goldzähnen zu suchen («Untitled (Gold Diggers)», 2002).

Eine eindeutige Lesart wird nicht angeboten, aber es sind wohl Sinnbilder dafür, wie Eisenman sich in queeren Lebens­zusammenhängen verortet und zugleich fragt, welche sozialen Dynamiken auch dort greifen, zwischen utopischem Traum und realen Machtkämpfen.

Allerdings kommen die dezidierten Hetero-Herren ebenfalls nicht ungeschoren davon: «Guy Capitalist» heisst ein Grossformat von 2011. Wie ein versteinerter Osterinselkopf wirkt der Kapitalisten­kerl, um den kleine Papier­ausschnitte realer Fetisch­masken horizontal kreisen wie Asteroiden um einen Planeten. Statt Pupillen hat er Dollarmünzen, so, als würde er schon vor dem Tod die Bestechung für die Fährfahrt über den Styx bereithalten. Man kann gar nicht anders, als darin ein hellseherisches Porträt von Mark Zuckerberg und Konsorten zu erblicken.

Nicole Eisenman: «Mining I», 2005. Ingo Bustorf/Courtesy of the artist und Galerie Hauser & Wirth
Nicole Eisenman: «Guy Capitalist», 2011.Courtesy of the artist und Hauser & Wirth/Collection Noel Kirnon & Michael Paley

Bei Eisenman nimmt das Intime und Persönliche fortwährend gesellschaftliche Relevanz an – und umgekehrt. Damit markiert sie ganz nebenbei, einfach durch Kunst­machen, wie sich ein polarisiertes Grundthema der Gegenwart für sie darstellt: Sogenannte Identitäts­politik – etwa im Sinne des Eintretens für die Rechte von Menschen, die sich als non-binär und queer verstehen – erscheint nicht mehr bloss als das Vertreten von Partikular­interessen, sondern fordert das universalistische Konzept von Menschsein selbst heraus und gibt ihm zugleich eine neue Grundlage.

Oder anders gesagt: Der Widerspruch zwischen partikular (lesbisch, queer usw.) und universal (Menschen insgesamt und überhaupt) ist ein nur scheinbarer. Denn: Das sogenannte Partikular­interesse ist ja letztlich auf das Universale gerichtet, nämlich auf das grundsätzliche Recht der Gleichbehandlung.

Deshalb ist es auch so wichtig, dass sie die traditionellen Topoi der Kunstgeschichte – den Akt, die Landschaft, das Genrebild, das Porträt usw. – aufnimmt, inklusive kunst­historischer Färbungen und Anspielungen, und diese zugleich neu kodiert. Schliesslich hat man bis in die jüngste Vergangenheit unter humanistischer (Schul-)Bildung verstanden, dass man sich bei Kunst im Grunde auf ein paar dutzend Namen der «Meister» und ihrer Werke konzentriert – hoppla, alles Männer.

Heute ist es längst wieder so weit, dass Malerinnen wie Paula Modersohn-Becker (vertreten mit einem schönen Selbstporträt von 1902) prominent gezeigt werden, was offenlegt, wie ignorant und gewissenlos man sie in der Vergangenheit in die zweite Reihe verbannte, wenn nicht gleich ganz in die Depots. Hier wird nicht mit identitäts­politischer Agenda «gecancelt», sondern im Gegenteil re-etabliert und neu befragt. Und gerade Kunst­sammlungen wie jene in Bielefeld oder Aarau bieten sich dafür mustergültig an.

Die grossen Namen werden ein Stück weit relativiert, sie werden ambivalenter, teils auch abgründiger, weil das patriarchale oder koloniale Erbe nicht mehr als einfach natürlich und gegeben erscheint. Die «Meister» und der Kunstkanon insgesamt werden dadurch aber zugleich facetten­reicher, weil man nicht mehr nur von ein paar abgesegneten Namen und deren Werken spricht, sondern fortwährend den Horizont erweitert. Es ist kein Verlust, sondern ein Gewinn. Für das Publikum, für Nicole Eisenman.

Links und rechts die Kunst­kataloge, dazwischen das Bett mit den Liebenden und darüber nur noch der endlose Sternenhimmel.

Zum Autor

Jörg Heiser ist Direktor des Instituts für Kunst im Kontext der Universität der Künste in Berlin. Er war knapp zwanzig Jahre Redaktor der britischen Kunstzeitschrift «Frieze».