Schlotet, freie Schweizer, schlotet!
Die Schweiz ist ein Zigarettenparadies. Warum die Tabakindustrie so wenig reguliert wird – und wie sie davon profitiert.
Eine Recherche von Lukas Häuptli, 21.01.2022
Nein, Damien Cottier raucht nicht. In der Jugend, sagt der 46-Jährige, habe er die eine oder andere Zigarette probiert. Heute geniesse er ab und zu eine Zigarre, ein- bis zweimal im Jahr, mehr nicht. Denn im Grundsatz, betont er, sei er Nichtraucher.
An diesem Donnerstag Anfang Januar sitzt der FDP-Nationalrat im Medienzentrum des Bundeshauses. Anzug, Hemd, Krawatte – makellos. An der Wand hinter ihm prangen die Slogans, mit denen er und sein Komitee gegen die Kinder-ohne-Tabak-Initiative kämpfen. Diese kommt am 13. Februar zur Abstimmung und will die Tabakwerbung verbieten, die Kinder und Jugendliche erreicht. Vor Cottier stehen Rednerpult und Mikrofon, und durch dieses sagt er zu einer Handvoll Journalistinnen: «Die Initiative ist Ausdruck einer paternalistischen Sicht auf die Gesellschaft.»
Die Schweiz ist für die internationale Tabak- und Zigarettenindustrie ein Paradies. Hier herrscht Freiheit. Und es gibt wenig Einschränkungen, mit Sicherheit weniger als in den meisten anderen Ländern: bei der Herstellung von Tabakprodukten, beim Verkauf, bei der Werbung.
Denn das Paradies ist eine Insel.
Zwar hat die Schweiz die Tabakkonvention der Weltgesundheitsorganisation (WHO) 2004 unterzeichnet, bis jetzt aber nicht ratifiziert. Heute gilt das Abkommen, das griffige Regeln zur Kontrolle von Tabakwaren vorschreibt, in 179 Staaten. Nicht aber zum Beispiel in den USA, in Marokko und der Schweiz.
Und so herrscht hier eine Tabakgesetzgebung, die mit derjenigen der EU nicht kompatibel ist. Sie ist schlicht zu löchrig.
Deshalb belegt die Schweiz in der Tobacco Control Scale, mit der Gesundheitsorganisationen die Tabakregulierungsdichte in Europa messen, Rang 35. Von 36.
Wenn man verstehen will, wie die Schweiz zum Tabakparadies geworden ist, muss man Damien Cottier verstehen. Aber auch Politiker wie Laurent Favre aus dem Kanton Neuenburg, Gregor Rutz aus dem Kanton Zürich oder Philippe Nantermod aus dem Kanton Wallis. Und Jean-Paul Gschwind aus dem Jura, Thomas Rechsteiner aus dem Appenzell oder Ida Glanzmann aus dem Luzernischen – allesamt Nationalrätinnen und Ständeräte aus der SVP, der FDP und der Mitte.
Sie sind Teil eines Netzes, das die Tabakindustrie während Jahren über die Schweiz gesponnen hat. Dieses reicht von der Industrie zum Parlament, zu zahlreichen Kantonen, zu wichtigen Verbänden sowie zu sehr vielen Arbeitsgemeinschaften, Interessengruppen und Lobbyistinnen.
«Fast alles für Philip Morris»
Damien Cottier also. Er steht zumindest auf den ersten Blick nicht im Verdacht, ein Politiker im Dienst der Zigarettenindustrie zu sein. Studierter Historiker, ehemals Generalsekretär der Neuenburger FDP, ehemals persönlicher Mitarbeiter von Bundesrat Didier Burkhalter. Seit 2019 sitzt er im Nationalrat, aus seinen Vorstössen lassen sich wenig Hinweise auf Interessen- und Klientelpolitik herauslesen. Es geht um Corona-Massnahmen, EU, internationale Beziehungen.
Doch Cottier ist nicht nur FDP-Nationalrat, er ist auch FDP-Nationalrat aus dem Kanton Neuenburg.
Hier hat Philip Morris, einer der grössten Tabakkonzerne der Welt, einen wichtigen Firmensitz, wenn nicht den wichtigsten. In Neuenburg stehen Produktionsstätten sowie das Forschungs- und Entwicklungszentrum des Konzerns, der hier mehr als 1500 Personen beschäftigt und unter anderem die Zigarettenmarken Marlboro und Chesterfield sowie den Tabakerhitzer Iqos herstellt.
Vor allem aber ist der Konzern einer der wichtigsten Steuerzahler von Stadt und Kanton Neuenburg: Rund zwei Drittel aller Unternehmenssteuern stammten von ihm, sagt eine gut informierte Quelle.
Aus diesem Grund ist das Verhältnis zwischen Philip Morris, dem Kanton Neuenburg und dessen wirtschaftsnahen Politikern seit Jahrzehnten eng.
Zum Beispiel: Die Zigarettenindustrie zahlte noch in den Achtziger- und Neunzigerjahren Parteispenden an die Liberalen und die Radikalen (die beiden Vorgängerparteien der heutigen FDP), wie die Zeitung «L’Express» schrieb.
Oder: In der Vernehmlassung zum Tabakproduktegesetz des Bundes reichte der Kanton Neuenburg 2018 eine Stellungnahme ein, die den Verlautbarungen von Philip Morris auffallend glich. Sie sei eine «fast wörtliche Kopie» einer Dokumentation des Konzerns, heisst es bei Tabak-Präventions-Organisationen: «Die Worte scheinen von der Website von Philip Morris übernommen worden zu sein.»
«Viele Politiker und Politikerinnen des Kantons Neuenburg machen fast alles für Philip Morris», sagt der grüne Neuenburger Nationalrat Fabien Fivaz. «Sie unterstützen den Konzern systematisch – vor allem dafür, dass er seinen Standort im Kanton behält. Philip Morris ist für Neuenburg schlicht too big to leave.»
«Fast alles für Philip Morris»: Auch aus diesem Grund sitzt der Neuenburger FDP-Nationalrat Damien Cottier im Präsidium des Komitees gegen die Kinder-ohne-Tabak-Initiative. Und auch aus diesem Grund hatte einer seiner Neuenburger Vorgänger 2010 im Parlament einen Vorstoss eingereicht, der für die Schweizer Zigarettenindustrie weitreichende Folgen haben sollte. Positive, versteht sich.
Cottiers Vorgänger, Laurent Favre, forderte in einer Motion, «das Dossier Tabak aus den Verhandlungen mit der EU über ein Abkommen im Bereich öffentliche Gesundheit» auszuschliessen. Favre sass von 2007 bis 2014 für die FDP im Nationalrat, stammt wie Cottier aus dem Kanton Neuenburg und begründete seinen damaligen Vorstoss im Parlament mit der «wirtschaftlichen und regionalpolitischen Bedeutung der Tabakindustrie». 2009, ein Jahr vor dem Vorstoss, hatte Philip Morris in Neuenburg sein 120 Millionen Franken teures Forschungs- und Entwicklungszentrum eröffnet.
2012 überwiesen National- und Ständerat Favres Motion, und deshalb musste die Schweiz die Tabakrichtlinie der Europäischen Union bis heute nicht übernehmen. Die Richtlinie trat 2014 in Kraft und verbot unter anderem die Produktion von starken Tabakwaren. Seither dürfen in der EU keine Zigaretten mehr hergestellt werden, deren Emissionswerte über 10 Milligramm Teer, 1 Milligramm Nikotin und 10 Milligramm Kohlenmonoxid pro Zigarette liegen.
Die stärksten Zigaretten gehen nach Afrika
In der Schweiz dagegen ist die Produktion solcher Zigaretten noch immer erlaubt – für den Export ins Ausland. Und dieser Export ist eine zentrale Ertragssäule der drei grossen Tabakkonzerne in der Schweiz. Japan Tobacco International (JTI) exportiert rund 85 Prozent der Zigaretten, die der Konzern in der Schweiz herstellt. Bei Philip Morris sind es rund 80 Prozent, bei British American Tobacco (BAT) rund 50 Prozent, wie Firmensprecher sagen.
Insgesamt wurden zwischen Januar und November 2021 rund 17,6 Milliarden Zigaretten im Wert von 340 Millionen Franken aus der Schweiz ausgeführt. Das zeigt eine Zusammenstellung, welche das Bundesamt für Zoll und Grenzsicherheit für die Republik erstellt hat (die Zahlen für den Dezember 2021 liegen noch nicht vor).
Am meisten Zigaretten gingen nach Marokko (4 Milliarden), Südafrika (3,4 Milliarden), Saudiarabien (3,4 Milliarden), Japan (2,4 Milliarden), Tunesien (1,2 Milliarden) und Palästina (0,7 Milliarden). «Der gesamte Export der Branche ist wertmässig vergleichbar mit der Ausfuhr von Käse», sagt Andrea Hausmann, Sprecherin von Japan Tobacco International.
Die Zahlen zeigen: Die Tabakkonzerne exportieren massenweise starke und stark gesundheitsschädigende Zigaretten aus der Schweiz nach Afrika, in den arabischen Raum und nach Asien – mit schwerwiegenden Folgen. Es liegt nahe, dass in diesen Ländern massiv mehr Menschen an den Folgen des Rauchens sterben als in der Schweiz – und auch hier sind es jedes Jahr fast 10’000.
Der ehemalige Nationalrat Laurent Favre ist heute übrigens Regierungsrat des Kantons Neuenburg. Er sagt, ihm sei es bei seinem damaligen Vorstoss um die «Tausende Arbeitsplätze in der Tabakwirtschaft und um die damit verbundenen Steuereinnahmen» gegangen. Und nein, die Zigarettenindustrie habe ihn nicht zu seiner Motion veranlasst. «Ich habe den Antrag aus eigenem Antrieb verfasst und eingereicht.»
Auch in anderen Kantonen bestehen enge Verbindungen zwischen Industrie und Politik. Im Kanton Waadt etwa haben sowohl Philip Morris als auch British American Tobacco einen Firmensitz. BAT produziert im jurassischen Dorf Boncourt Zigaretten, Japan Tobacco International im luzernischen Dagmersellen. Neben Philip Morris gehören auch die beiden anderen Konzerne zu den grössten Tabakproduzenten der Welt. Es ist kaum Zufall, dass Nationalrätinnen aus praktisch all diesen Standortkantonen im Präsidium des Komitees gegen die Initiative sitzen, über die nun abgestimmt wird. Neben Damien Cottier (Neuenburg) sind das unter anderen Jean-Pierre Grin (Waadt), Jean-Paul Gschwind (Jura) und Ida Glanzmann (Luzern).
In einer halben Stunde zum Raucher
Der Iqos-Store in Zürich befindet sich am Weinplatz, mitten in der Innenstadt. Grosse Fenster, weisse Wände, Möbel aus hellem Holz. «Haben Sie eine halbe Stunde?», fragt die Mitarbeiterin. Dann führt sie durch den Laden, erklärt, wie der Tabakerhitzer namens «Iluma» funktioniert, zeigt Zubehör. Charger, holder, heets. Danach gehts ab ins Fumoir, wo man Probe raucht. «Sie sind», erklärt die Mitarbeiterin, «weniger der intuitive Typ.» Deshalb raucht der Typ jetzt «Teak»-Tabak.
Philip Morris will mit Zigarettenersatzprodukten wie «Iluma» neue Märkte erschliessen – oder alte nicht verlieren. In der Schweiz, aber auch in anderen westlichen Ländern, wird weniger geraucht als auch schon. Von 2000 bis 2010 sank der Anteil der erwachsenen Raucher an der Gesamtbevölkerung; seither bewegt er sich zwischen 20 und 30 Prozent. Den Rückgang beim Absatz von Zigaretten sollen Ersatzprodukte wettmachen: Tabakerhitzer, E-Zigaretten, tanks, pods, bars. Das Angebot ist gross und unübersichtlich. Und spricht auch Jugendliche an.
Die Schweiz ist auch für Tabakersatzprodukte ein guter Markt: Regulierungsparadies. Wenig Einschränkungen. Mit Sicherheit weniger Einschränkungen als in den meisten anderen Ländern.
Damit das so bleibt, setzt die Tabakwirtschaft im Kern auf folgende Strategie: Sie macht ihr Problem zum Problem der ganzen Wirtschaft. Sie macht es zum Grundsatzproblem. Was ihr blühe, das blühe früher oder später allen. Erst der Tabak, dann der Alkohol, der Zucker, das Fett, das Fleisch. Vorschriften bei der Herstellung, im Verkauf und bei der Werbung.
Deshalb gehe es, sagt die Tabakwirtschaft immer, ums Prinzip: Staatliche Verbote schränken die Werbefreiheit ein, die Wirtschaftsfreiheit, die Freiheit überhaupt.
Zur Umsetzung dieser Strategie kann sich die Zigarettenindustrie auf ihr weit verzweigtes Netz von Verbündeten stützen. Einer der wichtigsten davon ist der Schweizerische Gewerbeverband. Er vertritt mehr als 200 Kantons- und Unterverbände sowie rund 500’000 kleinere und mittlere Unternehmen.
Wie eng dieses Bündnis im Kampf gegen schärfere Tabakbestimmungen ist, zeigte sich bereits in den Achtziger- und Neunzigerjahren des letzten Jahrhunderts.
1988 wurde die Initiative «zur Verminderung der Tabakprobleme» lanciert, die unter anderem ein vollständiges Tabakwerbeverbot verlangte. Die Leitung der Kampagne gegen das Begehren lag beim Schweizerischen Gewerbeverband.
Offiziell. Denn vertrauliche Papiere, die der Republik vorliegen, zeigen: Die Kampagne gegen die damalige Initiative wurde von den Schweizer Zigarettenkonzernen orchestriert, namentlich von Philip Morris und R. J. Reynolds Tobacco (die 1999 in der Japan Tobacco International aufging).
In den Papieren von R. J. Reynolds Tobacco heisst es zum Grundsatz der Kampagne: «Gemeinsame Koalition: starke Führung, aber dezentralisierte Umsetzung durch USAM». USAM ist die französische Abkürzung für Schweizerischer Gewerbeverband. Das Gleiche steht sinngemäss in einem Schreiben, das ein Kadermitarbeiter von Philip Morris verfasste.
Aus anderen Stellen der Papiere geht hervor, was R. J. Reynolds Tobacco als Kernelemente der Abstimmungskampagne sah:
«Fokussierung auf das grundsätzliche Thema der Redefreiheit»
«Bildung einer Koalition von Werbebefürwortern, die nichts mit Tabak zu tun haben»
«Zurückhaltung der Hauptrolle der Tabakindustrie im Hintergrund»
«Durchführung einer Toleranzkampagne, um den Ton der öffentlichen Debatte auszubalancieren und die Antis als masslos darzustellen»
«Proaktives Verhalten gegenüber allen politischen Akteuren in allen Phasen des politischen Prozesses, um einen ungünstigen politischen Kompromiss zu verhindern»
Die konzertierte Kampagne erreichte ihr Ziel: Die Stimmberechtigten lehnten die Initiative 1993 mit einem Nein-Stimmen-Anteil von fast 75 Prozent ab.
Seither sind fast dreissig Jahre vergangen. Doch die Strategie der Zigarettenkonzerne hat sich kaum geändert. Das zeigt die Kampagne gegen die Initiative, die am 13. Februar zur Abstimmung kommt: Auch da bilden die Gegnerinnen Allianzen und lassen Politiker auftreten, die scheinbar nichts mit der Zigarettenindustrie zu tun haben. Auch da thematisieren die Gegner das Grundsätzliche und stellen mögliche Verbote als «masslos» dar.
Ein Lobbyist mit grossem Einfluss
Die engen Bande zwischen Zigarettenindustrie und Schweizerischem Gewerbeverband kamen auch bei den parlamentarischen Beratungen des Tabakproduktegesetzes zum Tragen. Deren Geschichte ist lang und ein gutes Beispiel, wie Lobbying in der Schweiz funktioniert.
Der Bund hatte im Mai 2014 einen ersten Vernehmlassungsentwurf zum Gesetz vorgelegt. Dieser enthielt ein Verbot des Tabakverkaufs an Minderjährige, ein weit reichendes Werbeverbot sowie die rechtliche Gleichbehandlung von E-Zigaretten und herkömmlichen Zigaretten.
Doch das Parlament wies die Vorlage 2016 – auch wegen des Lobbyings der Tabakindustrie – zurück. Es folgte ein zweiter Entwurf des Bundesrats und ein beispielloses Hin und Her zwischen National- und Ständerat, das sich über zwei Jahre zog: Die grosse Kammer entschärfte das Gesetz im Sinn der Zigarettenindustrie, die kleine Kammer verschärfte es im Sinn der Gesundheitsorganisationen. So ging das bis zum letzten Frühling.
Der Schweizerische Gewerbeverband seinerseits hatte sich bereits im Juni 2015 gegen das Gesetz und die damit verbundene «Bevormundung der Bürger» ausgesprochen. Unterzeichnet war die Medienmitteilung nicht nur von Verbandsdirektor Hans-Ulrich Bigler, sondern auch von Rudolf Horber, der sowohl Verbandsmitarbeiter als auch Geschäftsführer der Allianz der Wirtschaft für eine massvolle Präventionspolitik war.
Rudolf Horber verkörpert wie kaum jemand die Verflechtung zwischen internationalen Zigarettenkonzernen, Schweizerischem Gewerbeverband und Parlament. Bis zu seiner Pensionierung im Oktober 2015 arbeitete er vierzehn Jahre für den Gewerbeverband. Anschliessend übernahm er ein Mandat von Swiss Cigarette, dem Zusammenschluss der drei grossen Tabakkonzerne Philip Morris, BAT und JTI, das er bis Mitte 2021 behielt. Zudem ist Horber bis heute persönlicher Mitarbeiter des Appenzeller Mitte-Nationalrats Thomas Rechsteiner. Auf diese Weise hat er direkten Zugang zum Parlament.
«Rudolf Horber war in den letzten Jahren einer der einflussreichsten Lobbyisten für die Tabakwirtschaft», sagt eine Person, die seit zwanzig Jahren in der Branche arbeitet.
Das zeigte sich auch in der heissen Phase der Beratungen des Tabakproduktegesetzes im Frühling 2021.
Noch im letzten April hatte sich die vorberatende Gesundheitskommission des Ständerats für ein schärferes Gesetz ausgesprochen – unter anderem mit einem Verbot von aller Tabakwerbung, die Kinder und Jugendliche erreicht. Selbst Vertreterinnen der FDP und der Mitte sprachen sich in der Kommission dafür aus.
In der Sommersession im letzten Juni war dann aber plötzlich alles anders: Im Ständerat stimmte die Mehrheit der SVP-, FDP- und Mitte-Fraktionen gegen den Vorschlag der Kommission (was selten geschieht) und damit für ein Gesetz, das mehrheitlich auf der Linie der Tabakwirtschaft lag; die entsprechenden Anträge hatte die Urner Mitte-Ständerätin Heidi Z’graggen eingebracht. Im letzten Oktober dann wurde das Gesetz in dieser weichen Fassung vom Parlament definitiv verabschiedet. Es verbietet zwar den Verkauf von Tabakwaren an Minderjährige und schränkt die Werbung ein; doch die Einschränkungen sind schwammig gehalten.
Was aber passierte im «heissen» Frühling 2021?
«Die Phase war eine der aufregendsten in meinem Politleben», sagt SP-Ständerat Hans Stöckli. Er ist Mitglied der Gesundheitskommission und einer der Initianten der aktuellen Kinder-ohne-Tabak-Initiative. «Zwischen April und Juni 2021 ist etwas Entscheidendes passiert. Die interessierten Wirtschaftskreise – allen voran die Tabak- und Zigaretten-Lobby – müssen die ständerätliche Mitte erobert haben.»
Ähnlich tönt es beim Lobbyisten Rudolf Horber: «Vor der letzten Sommersession des Ständerats gab es von der einen wie der anderen Seite intensives Lobbying. Auch ich habe da mitgewirkt.» Details will er nicht verraten, aber er ergänzt: «Lobbying bedeutet, dass man mit denjenigen Parlamentsmitgliedern das Gespräch sucht, die für die eigenen Argumente empfänglich sein könnten. Das sind meist Politiker und Politikerinnen im Graubereich zwischen den Polen. Mit anderen Worten: Man muss vor allem die Unentschlossenen und die Mitte ansprechen.»
Natürlich war Horber beim Lobbyieren nicht allein. Das Netz der Zigarettenindustrie im National- und Ständerat ist dicht. Zu ihm zählt auch Renate Hotz, die seit 2007 ein Mandat von British American Tobacco hält und von SVP-Ständerat Hannes Germann eine Zutrittsberechtigung zum Parlament hat. Oder Susanne Brunner, die seit 2019 die Interessen von Philip Morris vertritt (und für die SVP im Zürcher Gemeinderat sitzt). Oder der Zürcher SVP-Nationalrat Gregor Rutz, der Swiss Tobacco, die Vereinigung des Schweizerischen Tabakwarenhandels, präsidiert. Oder Swiss-Cigarette-Geschäftsführer Martin Kuonen, der seine Zutrittsberechtigung fürs Parlament vom Walliser FDP-Nationalrat Philippe Nantermod hat und der Tabakexperte in der Schweizerischen Lauterkeitskommission ist. Diese wiederum wird von Mitte-Nationalrat Philipp Kutter präsidiert, der im Präsidium des Komitees gegen die Kinder-ohne-Tabak-Initiative sitzt.
Das Lobbying erfolgt oft im Rahmen persönlicher Treffen und geselliger Anlässe, die in der Regel von den Auftraggebern der Lobbyisten bezahlt werden.
Fliesst dabei – früher oder später, direkt oder indirekt – auch Geld?
Dazu schweigen alle. Die Antwort lautet wohl: direkt eher nicht. Indirekt eher schon.
Es liegt nahe, dass die Tabakwirtschaft Abstimmungskampagnen finanziell unterstützt – auch jene gegen die Kinder-ohne-Tabak-Initiative. Zumindest Philip Morris bestätigt das. «Über Swiss Cigarette unterstützen wir die Kampagne», sagt Konzernsprecher Julian Pidoux. «Über die Höhe des Budgets geben wir aber keine Auskunft.»
Die Insel bleibt – vielleicht
Weil das Tabakproduktegesetz, welches das Parlament im letzten Herbst verabschiedet hat, nur lückenhafte Bestimmungen zur Tabakwerbung enthält, wird die Schweiz auch in Zukunft die Tabakkonvention der Weltgesundheitsorganisation nicht ratifizieren können. In deren Artikel 13 steht: «Jede Vertragspartei wird (…) ein umfassendes Verbot der Werbung, der Verkaufsförderung und des Sponsorings für Tabakerzeugnisse einführen.» Die Schweiz bleibt deshalb bis auf weiteres die paradiesische Insel der Zigarettenindustrie, die sie seit Jahrzehnten ist.
Ändern könnte sich das, sollte die Initiative «Kinder ohne Tabak» angenommen werden. Gemäss einer SRG-Umfrage sprachen sich in der zweiten Dezemberhälfte 73 Prozent der Stimmberechtigten für das Anliegen aus. Allerdings könnte die Initiative am 13. Februar am fehlenden Ständemehr scheitern.
«Die Auseinandersetzungen um das Tabakproduktegesetz und um die Kinder-ohne-Tabak-Initiative zeigen vor allem eines», sagt Luciano Ruggia, Direktor der Arbeitsgemeinschaft Tabakprävention Schweiz: «Wie gross der Einfluss der Zigarettenkonzerne auf die Politik und die Gesellschaft der Schweiz ist. Und über welche finanziellen Mittel die Konzerne verfügen.»
Damien Cottier, Nichtraucher und FDP-Nationalrat aus dem Kanton Neuenburg, stört sich daran kaum. An diesem Donnerstag Anfang Januar sitzt er im Medienzentrum des Bundeshauses, an der Wand hinter ihm prangen die Slogans, mit denen er und sein Komitee gegen die Initiative kämpfen, die nun zur Abstimmung kommt. «Heute Tabak! Morgen Cervelat? Nein zur extremen Verbots-Initiative», heisst es da.
Cottier sagt zur Handvoll Journalisten: «Ich bekämpfe die Initiative in erster Linie aus grundsätzlichen Überlegungen.» Und: «Sie ist Ausdruck einer Sicht, welche die erwachsenen Konsumentinnen und Konsumenten behandelt, als wären sie kleine Kinder.»