Zu wenig des Guten
Der neue Roman von Hanya Yanagihara ist da. Hat sich das Warten auf das Monumentalwerk gelohnt? 9 Minuten Kritik zu 900 Seiten.
Von Theresa Hein, 12.01.2022
Menschen, die gerne lesen und denen es gelungen ist, in den vergangenen Jahren am Namen Hanya Yanagihara und ihrem zweiten Buch «A Little Life» («Ein wenig Leben») vorbeizukommen, haben wahrlich ein Kunststück vollbracht. Der Roman, im Original 2015 und auf Deutsch 2017 erschienen, wurde international ausgezeichnet und gelobt, Hunderttausende Male verkauft und von den Feuilletons ob seines Erfolgs extra kritisch beäugt.
Den Leserinnen waren die Diskussionen ziemlich egal. Menschen tätowierten sich Kapitelnamen, Freundschaften wurden auf die Probe gestellt, wenn jemand unbedacht in Unterhaltungen ausrief, er fände das Buch «gar nicht mal so gut»; umgekehrt knüpften Fremde ungeahnte Bande, wenn sie zufällig herausfanden, dass sie das Buch beide liebten.
Sieben Jahre später gibt es nun einen neuen Roman der «New York Times»-Redaktorin Yanagihara, ihren dritten. Er trägt den Titel «To Paradise» («Zum Paradies») und hat knapp 900 Seiten, also minimal weniger als «Ein wenig Leben». Und anders als in ihren zwei Vorgängerbüchern ist Kindesmissbrauch nicht mehr das Hauptthema, weswegen man erleichtert aufatmet: Sie kann also auch über etwas anderes schreiben.
Der gute Roman kommt erst sehr spät
Formal ist das Buch in drei vollkommen voneinander unabhängig lesbare Teile geteilt, deren Handlungsstränge jeweils 100 Jahre auseinanderliegen. Einzige Konstante ist (neben einigen sich wiederholenden Namen) ein Stadthaus am New Yorker Washington Square. Der erste Teil spielt in einem fiktiven und sehr liberalen Teil der USA im Jahr 1893, den «Freistaaten». Der zweite Teil spielt in einem unseren 1990er-Jahren sehr ähnlichen Manhattan (und einem Rückblick auf eine hawaiische Kindheit in den Siebzigern). Und der dritte und längste Teil des Romans spielt hauptsächlich im Jahr 2093 und ist eine von tödlichen Krankheiten beherrschte Dystopie. (Er passt deswegen besonders gut in die Gegenwart.)
Als wäre das nicht genug, ist diese inhaltliche Dreiteilung wiederum gegliedert in mehrere Einzelteile, die oft seitenlange Zeitsprünge von Jahrzehnten und Ortswechsel über Landesgrenzen hinweg bedeuten.
Einfacher ist es da, das Buch qualitativ aufzuspalten: Die Hälfte ist erwartbar bis langweilig. Erst sehr spät entsteht doch noch ein guter Roman.
Das liegt erstens an einem diffusen Gefühl, das sich nach der Lektüre einstellt und das man erst nach genauerer Betrachtung mehrerer erzählerischer Grobheiten benennen kann: Ein bisschen zu oft wurde man im Laufe des Buches für dumm verkauft. (Das mag sich banal anhören, ist aber deswegen nicht weniger enttäuschend.)
Und zweitens an dem offensichtlicheren Problem der «drei Bücher in einem», das diese Schnitzer bedingt.
Wer schreibt solche Briefe?
Aber bleiben wir mal bei den Grobheiten. Besonders auffällig werden sie, wenn Yanagihara die Briefform wählt (was leider häufig passiert), zum Beispiel für einen kompletten Handlungsstrang im zweiten Teil. Der ist nicht nur aufgrund seiner Länge unglaubwürdig, sondern auch aufgrund der Figurenrede: Wer den Brief eines Vaters an seinen von ihm entfremdeten Sohn liest, hat leider weniger das Gefühl, dass hier tatsächlich ein Vater von seiner Kindheit und Jugend auf Hawaii erzählt, sondern immer die (um schöne Sprachbilder bemühte) Autorin Yanagihara:
Die Bushaltestelle befand sich unter einer Strassenlaterne, einer der wenigen an dieser Strasse, und auf der Bank sass eine junge Frau. Ich fuhr langsam genug, um sehen zu können, dass sie ihr dunkles Haar zurückgebunden hatte und einen orange bedruckten Baumwollrock trug – im Schein der Lampe wirkte es, als leuchtete sie von innen.
Pardon, das soll ein Brief sein? Kawika «David» Bingham, der Erzähler dieses Abschnitts, schreibt seinem in New York lebenden Sohn aus dem Pflegeheim gerade so, als hätte er zuvor noch einen Creative-Writing-Kurs belegt (und keinen guten!): von Augen, die «dunkler wurden, ein tieferes Blau annahmen», oder von «Begierde», die sich «über jedes andere Verlangen hinwegzusetzen schien». Und dann der Umfang: 129 Seiten. Selbst wenn man vergessen wollte oder sollte, dass man sich gerade in einem Brief befindet – die penetrante Anrede des Empfängers macht das unmöglich: «Was hieltst Du von Edward? Ich fragte Dich nie, weil ich die Antwort nie wissen wollte.» (Es ist ziemlich egal, was der Sohn, das angesprochene «Du», von Edward hält, denn er kommt nicht mehr zu Wort.)
Im dritten und längsten Teil des Buches, der Seuchen-Dystopie, wirken die Briefe dann hauptsächlich wie ein Vehikel, in das noch schnell Informationen gepresst wurden. Zum Beispiel in diesem Brief eines Wissenschaftlers, der einen langjährigen Freund und Vertrauten über die jüngsten politischen Entwicklungen auf dem Laufenden hält:
Ein halbes Jahr später sind diese Dörfer noch immer abgeschottet. Trotzdem versucht die laotische Regierung mit Unterstützung der amerikanischen, die Geschichte mit allen Mitteln aus den Medien herauszuhalten, denn neben der Ausbreitung der Krankheit gelten die grössten Befürchtungen (1) der unvermeidlichen Stigmatisierung dieser armen Leute, die leicht zu einem Massenmord an ihnen führen könnte, wie wir es ’40 in Malaysien erlebt haben; und (2) einer weiteren Flüchtlingskrise. Die Grenzen von Hongkong sind geschützt; die von Singapur, Indien, China, Japan, Korea und Thailand ebenfalls.
So viel hinterrücks in eine Geschichte geschmuggelte, blosse Information muss man einer Autorin erst mal verzeihen.
Schlimmer als die Unsauberkeiten in den Erzählperspektiven ist allerdings ein unerfüllter Wunsch, den vor allem ergebene Yanagihara-Leser haben dürften: Es gibt kaum eine Chance auf eine Bindung zwischen Leserinnen und Figur. Zur Ausnahme kommen wir gleich.
Viel zu schnell
Weder im von Yanagihara entworfenen New York von 1893 noch auf der Dinnerparty des Anwalts Charles Griffiths hundert Jahre später entsteht zwischen Leser und Figur jenes emotionale Band, das für den Erfolg von «Ein wenig Leben» so massgeblich war: Nach mehreren hundert Seiten und sehr vielen verstörenden Schilderungen fieberte man besonders mit einer der Hauptfiguren mit.
In «Zum Paradies» gelingt das kaum. Der Held des ersten Romanteils, David Bingham, bringt die üblichen Yanagihara-Charaktereigenschaften mit: eine gewisse Grundmelancholie, Sensibilität, keine Geldsorgen (damit er sich auch ja nur auf die Liebe konzentrieren kann), eine situative Naivität, in der sich der eine oder andere Leser selbst wiedererkennen soll. Aber die Beschreibung von Davids Sehnen bleibt leere Hülle. Als David einmal keine Antwort von seinem Geliebten erhält, schreibt Yanagihara:
Im Laufe der Wochen, während er darauf wartete und wartete, von Edward zu hören, und immer weiter pflichtschuldig seine Briefe schrieb (in denen das Verhältnis zwischen dem, was hoffentlich amüsante Neuigkeiten über sein Leben und die Stadt waren, zu Beteuerungen seiner Zuneigung und Sehnsucht sich beinahe gänzlich zugunsten von Letzteren verschoben hatte), waren seine Sorgen durch Verwirrung ersetzt worden und Verwirrung durch Bestürzung und Bestürzung durch Verletztheit und Verletztheit durch Wut und Wut durch Verzweiflung, bis er wieder am Beginn des Kreislaufs stand.
Grosse, sich wiederholende Worte, die man zu diesem Zeitpunkt als Leserin mit wenig Gefühl in Verbindung bringen kann. Davids Fassungslosigkeit ist nichts Nachvollziehbares. Obwohl Yanagihara ihre Figuren in «Zum Paradies» wieder mit jenem «Zuviel» umgibt, das Emotion verspricht (ihrem Erfolgsrezept aus «Ein wenig Leben») – zu viel Schmerz, zu viele Wunden, zu viele Krankheiten, zu viel Scham –, kommt beim Leser kaum etwas davon an.
Und damit sind wir beim offensichtlichen Stressfaktor angekommen, der dieses Buch umgibt und der sich schon im Klappentext verrät: «drei Schicksale von drei Menschen aus drei Jahrhunderten».
Die Brüche, wenn die neuen Romanteile beginnen, passieren zu schnell und zu krass. Figuren, mit denen man gerade erst warm geworden ist, verschwinden und werden durch neue ersetzt, noch bevor man bereit für einen Abschied ist; oder noch bevor man Yanagihara angemessen dafür bewundern kann, was für eine Familiendynamik sie sich jetzt schon wieder hat einfallen lassen.
Könnte Absicht sein. Nervt aber tierisch. Und ist so schade um gute Ideen wie diese hier: die Geschichte eines Mannes, dessen Leben durch einen manipulativen Freund ruiniert wird. Edward, jener Freund, will auf Hawaii einen von den USA unabhängigen Staat für die Ureinwohner gründen. Fortan geben sich die beiden erwachsenen Männer auf einem abgelegenen Grundstück dieser Illusion ihres eigenen Paradieses hin – und gehen langsam an der Lethargie zugrunde, die sich einstellt, wenn man nur innerhalb einer Fantasie lebt. Oder dieser Einfall: In der düsteren Zukunftsvision beschreibt ein Mann seine Angst, sich bei einem Freund mit einer tödlichen Seuche anzustecken. Daraufhin rennt er vor dem Freund weg und überlässt ihn sich selbst.
Am Ende: Eine eigene Stimme
Mehr als 500 Seiten lang überwiegt das Gefühl, was von diesen Figuren erzählt wird, sei nicht genug. Nun ist die Beschwörung dieses Gefühls eine von Yanagiharas grossen Stärken. Und triumphal wird ihr Schreiben dann, wenn sie den Wunsch nach dem «Genug» erfüllt. Diese Verheissung war der Grund, warum man überhaupt einen Wälzer wie «Ein wenig Leben» mit sich in den Bus schleppte: weil man so unbedingt wollte, dass es «weitergeht». («Weitergehen» muss, das wissen Yanagihara-Fans, nicht gleich «gut gehen» bedeuten.)
Für «Zum Paradies» wird das deshalb zum Problem, weil Yanagihara ihre Leserinnen im Vorgängerroman so erfolgreich mit dem oben erwähnten «Zuviel» gefüttert hat, dass sie nun nicht mehr satt werden. Und auf neue Leser dürfte das ganze Buch schlicht unspektakulär wirken.
Aber da ist ja noch die kleine Ausnahme: eine Erzählerin im dritten Teil. Die USA sind ein totalitärer Staat geworden, samt Durchsuchungsaktionen und Rationierungen, Zäunen, Demütigungen und der omnipräsenten Angst vor neuen Krankheiten, viel, viel tödlicher als Covid-19. Charlie, die Erzählerin, hat eine dieser Seuchen überlebt. Ihre kognitiven Fähigkeiten sind seitdem eingeschränkt, sie hat Narben am ganzen Körper und kaum mehr Haare auf dem Kopf. (Und ja, auch das fällt auf: Yanagihara lässt das ganze Buch über nur Männer erzählen, und die erste Frau, die spricht, ist kognitiv eingeschränkt. Aber gut.)
Yanagihara zollt ihrer Figur auf ihre eigene Art Respekt: Charlie ist vielleicht ein bisschen langsam, dafür sehr empfindsam. Endlich hat jemand im Roman eine eigene glaubwürdige Stimme; eine, die zur Rechtfertigung keines fiktiven Gegenübers bedarf, ausser den Lesern. Schnell ist man der Figur so zugetan, dass man sich wünscht, Yanagihara hätte das Buch einfach abgeschnitten und auf diese letzte Erzählung beschränkt. Wenn Charlie schildert, wie sehr sie sich wünscht, dass der Mann, mit dem sie in einer Zweckehe verheiratet ist, sich in sie verliebt, obwohl sie weiss, dass er schwul ist, berührt das sehr. Oder wenn sie verwirrt überlegt, ob sie sich nun richtig oder falsch verhalten hat, weil sie jemandem bestärkend die Hände auf die Schultern gelegt hat.
Von der Unmöglichkeit der Umstände wissen und sie sich trotzdem wünschen; von der Scham, die eine vermeintlich einfache Berührung auslösen kann – so etwas kann Yanagihara besonders gut beschreiben.
Schade, dass man so lange hungern muss, bis man dort ankommt.
Hanya Yanagihara: «Zum Paradies», Roman. Claassen, Berlin 2021. 896 Seiten, ca. 43 Franken.