Sexismus und Hass in der Tech-Branche – sie prangert ihn an
Von Politik und Wirtschaft werden Google und Co. selten in die Schranken gewiesen. Die Angestellten der Tech-Konzerne treten da schon anders auf. Wie Meredith Whittaker, Expertin für künstliche Intelligenz. Serie «Digital Warriors», Folge 2.
Von Roberta Fischli (Text) und Jeanne Detallante (Illustration), 15.01.2022
Es war 2006, Meredith Whittaker hatte soeben ihr Bachelorstudium in englischer Literatur und Rhetorik an der University of California in Berkeley abgeschlossen, und jetzt brauchte sie dringend einen Job. «Im Unterschied zu meinen Studienkollegen hatten meine Eltern kein Geld», sagt sie und blinzelt hinter den runden Brillengläsern. Es ist 10 Uhr morgens an der Ostküste, und die vielleicht lauteste Tech-Aktivistin sitzt im schwarzen Kapuzenpullover vor dem Bildschirm und erklärt, sie habe nie zu den Tech-Enthusiastinnen gehört. «Ich war pleite, ich brauchte Arbeit, und Google war die erste Firma, die mir ein Angebot machte.» Also startete sie einen Job beim Tech-Giganten der Zukunft. In der Kundenberatung.
Auf einer Website aus früheren Zeiten heisst es über Whittaker: «Learnt most of what she does by doing it.» Im Kontext von Google heisst das: Sie bringt sich all die technischen Fähigkeiten selbst bei, die es braucht, um weiterzukommen. Deshalb dauert es nicht lange, und die meist schwarz gekleidete Frau mit den wilden Locken arbeitet für den Suchmaschinengiganten zu den Themen Netzneutralität und Privatsphäre.
Daneben gründet sie diverse interne Initiativen, unter anderem die Google Open Research Group, die komplexe Probleme gemeinsam mit externen Wissenschaftlerinnen und Open-Source-Aktivisten lösen will. Als 2013 der Hype um «künstliche Intelligenz» und maschinelles Lernen die Industrie erfasst, ist sie eine der wenigen, die nicht in den enthusiastischen Chorus einstimmen. Das Internet ist schon damals voll von rassistischen Kommentaren, sexistischen Foren und abfälligen Sprüchen über Minderheiten. Whittaker fragt sich: Was passiert, wenn eine gesamte Industrie ihre neue Wundertechnologie mit solchen Daten trainiert? Und warum spricht niemand darüber?
Digitalisierung wird von Männern geprägt – hört man oft. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Denn die Silicon-Valley-Bros werden zunehmend in Verlegenheit gebracht. Von Frauen. Die Serie «Digital Warriors» stellt fünf von ihnen vor. Zur Übersicht.
Sie lesen: Folge 2
Die Aktivistin: Meredith Whittaker, New York/Washington
Folge 3
Der Uber-Schreck: Veena Dubal, San Francisco
Folge 4
Die Furchtlose: Timnit Gebru, San Francisco
Folge 5
Die Vordenkerin: Francesca Bria, Rom
Sie beschliesst, ihre Position innerhalb des Unternehmens zu nutzen, um ein Gegengewicht zu schaffen und ihre Mitarbeiterinnen für die Risiken der Technologie zu sensibilisieren. Mit der renommierten KI-Forscherin Kate Crawford gründet sie AI Now, ein Forschungsinstitut an der New York University, das die politischen und sozialen Konsequenzen von künstlicher Intelligenz untersuchen soll. Google unterstützt das Projekt. Denn es passt zum Selbstbild des Unternehmens, das «Don’t be Evil» als Motto proklamiert und seine Mitarbeitenden dazu ermutigt, sich aktiv einzubringen und «ganz sich selbst zu sein». Mit ihrer Expertise und ihrem Fokus auf Gesellschaftsfragen wird Whittaker zur Vorzeigeangestellten, die an wichtigen Besprechungen einbezogen und angehört wird. Dann erfährt sie vom Project Maven. Und alles ändert sich.
Erfolgreich, aber desillusioniert
Hinter dem farblosen Projektnamen steckt ein geheimes Militärprojekt, in dem Google «intelligente» Algorithmen für das amerikanische Verteidigungsministerium entwickelt. Diese erlauben es, von Drohnen aufgenommenes Videomaterial zu analysieren – und könnten künftig auch dazu genutzt werden, Drohnenangriffe zu verbessern. Kaum jemand bei Google weiss davon. Nicht mal jene, deren Arbeit aktiv zum Projekt beiträgt. Den Beteuerungen, das Projekt werde nicht für Kriegszwecke eingesetzt, glaubt Whittaker nicht. Denn militärische und wirtschaftliche Geheimhaltungsklauseln machen eine Überprüfung unmöglich.
Stattdessen entwirft Whittaker einen Protestbrief, in dem sie Google-CEO Sundar Pichai auffordert, sofort aus dem Projekt auszusteigen. Mehr als 3000 Angestellte unterschreiben. Einige Wochen später gibt Google bekannt, dass man den Vertrag mit der Regierung nicht verlängern wird. Trotz ihres Erfolgs ist Whittaker desillusioniert. Denn in ihren Augen symbolisiert das Project Maven einen grundsätzlichen Richtungswechsel des Unternehmens.
«Mir wurde klar, dass meine bisherigen Bemühungen umsonst gewesen waren», sagt sie. Während man an Meetings über Ethik und Verantwortung gesprochen hatte, wurde gleichzeitig ein Militärvertrag abgeschlossen. «Ich hatte daran geglaubt, dass Unternehmensentscheide eine Frage des besten Arguments seien», sagt sie und hält inne. «Und ich hatte all die richtigen Argumente. Nur haben die offensichtlich niemanden interessiert.»
Inspiriert durch Proteste von Shuttlebusfahrerinnen und Cafeteriamitarbeitern, konzentriert sich Whittaker darauf, eine Arbeiterbewegung aufzubauen. Die Firma, die Eigeninitiative und Aktivismus noch immer in ihrer DNA hat, eignet sich bestens dafür. Es gibt genug zu tun. Da ist die zensurkonforme Suchmaschine, die Googles Markteintritt in China erleichtern soll. Da sind «Schatten»-Angestellte, deren Arbeit für den Konzern zwar elementar ist, die aber fast immer unterbezahlt sind. Und da ist Android-Gründer Andy Rubin, der das Unternehmen wegen Anschuldigungen im Zusammenhang mit sexuellen Übergriffen verlassen muss und mit üppigen 90 Millionen Dollar entschädigt wird.
Gemeinsam mit Claire Stapleton, einer anderen langjährigen Google-Mitarbeiterin, organisiert Whittaker am 1. November 2018 den «Google Walkout for Real Change». Mehr als 20’000 Google-Angestellte in über 50 Städten verlassen an diesem Tag ihren Arbeitsplatz. Sie protestieren gegen Sexismus, Rassismus und eine intransparente Firmenkultur. Fotos vom Event zeigen Whittaker in schwarzer Lederjacke auf einer Parkbank in New York, eine Hand am Megafon, kreisende Newshelikopter über der Menschenmenge.
Mit den klassischen Strategien der Arbeiterklasse
Dass sie sich dabei an den traditionellen Mitteln der Arbeiterbewegung orientieren – Organisieren, Demonstrieren, Protestieren – wirkt in einer derart jungen Industrie beinahe anachronistisch. Es zeigt aber auch, was sowohl Kapitalismuskritikerinnen als auch Wirtschaftshistoriker schon länger sagen: dass die neue, schillernde Industrie nach den gut geölten Regeln des Kapitalismus funktioniert. Bis die Politik neue Vorschriften für den Umgang mit Tech-Unternehmen gefunden hat, bleibt der Rückgriff auf die klassischen Strategien der Arbeiterklasse für viele die effizienteste Methode. «Wer sich mit einem Milliardenunternehmen anlegen will, muss laut sein», sagt Whittaker, «und viele.»
Vor dem Protest signalisierte Google-CEO Sundar Pichai seine Unterstützung für die Aktion. Danach sieht es anders aus. Wenige Tage nach dem Walkout beauftragt Google eine Firma, die auf das Zerschlagen von Gewerkschaften spezialisiert ist. Neue Richtlinien werden eingeführt, welche die Angestellten auffordern, auf hitzige Diskussionen zu Politik zu verzichten und sich stattdessen auf die Arbeit zu konzentrieren. Sobald jemand ein internes Meeting mit mehr als hundert Personen organisiert, wird ein interner Alarm ausgelöst. Und die Organisatorinnen des Walkouts werden bestraft.
Im Fall von Whittaker heisst es, dass sich ihre Position innerhalb der Firma drastisch ändern werde und sie ihre Arbeit bei AI Now aufgeben müsse, wenn sie weiterhin für Google arbeiten wolle. Gemeinsam mit der Google-Mitarbeiterin Claire Stapleton schreibt Whittaker einen internen offenen Brief, in dem sie ihre Erfahrungen schildert. Und verlässt nach dreizehn Jahren ihren Job.
«Wenn man sich mit so grossen Firmen anlegt, muss man wissen, worauf man sich einlässt», sagt Whittaker. Sie entschliesst sich, den Kampf gegen die Machtstrukturen der Tech-Konzerne fortan von aussen zu führen – als Co-Leiterin des AI-Now-Instituts in New York. Unter der Führung von Kate Crawford und Meredith Whittaker wird das Institut rasch zu einer wichtigen Stimme im erwachenden AI-Ethik-Diskurs. Die beiden Leiterinnen organisieren Symposien, die Beachtung finden, werden von den wichtigsten Technologiejournalistinnen interviewt, bringen neue Themen aufs Tapet und in die Zeitungen. Dass Crawford einen hervorragenden Ruf in der Wissenschaft geniesst, hilft. Dass AI Now einen anderen Fokus setzt als die meisten anderen Institute, auch.
In einem Feld, das nach wie vor von Männern dominiert wird, zitieren Crawford und Whittaker die Arbeit jener, die sonst kaum zur Sprache kommen: Frauen, Minderheiten, People of Color. Sie konzentrieren sich auf Fragen, die es in den meisten Forschungspapieren nur in die Fussnoten schaffen. Zum Beispiel: Welche Bevölkerungsgruppen sind am stärksten von algorithmischer Verzerrung betroffen? Welche Machtstrukturen sind in den Technologien vertreten? Und immer wieder: Wie können wir Arbeiterinnen in ihrem Kampf für faire Arbeitsbedingungen und gegen Diskriminierung unterstützen?
Fertig mit bedingungsloser Loyalität
Die lauter werdenden kritischen Stimmen passen in eine Zeit, in der Träume platzen wie Seifenblasen und in der hinter dem glitzernden Versprechen der Zukunft immer wieder die klebrigen Muster der Vergangenheit auftauchen, die sich weder wegprogrammieren noch wegtheoretisieren lassen. Oder wie Whittaker sagt: «Wir protestieren nicht, weil wir Lust darauf haben. Sondern weil sich sonst nichts ändert.»
In ihrem Protest schwingt auch eine Enttäuschung mit. Darüber, dass die Firmen nicht so offen sind, wie es die bunten Broschüren und kuscheligen Sofaecken behaupten. Und dass sie nicht klüger waren und auf jene hörten, ohne die es keine Software-Updates geben würde, keine neuen Tools und bis jetzt – kein öffentliches Anprangern von internen Skandalen. Denn bisher war ein Job bei einem Tech-Unternehmen fast immer eng mit der Erwartung an bedingungslose Loyalität verknüpft gewesen, die ihrerseits mit grosszügigem Salär und flachen Hierarchien belohnt wurde. Ermöglicht wurde das durch eine Mischung aus Elitismus, Tech-Optimismus und jener radikalen Offenheit, die oft seit jeher in den Unternehmen praktiziert wurde. Ein Club der Freien, vom Maschendrahtzaun der Loyalität umgeben.
Dass die Solidarität gegenüber dem Unternehmen von jener gegenüber den Mitarbeitern abgelöst wird, liegt auch daran, dass sich immer weniger in diesem ungeschriebenen Pakt wiederfinden. Sie fragen sich: Wo bleibt die Verpflichtung gegenüber jenen, die sich gegen Machtmissbrauch, sexuelle Avancen und Rassismus wehren? Wo bleibt der Mut zur Handlung, wenn sowohl Opfer als auch Täter bekannt sind? Weshalb sind es hauptsächlich Frauen, People of Color und Transmenschen, die unter die Räder kommen?
Kaum ein Unternehmen scheint von den Aufständen verschont zu bleiben. So gibt es mittlerweile an diversen Orten interne Bewegungen, von Apple zu Amazon, Netflix, Facebook und Google, die Whistleblower schützen wollen und mit ihren Vorwürfen an die Öffentlichkeit gehen. Unter dem Hashtag #AppleToo fordern beispielsweise Apple-Angestellte eine Änderung der Firmenkultur. Die Reaktion darauf: Die Anführerinnen der Widerstandsbewegung werden entlassen.
Die Geschichte scheint sich zu wiederholen. Mit einem Unterschied: Die Proteste werden nicht leiser, sondern lauter. Die Protestierenden werden nicht weniger, sondern mehr. Und sie beginnen, sich zusammenzuschliessen. Was früher einzelne Kritikerinnen waren, sind heute firmenübergreifende Bewegungen. Ende Oktober 2021 veröffentlichte der «Guardian» einen offenen Brief von Google- und Amazon-Angestellten, die das Ende einer Zusammenarbeit ihrer Firmen mit dem israelischen Geheimdienst fordern.
Und Whittaker? Die wurde im November zur Beraterin der einflussreichen Federal Trade Commission berufen. Dort soll sie sich um die Fragen rund um künstliche Technologie kümmern.
Vielleicht sind die Firmen noch nicht bereit, sich selbst in die Pflicht zu nehmen. Ihre Angestellten schon: Sie laufen sich gerade erst warm.
Roberta Fischli ist Politikwissenschaftlerin und freie Journalistin. Sie doktoriert zur Freiheit in der Datenökonomie an der Universität St. Gallen und forscht zurzeit als visiting researcher an der Georgetown-Universität in Washington D.C. Daneben schreibt sie über Digitalisierung und Gesellschaft.