«Der korrigierte Irrtum ist das deutlich kleinere Problem als der Irrtum, der stur fortgesetzt wird»
Der einstige deutsche Juso-Chef Kevin Kühnert hat wesentlich dazu beigetragen, dass Olaf Scholz Kanzler, aber nicht SPD-Chef wird. Heute ist er SPD-Generalsekretär und sagt, wieso es die Trennung von Regierung und Partei braucht und was die SPD in der Koalition gegen Klimakrise und Ungleichheit tun kann.
Ein Interview von Elia Blülle, Daniel Graf (Text) und Hannes Jung (Bilder), 18.01.2022
Herr Kühnert, eigentlich wollten wir mit Ihnen möglichst wenig über Corona sprechen. Aber da Ihre Partei bis März eine allgemeine Impfpflicht einführen will und die Debatte gerade in die heisse Phase geht: Schlafen Sie nun besser oder schlechter?
Es ist nicht der Plan der SPD, eine allgemeine Impfpflicht einzuführen. Das Gegenteil davon ist aber auch nicht der Plan. Wir haben schlicht gesagt, im ersten Quartal 2022 soll der Deutsche Bundestag darüber bestimmen. Bei unseren Abgeordneten werden wir die Abstimmung freigeben. Sie können ohne Fraktionsdisziplin über diese Gewissensfrage entscheiden.
Bundeskanzler Olaf Scholz hat aber noch einmal deutlich gesagt, er sei dafür.
Das ist doch auch erfrischend! Manche müssen sich erst einmal daran gewöhnen, dass der Regierungschef nun eine eigene Meinung hat und diese auch kundtut. Olaf Scholz macht aber keine Vertrauensfrage aus der Impfpflicht. Niemand muss pro Impfpflicht sein, nur um Scholz politisch zu schützen. Und auch ich bin noch unentschieden, wie ich abstimmen werde.
Was lässt Sie zögern?
Die Bedenken beziehen sich auf die Verhältnismässigkeit. Auch ich will die Impfquote erhöhen. Als Politiker muss man sich aber die Frage stellen: Ist das gewählte Mittel der Impfpflicht adäquat? Und es kann nur dann adäquat sein, wenn mildere Mittel zuvor nicht gefruchtet haben. Eine Impfprämie haben wir zum Beispiel noch gar nicht erwogen. Dabei würde der Staat diejenigen Menschen finanziell oder anderweitig belohnen, die sich impfen lassen. Notfalls auch rückwirkend. Solche Instrumente müssen wir bedenken, bevor wir eine rechtlich verordnete Pflicht beschliessen.
Eine allgemeine Impfpflicht wäre in der Schweiz wohl politisch chancenlos. Glauben Sie, die Deutschen tragen die Idee mit?
In den Umfragen spricht sich derzeit eine klare Mehrheit dafür aus. Diese Mehrheit muss aber auch dann noch stehen, wenn konkrete Gesetzesentwürfe auf dem Tisch liegen. Im Moment stellt sich jeder unter einer allgemeinen Impfpflicht etwas anderes vor. Einige denken, mit einer Impfpflicht wäre das Problem schnell gelöst, weil dann ja alle eine Spritze bekommen. Das wird aber nicht der Fall sein, denn eine Zwangsimpfung ist ausgeschlossen. Diskutiert wird nicht eine Zwangsimpfung mit Festhalten und Spritze in den Arm, sondern beispielsweise eine Impfpflicht, so wie es in Belgien eine Wahlpflicht gibt. Deswegen wird dort aber niemandem die Hand am Stimmzettel geführt, sondern wer nicht wählt, riskiert ein Bussgeld. Es werden einige noch feststellen müssen, dass die Pandemie nicht einfach durch diese eine Massnahme zu beenden ist.
Kevin Kühnert, 1989 in Westberlin geboren, sitzt erst seit der Bundestagswahl vom letzten Herbst im deutschen Parlament, gehört aber schon seit Jahren zu den bekanntesten Politikern in Deutschland. 2005 trat er der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) bei. Zwischen November 2017 und Januar 2021 war er Bundesvorsitzender der Juso und profilierte sich als führende Stimme des linken Parteiflügels. Seit Dezember 2019 war er einer der stellvertretenden Bundesvorsitzenden der SPD, bis er am 11. Dezember 2021 zum Generalsekretär gewählt wurde. Kühnert lebt in Berlin-Schöneberg. Zum Republik-Gespräch trafen wir ihn im Berliner Willy-Brandt-Haus, in der Bundeszentrale der SPD.
Seit Dezember sind Sie Generalsekretär der mächtigsten Partei Deutschlands. Ihr Vorgänger Lars Klingbeil darf sich anrechnen lassen, dass er die SPD in seiner Amtszeit aus einem historischen Tief zur Kanzlerschaft geführt hat. Welche Tipps hat er Ihnen mit auf den Weg gegeben?
Gar keine. Und dafür bin ich ihm sehr dankbar.
War das eigentlich ein genialer Schachzug von Bundeskanzler Olaf Scholz, seinen mächtigsten Kritiker mit ins Boot zu holen?
Das Tolle an Olaf Scholz ist ja, dass er sich in solche Parteientscheidungen weder im Vorder- noch im Hintergrund einmischt.
Aber er ist doch hoffentlich einverstanden.
Wenn es ihm arge Bauchschmerzen bereitet hätte, hätte er es sicherlich irgendwen wissen lassen. Aber es ist auch nicht so, dass er da einen geheimen Plan ausgeheckt hat: Jetzt machen wir den Kühnert zum Generalsekretär, und dann kann er nicht mehr so kritisch sein.
Trotzdem: Bei der Wahl für den SPD-Vorsitz 2019 haben Sie mit dazu beigetragen, Olaf Scholz zu verhindern.
Fürs Protokoll werde ich immer sagen, dass ich damals nicht verhindert, sondern zwei andere Vorsitzende unterstützt habe. Es ging nicht um die Person Olaf Scholz. Ich hätte auch bei jedem anderen aus der damaligen Regierung widersprochen, wenn er oder sie den Finger gehoben hätte.
Wieso?
Ich war und bin davon überzeugt, dass die jahrelang aufgetürmten Konflikte in der SPD nur über diese Trennung von Regierung und Partei zu lösen waren. Die Partei musste Partei sein dürfen – besonders dann, wenn sie in einer Regierung ist, die sie nie so richtig wollte. Das hat sich ja als richtiger Instinkt herausgestellt. Und wir sind auch nicht übereinander hergefallen, sondern haben den solidarischsten Wahlkampf geführt, den die SPD seit sehr langer Zeit zu bieten hatte. Die Zeit der Alphatiere, die alle wegbeissen und neben sich keine anderen Führungskräfte zulassen, ist bei uns vorbei. Das ist ein gutes Zeichen.
Sie haben mal gesagt, in einer Partei müsse man nicht knuddeln.
Nein, das muss man auch nicht. Aber es gibt viel Platz zwischen Knuddeln und sich gegenseitig die Keule auf den Kopf schlagen. Genügend Spielraum, in dem wir uns bewegen können.
Eines Ihrer grossen Kernthemen war immer die Bekämpfung der Vermögens- und Einkommensungleichheit. Der neue Koalitionsvertrag sieht aber keine neuen Steuererhöhungen vor. Wie oft hadern Sie mit diesem Kompromiss?
Das ärgert mich. Aber ich kann es nicht ändern. Ich trage diese Regierung mit, weil keine Mehrheit für eine andere Regierung zur Verfügung steht, die uns diesem Ziel nähergebracht hätte. Für das, was wir uns da wünschen, gibt es leider weiterhin keine parlamentarische Mehrheit. Ich respektiere, dass die FDP dazu eine andere Position hat. Aber die FDP muss respektieren, dass die SPD, nur weil wir jetzt in der gemeinsamen Regierung sind, nicht plötzlich findet, dass die Vermögensverhältnisse in Deutschland gerecht sind. Denn das sind sie nicht. Bei diesem Thema braucht es jetzt eine selbstbewusste Partei, die versucht, Hegemonie für dieses Thema zu erreichen.
Wie geht das?
Indem man nicht – wie es vielleicht die Linke tun würde – einfach allerlei Forderungen in alle Himmelsrichtungen posaunt, sondern offensichtliche Ungerechtigkeiten aussucht und darüber spricht. Wir müssen dafür sorgen, dass die bestehenden Instrumente gerechter funktionieren.
Zum Beispiel?
Wir wollen ran an die sogenannten Share-Deals. Damit können Immobiliengesellschaften die Grunderwerbsteuer sparen, indem sie sich selbst Unternehmensanteile überschreiben. Das heisst, während jeder Einfamilienhauskäufer in Deutschland eine Grunderwerbsteuer zahlen muss, stellen wir die grossen Immobiliengesellschaften davon frei. Das ist eine offensichtliche Ungerechtigkeit zugunsten derer, die schon viel haben. Darüber hinaus kann man die Frage stellen, ob man wirklich mit Kurzarbeitergeld Unternehmen unterstützen sollte, die gleichzeitig Millionen an Dividenden ausschütten.
Sie haben mal gesagt, vielleicht tue sich in dieser Legislatur bei der Erbschaftssteuer noch ein Fenster auf.
Politik ist ein sehr unstetes Geschäft. Es wäre vor zwei Jahren noch nicht möglich gewesen, so wie heute über das Gesundheitssystem und seine Rahmenbedingungen zu sprechen. Skandale wie Cum-Ex haben dazu geführt, dass wir über Teilbereiche des Steuerwesens ganz anders sprechen als früher. Wer weiss, welche prominenten Fälle von Umgehungen der Erbschaftssteuer über Sparmodelle oder Stiftungen es in den nächsten Jahren geben wird, die zu grosser Aufregung führen. Manchmal braucht es auch den öffentlichen Aufschrei, der politische Veränderungen erzwingt.
Wie müsste eine neue Erbschaftssteuer aussehen?
Es geht nicht so sehr um die Höhe der Steuern, sondern um die Durchsetzbarkeit und die Berechnungsgrundlage. Wir haben in der Erbschaftssteuer eine extreme Überprivilegierung grosser Betriebsvermögen, weil übertragenes Unternehmensvermögen weitreichend steuerbefreit ist. Niemand will, dass Unternehmen zerschlagen oder gar Beschäftigte entlassen werden, um den Fiskus bedienen zu können. Das kann man alles lösen. Aber die geltenden Regeln nutzen oft sehr reiche Familien zur Umgehung, während Familien mit einem überschaubaren Vermögen nichts zu verschieben haben, sich vor dem Staat nackig machen und ihre Erbschaftssteuer in aller Regel zahlen.
Das müsste auch im Interesse liberaler Kräfte liegen.
In Baden-Württemberg hat die FDP gerade ihr traditionelles Dreikönigstreffen abgehalten. Da hat sogar Parteichef Christian Lindner gesagt, die Herkunft, die familiäre Herkunft eines Kindes solle nicht über den weiteren Lebensweg entscheiden. Und ich glaube, da würden ihm viele Linke vollkommen zustimmen. Ich glaube nur, er hat seine Aussage hauptsächlich auf die Frage bezogen, welcher Name auf dem Klingelschild steht oder welche Hautfarbe jemand hat. Das sind alles wichtige Punkte, aber in diese Aufzählung gehört doch bitte auch rein, dass das Portfolio des Elternhauses nicht darüber entscheiden sollte, welche Lebenswege später möglich sind. Ich habe bei Konservativen und Liberalen nie verstanden, wieso sie den Besitz qua Geburt verteidigen. Tragen ausgerechnet sie doch immer das Mantra der Leistungsgerechtigkeit vor sich her: Leistung muss sich lohnen.
Man müsste meinen, eine verschärfte Erbschaftssteuer sollte locker Mehrheiten finden. Schliesslich tut sie ausser ein paar Superreichen niemandem weh – besonders nicht der Privatwirtschaft.
In Deutschland muss eine Erbschaftssteuer gemeinsam mit den Bundesländern beschlossen werden. Und oft werden solche Vorhaben schon aus Prinzip blockiert, weil gerade die falsche Bundesregierung an der Macht ist und man ihr keinen politischen Erfolg gönnt. Ein wenig ist es wie bei der Impfpflicht: Die Idee sorgt am Anfang für viel Kopfnicken. Aber je konkreter man wird, desto eher werden auch Leute verschreckt und es wird systematisch Angst gemacht. Manche grossen Unternehmen und Firmeninhaber haben sich hervorragend darin eingerichtet, vor drastischen Arbeitsplatzverlusten und vor Abwanderung ins Ausland zu warnen. Gängige Argumentationsmuster, die wir seit mindestens dreissig Jahren kennen, sobald irgendeine Form von Regulierung ins Feld geführt wird. In der Regel ist das billiges Zähneklappern.
Sehr erfolgreiches Zähneklappern.
Absolut. In Zeiten von globalisierten Märkten sind die Sorgen auf den ersten Blick auch nachvollziehbar. Die Leute verstehen, dass die meisten Waren und Dienstleistungen im Globalen angeboten werden und dass dahinter komplizierte Warenketten stecken. Daher ist man auch geneigt zu glauben, dass Unternehmen bei verschärften Regulierungen sagen: Dann gehen wir halt woanders hin.
Wie kann man das als Sozialdemokrat entkräften?
Indem wir uns die Beispiele anschauen, wo genauso geklappert wurde und wir trotzdem erfolgreich waren. Beispielsweise bei der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns in Deutschland gab es grosse Angstszenarien, wie viele Arbeitsplätze und Unternehmen verloren gehen würden. Man hatte kurzzeitig den Eindruck, in Sachsen könne danach keiner mehr die Haare geschnitten bekommen, weil sich dort angeblich kein Friseursalon mehr rechnen würde. Es sehen aber heute noch alle halbwegs frisiert aus in Sachsen. Und wenn ich ein Geschäftsmodell habe, das nicht mehr funktioniert, weil ich meinen Beschäftigten statt 10 Euro künftig 12 Euro auf die Stunde bezahlen muss, dann habe ich ein fragwürdiges Geschäftsmodell. Für eine gerechte Erbschaftssteuer beim Übergang von einer Generation zur nächsten gilt Ähnliches.
Trotzdem, keine Steuererhöhungen im Koalitionsvertrag. Gleichzeitig hat die Regierung eine ambitionierte Klimawende beschlossen. Wie soll das gehen, ohne dass man den finanzstarken Teil der Bevölkerung in die Pflicht nimmt?
Wir haben eine CO2-Bepreisung. Das ist keine klassische Steuer, aber eine Abgabe, die gekoppelt ist an fossile Energieträger. Und das merken hier gerade auch viele Leute an der Tankstelle. Natürlich reden wir aber in diesem Bereich auch über Entlastungen. Wir finanzieren künftig den Ausbau der Erneuerbaren nicht mehr über die Stromrechnung der Privathaushalte, wie das im Moment noch der Fall ist, sondern aus dem allgemeinen Steueraufkommen. Schlussendlich ist es so: Wir sehen an den Zahlen, dass nahezu 90 Prozent an privatwirtschaftlichen Investitionen den grossen industriellen Wandel antreiben werden. Aber die anderen 10 Prozent müssen vom Staat kommen. Sie geben vor, welches die gewünschten Energieträger der Zukunft sind, mit welchen Netzen und mit welcher Infrastruktur wir arbeiten wollen. Der staatlich investierte Euro soll vorangehen und die privatwirtschaftlichen Investitionen nach sich ziehen.
Sie sagten eben, die normalen Haushalte spürten die CO2-Preise. Das ist doch ein Paradebeispiel für eine weniger umverteilungsorientierte und damit auch weniger solidarische Form der Steuer.
Es ist eine sozialdemokratische Herangehensweise, nicht für jedes gesellschaftliche Phänomen eine eigene Gebührenordnung zu erheben und dann im Einzelfall zu schauen, wie man sozialen Ausgleich organisiert. Sondern dafür gibt es die staatlichen Steuereinnahmen. Diese müssen progressiv ausgestaltet sein, sodass die berühmten starken Schultern mehr tragen als die schwachen. Daraus sollten die wesentlichen staatlichen Aufgaben und ganz offensichtlich ja auch die Energiewende finanziert werden. Leider leisten wir uns so eine Art Mischform in Deutschland. Wir haben zwar diese Steuern, daraus wird auch eine ganze Menge finanziert, aber in einzelnen Bereichen handhaben wir das anders. Da gibt es die berühmten Beispiele wie die CO2-Bepreisung. Es geht aber bis ins Alltägliche – zum Beispiel im öffentlichen Nahverkehr. Da interessiert sich beim Kauf eines Monatstickets keiner dafür, ob ich ein Multimillionär oder ein Lkw-Fahrer mit 2000 Euro Monatseinkommen bin. Der Preis ist für beide derselbe, und das ist ungerecht. Dumm ist es noch dazu, weil das die Mobilitätswende ausbremst.
In der deutschen, aber auch in der Schweizer Sozialdemokratie hatte man lange das Gefühl, die Klimapolitik sei mehr oder weniger an die Grünen delegiert worden.
Ich stimme diesem Gefühl zumindest mit Blick auf Deutschland zu. Es hat immer die mahnenden und vorausdenkenden Stimmen in unseren Reihen gegeben, aber sie haben auch ein gewisses Orchideendasein gefristet. Es haben sich zwar immer viele auf Visionäre wie Hermann Scheer bezogen und waren stolz. Nur waren sie nicht immer ganz so vertraut mit den Inhalten der Papiere, die diese Personen geschrieben haben. Ich glaube, mit Blick auf die Klimakrise stand die Sozialdemokratie lange stellvertretend für die Gesellschaft. Wir haben zu lange das Offensichtliche nicht ordentlich analysiert – aus Unlust, uns der Dramatik der Lage zu stellen und den systemischen Veränderungen, die sich daraus ergeben. Manche aber sicherlich auch aus romantischer Verklärung bestimmter Technologien. Es gibt Menschen im Tüftlerland Deutschland, die eine richtig emotionale Beziehung zu einem Verbrennungsmotor aufbauen; Chefredaktoren grosser Zeitungen, die es als Inbegriff ihrer Freiheit begreifen, mit 200 über die Autobahn zu brettern und dabei Feinstaub in die Luft zu blasen. Komische Blüten, die unser Freiheits- und Selbstverständnis in Deutschland so getrieben hat. Und daran sind die Sozialdemokraten auch beteiligt gewesen.
Stellt man dieselbe Frage bei Schweizer Sozialdemokraten, wird diese These meist bestritten. Man sieht sich als Speerspitze der Umweltbewegung.
Ich kenne die Politik in der Schweiz wirklich deutlich zu schlecht, um das ernsthaft bewerten zu können. Ich finde es aber notwendig und gut, dass politische Parteien und Akteure auch eigene Fehler eingestehen, damit wir wegkommen von diesem Bild der vermeintlichen Unfehlbarkeit. In der Politik ist der korrigierte Irrtum das deutlich kleinere Problem als der Irrtum, der stur fortgesetzt wird. Beispielsweise durch die Nutzung der Atomkraft.
Betrachtet man die neue Regierung, sind im Prinzip alle klimarelevanten Ministerien in der Hand der Grünen oder der FDP. Es wirkt von aussen nicht so, als hätte sich die SPD um diese Posten bemüht.
Da würde ich deutlich widersprechen. Mit dem neuen Ministerium für Bauen und Wohnen, das auf unsere Initiative hin neu geschaffen wurde, haben wir eines der relevanten Ministerien. Der Bau- und Gebäudesektor ist mit allem Drum und Dran an gut 20 Prozent der Emissionen in Deutschland beteiligt. Die Frage, woher die Haushalte künftig ihre Wärme beziehen, ob sie an ein kommunales Netz angeschlossen sind, ob sie eine Wärmepumpe im Keller haben oder ob wir sie bis in alle Ewigkeit mit Öl und Gas versorgen, macht einen Riesenunterschied für die Klimabilanz in Deutschland. Das wird unterschätzt, weil der Blick immer zum Verkehr oder zur Landwirtschaft geht. Und dann: Klimapolitik ist ja nicht nur das, was man im Bereich von Energiewende macht, sondern auch die Frage nach dem sozialen Ausgleich. Deshalb ist das Arbeits- und Sozialministerium ein wahnsinnig wichtiges. Wenn wir in wenigen Jahren in der Lausitz hier vor den Toren Berlins aus der Braunkohle aussteigen, dann müssen wir beweisen, dass wir es schaffen, Tausende Beschäftigte in strukturschwachen Regionen umzuschulen und weiterzubilden.
Im neuen Parlament sitzen 49 junge SPD-Mitglieder, der Bundestag ist insgesamt jünger geworden. Wird sich das bemerkbar machen?
Macht es jetzt schon.
Inwiefern?
Es gibt am Anfang einer Wahlperiode in unserer Fraktion immer eine Vorstellungsrunde. Alle Neuen gehen mal eine Minute ans Mikro und sagen kurz das Wichtigste zu sich. An den Geschichten, die dann erzählt wurden, hat man gemerkt: Das Parlament ist nicht nur jünger, sondern auch vielfältiger. Wir haben zum Beispiel einen Abgeordneten, dessen Familie aus Bosnien kam und Ende der Neunzigerjahre abgeschoben werden sollte. Das wurde damals verhindert von einem Rechtsanwalt, der heute ebenfalls SPD-Bundestagsabgeordneter ist. Sie sitzen nun also zusammen in einer Fraktion. Das ist deutsche Geschichte der letzten Jahre und Jahrzehnte, die jetzt im Parlament ankommt. Dieses Parlament ist mehr Deutschland, als es die vergangenen Bundestage gewesen sind.
Als junger Politiker wird man schnell zur Projektionsfläche. Gibt es Zuschreibungen, die Ihnen missfallen?
Oftmals haben Zuschreibungen einen wahren Kern, werden aber mit der Zeit ins Unendliche vergrössert. Ich werde häufig als der Rebell der SPD apostrophiert, der immer aufmüpfig ist oder dagegen. Und dann kommen häufig in Interviews Fragen, wo denn jetzt der aufmüpfige Kevin Kühnert geblieben sei. Da liegt ein Missverständnis vor, denn so eine Nachfrage unterstellt ja, dass es sich da irgendwie um Querulantentum aus Prinzip handeln würde. Als ob ich einen Eintrag im Kalender hätte, alle halbe Jahre muss ich gegen irgendwas opponiert haben, um meiner Rolle gerecht zu werden. So ist es nicht. Ich bin lautstark gegen etwas, wenn ich die Notwendigkeit sehe, das zu tun.
Authentizität ist ein Stichwort, das häufig an Politikerinnen herangetragen und auch Ihnen in ganz besonderer Weise zugeschrieben wird. Haben Sie manchmal Sorge, dass man Ihnen das als berechnend, als inszenierte Authentizität auslegt?
Das kommt vor. Es liegt im Auge des Betrachters. Authentizität lässt sich nicht objektivieren. Zu Robert Habeck beispielsweise gehen die Meinungen stark auseinander. Manche finden, sich auf den Boden zu setzen und dort ein Hemd zu bügeln, sei Inszenierung. Andere sagen: Guck mal, wie wahnsinnig normal der ist. Was ich dazu beitragen kann, Authentizität, wenn man so will, zu behalten, ist in erster Linie, möglichst wenig an meinem Leben zu verändern. Das ist die beste Garantie, bei mir zu bleiben. Also mich hier in der Stadt genauso fortzubewegen, wie ich das bisher gemacht habe. Da weiter einkaufen zu gehen, wo ich einkaufen gegangen bin; da wohnen zu bleiben, wo ich vorher gewohnt habe; in dieselbe Stammkneipe zu gehen, in die ich vorher gegangen bin. Das sind alles keine Garantien. Aber man hat ja auch die Leute, die einen kennen und die einem sagen, du wirst komisch, wenn man komisch wird. Das macht es wahrscheinlicher, dass man die Bodenhaftung behält.
Seit Sie wählen können, war Angela Merkel Bundeskanzlerin. Was haben Sie von ihrer politischen Arbeit gelernt?
Dass man sich selbst nicht zu wichtig nehmen sollte.
Wer sind derzeit die für Sie inspirierenden politischen Denkerinnen und Denker?
Die Frage nach Vorbildern …
Sie können es als Frage zum Beispiel nach inspirierender Lektüre auffassen.
Ich bin grosser Dürrenmatt-Fan. Wenn man beispielsweise den «Besuch der alten Dame» liest, ist man sehr nahe an Fragen von Vermögensverteilung dran und an der Frage, wie sie sich auswirkt auf politische Machtverhältnisse im Land. Da ziehe ich mehr draus als aus der fünfundzwanzigsten Studie, die mir noch einmal in aktuellen Zahlen bestätigt, wie es heute um die ungleiche Vermögensverteilung steht. Das habe ich im Grundsatz verinnerlicht. Was mir ebenfalls in den letzten Jahren geholfen hat, ist das, was Didier Eribon mit «Rückkehr nach Reims» und vergleichbare Lektüre geleistet haben.
Erzählen Sie.
Bücher wie jene von Eribon schaffen Narrative, die auch kulturell erklären können, was in den letzten Jahrzehnten passiert ist. Es ist das eine, zu ergründen, wie die Politik des Dritten Weges und der ganze Ansatz von Deregulierung in die deutsche und europäische Politik reingekommen ist. Aber wichtiger noch ist es, zu verstehen, welches die kulturellen Treiber waren, die dazu geführt haben, dass Milieus aufgebrochen worden, kultureller Halt und Gewissheiten verloren gegangen sind. Das zu begreifen, ist gerade für eine Bewegung wie die Sozialdemokratie wichtig, deren Wählerschaft kein funktionales Verhältnis zu ihrer Partei hat, sondern immer auch eine kulturelle Bindung, die tief in die Lebenswelt hineinreicht.
Was wäre Ihre Ultrakurz-Zusammenfassung dessen, was Didier Eribon mit seinem Buch den Deutschen über ihre eigene Gesellschaft erzählt?
Für meinen Geschmack: Neben allen Nöten und Zwängen, die Politik und Ökonomie einem aufgeben, darf man als Politiker das Interesse an den eigentlichen Lebensverhältnissen und am Alltagsstolz der Menschen nicht verlieren. Es gibt eine Ebene von Anerkennung und Respekt, die sich nicht nur monetär ausdrückt, sondern die etwas mit Zuwendung, Aufmerksamkeit und Wertschätzung zu tun hat. Das lässt sich nicht in Euros, Regionalisierungsmitteln und Bundestagsbeschlüssen messen, sondern das hat was mit Persönlichkeit zu tun. Es war kein Zufall, dass Olaf Scholz «Respekt» zum zentralen Begriff seiner Wahlkampagne gemacht hat. Er hat diese Bücher auch gelesen. Und verstanden.
In der Geschichte der SPD hat die Unterstützung durch linke Intellektuelle immer eine besondere Rolle gespielt. Zu Zeiten Willy Brandts war die gesamte deutsche Intelligenzija im Wahlkampf für die SPD. Das hat spürbar abgenommen in den letzten Jahren.
Jein. Ich glaube auch, dass das Spektrum derer, an die man da denkt, sich einfach auch gewandelt hat. Ich meine, wer ist denn das heutige Äquivalent zu Günter Grass im Jahr 2022? Rund um die Bundestagswahl haben wir aber auch gemerkt: Erfolg macht sexy. Manche, die vergessen hatten, dass es auch noch die SPD gibt, waren eifrig dabei, noch Plätze für den Wahlabend der SPD im Willy-Brandt-Haus zu ergattern, weil man dann doch gerne bei der Wahlparty des Gewinners dabei sein wollte.
Die Spitze der schweizerischen SP war auch am Wahlabend dabei. Wie eng ist der Kontakt zur Schweizer Sozialdemokratie?
Insbesondere mit Cédric (Wermuth; Anm. d. Red.) bin ich sehr gut bekannt, weil er mich, noch bevor er Co-Vorsitzender der SP Schweiz geworden ist, vor drei Jahren ins Arbeiterstrandbad nach Tennwil für eine Festrede eingeladen hat. Gerade aus der gemeinsamen Zeit in den Jugendorganisationen sind wir eng verbandelt. Und es gibt Themen, die einen immer wieder zusammenführen. Zum Beispiel das Thema Bauen und Wohnen: An dem Abend in Tennwil hat mir Jacqueline Badran eine halbe Stunde lang ein energisches Impulsreferat über linke Wohnpolitik gehalten. Das hat bleibenden Eindruck hinterlassen!
Ihre Regierung wird in Europa ein entscheidender Machtfaktor sein. Nun stecken die Beziehungen zwischen der Schweiz und Europa in einer Krise. Was muss die Schweiz tun, um nach diesen gescheiterten Verhandlungen wieder näher an Europa zu rücken?
Einen Ratschlag habe ich nicht. Aber es ist keine abschliessende politische Frage, ob man findet, ein Land sollte Teil der Europäischen Union sein. Sondern eine politische Partei muss für sich die Frage beantworten, welche EU wollen jene, die heute schon drin sind? Und welche EU wollen diejenigen, die innerhalb der Schweiz diese Diskussion führen und grundsätzlich offen sind für eine Beteiligung? Die EU ist nicht fertig. Sie ist permanent in Entwicklung mit notgedrungenen Unzulänglichkeiten – zum Beispiel in Fragen von sozialen Standards, sozialen Sicherungssystemen, Haftungsfragen, in Fragen von Militär und Aussenpolitik. Jede politische Kraft in der Schweiz müsste also für sich beantworten, was sie sich von einer Mitgliedschaft oder Assoziierung verspricht. Und dann muss sie herausfinden, ob es dafür Potenziale in der und um die EU gibt.
Wann haben Sie das letzte Mal etwas Neues über politische Arbeit gelernt?
Am meisten war das bei mir zuletzt in den Koalitionsverhandlungen der Fall. Denn das ist eine Ebene, auf der ich mich bislang nicht bewegt habe. Und plötzlich habe ich dort gelernt, dass es eine starke innere Festigkeit braucht, wenn es darum geht, zwischenmenschliche Sympathie und politische Differenz unter einen Hut zu bringen. Wenn man zwei, drei Wochen lang mit den Kollegen der FDP von morgens bis abends über Bau- und Lohnpolitik verhandelt, sich dabei sympathisch wird und per Du ist miteinander, dann ist das einerseits ein gutes Zeichen für eine reife Demokratie. Andererseits musste man aufpassen, dass man kein Stockholm-Syndrom entwickelt. Dass ich also nicht anfange, meine Formulierungen und Forderungen zu schleifen, weil ich dem anderen einen Gefallen tun möchte.
Ist Ihnen das passiert?
Ich glaube nicht. Aber ich musste mich an vielen Stellen ermahnen, in der Sache hart zu bleiben. Auch wenn ich wusste, dass ich jemanden, der mir sympathisch ist, damit nerve. In meiner Position muss ich das können, schon klar, und trotzdem kostet es Kraft.
Welchen Vorwurf möchten Sie sich am Ende der aktuellen Legislaturperiode nicht machen müssen?
Zum Zyniker geworden zu sein.