Liebe deinen Nächsten wie dich selbst
Aussenminister Ignazio Cassis richtet die internationale Entwicklungszusammenarbeit neu aus: Die Schweiz soll im Ausland nun vor allem dort helfen, wo es auch ihren eigenen Interessen hilft. Was das vor Ort bedeutet.
Eine Recherche von Ariane Lüthi, 06.01.2022
Die Art und Weise, wie die Schweiz international hilft, ändert sich unter Bundesrat Ignazio Cassis. Während sich die Debatte im Bundeshaus stets darum dreht, ob die Schweiz mehr oder weniger Geld für die Entwicklungszusammenarbeit ausgeben soll, ist kaum beleuchtet, was der neue von Eigeninteressen mitbestimmte Kurs vor Ort bedeutet.
Die Republik hat sich das Schweizer Programm in drei Ländern genauer angeschaut, mit einem Dutzend Deza-Mitarbeitern und Expertinnen gesprochen, Strategiepapiere und Evaluationen gelesen.
Die Recherche zeigt: Viele der aktuellen Reformen waren überfällig. Doch bei einem Aspekt überwiegt das innenpolitische Kalkül.
Prolog: Cassis’ politische Weichenstellungen
«Der Bundesrat versteht die internationale Zusammenarbeit der Schweiz als eine Investition in die Freiheit, die Unabhängigkeit, die Sicherheit und den Wohlstand in der Schweiz und in der Welt», erklärte Bundesrat Ignazio Cassis dem Parlament vor gut einem Jahr. Das Narrativ war neu, doch die Strategie zur internationalen Zusammenarbeit für die Jahre 2021 bis 2024 befand sich bereits auf der Zielgeraden: Die Meinung, dass die Schweiz zwar weiterhin Armut und Not lindern soll, doch neuerdings nur noch dort, wo es auch ihren langfristigen Interessen hilft, hatte sich durchgesetzt.
Das Wort «langfristig» hatte der Bundesrat erst nach der Vernehmlassung ergänzt. So versuchte er die von zahlreichen Entwicklungsorganisationen und Verbänden vorgebrachten Bedenken zu zerstreuen, die Schweiz werde ihre Entwicklungszusammenarbeit für kurzfristige wirtschaftliche und migrationspolitische Interessen instrumentalisieren. Es gelang ihm: Das Parlament verabschiedete den Rahmenkredit von 11,25 Milliarden Franken über vier Jahre mit grossem Mehr.
Sogleich machte sich Bundesrat Cassis auf, die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza) umzubauen – ein Prozess, der die zentrale Institution der Schweiz für die Armutsbekämpfung und nachhaltige Entwicklung in der Welt neu ausrichten und über Jahre prägen wird.
Ich will es genauer wissen: Welche Akteure in der Schweizer Entwicklungszusammenarbeit verfügen über wie viel Budget?
Die Schweiz investiert 2021 bis 2024 geschätzte 0,46 Prozent des Bruttonationaleinkommens (BNE) in die öffentliche Entwicklungshilfe. Dieser Wert entspricht ungefähr jenem der Vorperiode, liegt aber tiefer als der Richtwert von 0,5 Prozent, den das Parlament 2011 festgelegt hatte (die Uno-Entwicklungsziele peilen 0,7 Prozent an).
Hauptakteurin ist die Deza, die den Löwenanteil des Gesamtkredits verwaltet: In der Periode 2021 bis 2024 sind es voraussichtlich 84 Prozent (rund 7,3 Milliarden Franken für Entwicklungszusammenarbeit und 2,1 Milliarden Franken für humanitäre Hilfe). 14 Prozent entfallen auf das Staatssekretariat für Wirtschaft für die wirtschaftliche Zusammenarbeit und 2 Prozent auf das Aussendepartement für die Friedensförderung.
Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe sind finanzielle Schwergewichte der Aussenpolitik. Die Deza vergibt dreierlei Gelder: Beiträge an multilaterale Organisationen und das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (2021–2024 maximal rund 4,1 Milliarden Franken), Programmbeiträge an Schweizer Nichtregierungsorganisationen (maximal gut 0,5 Milliarden Franken) sowie Projektbeiträge und Mandate (maximal rund 4,8 Milliarden Franken). Diese Projekte werden gemeinsam mit NGOs, multilateralen Organisationen, Firmen oder anderen Partnern durchgeführt. Meist zielen sie auf ein bestimmtes Land ab (bilaterale Projekte), es gibt aber auch Initiativen auf globaler Ebene (thematische Projekte).
Der neue Kurs hatte sich bereits im Sommer 2019 mit einem aufsehenerregenden Personalentscheid manifestiert: Cassis machte Christian Frutiger zum Vizedirektor der Deza. Dieser war bis dahin «Global Head of Public Affairs» beim Nahrungsmittelmulti Nestlé. Eine ungewöhnliche Wahl, die aber perfekt zur Order des Bundesrats passte, wonach die Deza in Zukunft viel mehr Ressourcen von Unternehmen mobilisieren soll, um ihre Ziele zu erreichen.
Die Ernennung rief Kritiker auf den Plan, die sogar eine Unterschriftensammlung starteten. Ihre Befürchtung: Die Deza werde nun Profit vor Menschenrechte stellen und mit Frutiger die Privatisierung von Wasserquellen vorantreiben. Das hat sich jedoch nicht bewahrheitet, und die Direktion hat mittlerweile Richtlinien aufgestellt für die Zusammenarbeit mit dem Privatsektor und den Umgang mit entsprechenden Risiken.
Ein neues Handbuch konkretisiert, was Cassis’ Kurs bedeutet: Während die Deza bis anhin rund 8 Prozent aller Projekte gemeinsam mit privaten Firmen umsetzte, soll dieser Anteil in Zukunft auf 20 bis 25 Prozent steigen. Werden die nötigen Vorsichtsmassnahmen beachtet, sind solche Partnerschaften breit abgestützt und so auch in den Uno-Entwicklungszielen vorgesehen.
Wenige Monate später fällte Cassis einen zweiten unkonventionellen Personalentscheid: Er kürte Patricia Danzi zur Nachfolgerin des Karrierediplomaten Manuel Sager an der Deza-Spitze. Wie Frutiger kam auch die neue Direktorin nicht aus der Verwaltung, sondern von ausserhalb – sie hatte zuvor die Afrika-Abteilung beim Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) geleitet.
Im vergangenen Sommer startete das neu formierte Team eine Reorganisation, die bis zu ihrem Abschluss im kommenden September bei der Deza keinen Stein auf dem anderen belassen wird. Titel des Umbaus: «Fit for Purpose». Danzis langjährige Erfahrung beim IKRK dürfte ihr dabei zum Vorteil gereichen. Denn ein zweites Ziel in Cassis’ Strategie ist eine engere Kooperation der längerfristig angelegten Entwicklungsarbeit mit der humanitären Hilfe, die – wie das Rote Kreuz – auf Krisen reagiert. Die entsprechenden Abteilungen, die bisher separat agierten, werden zusammengelegt.
Wie sich diese Integration auswirkt, wird sich nicht nur am neuen Deza-Standort im bernischen Zollikofen zeigen – sondern vor allem in den Schwerpunktländern der Schweizer Entwicklungszusammenarbeit. Was das ganz konkret heisst und wie sich die weiteren Ziele des Aussenministers auswirken, versteht man am besten anhand der Beispiele von drei diesbezüglich bedeutenden Ländern auf drei verschiedenen Kontinenten.
1. Afghanistan: Nothilfe und Entwicklung «Hand in Hand»
Gut 5000 Kilometer östlich der Schweizer Grenze verkaufen immer mehr Familien ihre kleinen Töchter, weil sie sich kein Essen mehr leisten können. Nach zwei grossen Dürren und der Machtübernahme der Taliban droht Afghanistan eine Hungersnot. Internationale Hilfslieferungen im Wert von mehreren hundert Millionen Dollar wurden gestoppt, und viele Banken schlossen ihre Türen, weil die Reserven der Zentralbank eingefroren sind. Kurzum: Afghanistan steht am Rande des Zusammenbruchs.
Ländervergleich
Indikator | Afghanistan | Schweiz |
---|---|---|
Gesamtbevölkerung (Millionen) | 38 | 8,6 |
BNE pro Kopf (USD, kaufkraftbereinigt) | 2229 | 69’394 |
Kindersterblichkeit (pro 1000 Kindern unter 5 Jahren) | 62,3 | 4,1 |
Jahre in der Schule (Mittelwert) | 3,9 | 13,4 |
Quelle: Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen. |
Just die Erfahrungen in diesem Land gaben den Anstoss dafür, dass Nothilfe und Entwicklungsarbeit der Schweiz neu «Hand in Hand» geplant werden sollen. Eine Evaluation ergab 2018 nämlich, dass die humanitäre Hilfe völlig isoliert von den eigenen Entwicklungsprojekten im Land geleistet wurde. Mit dem Ziel, dezentrale Institutionen zu stärken, unterstützte die Schweiz die unabhängige Menschenrechtskommission Afghanistans, verhalf Menschen in ländlichen Gegenden zu einem besseren Einkommen und förderte die Schulbildung. Die ebenfalls von der Schweiz finanzierte Überlebenshilfe war aber nicht Teil dieser Strategie, sondern ging unabhängig davon übers IKRK und Uno-Agenturen vor allem an intern Vertriebene und zurückkehrende Flüchtlinge.
Der Bericht von 2018 machte zwei Initiativen aus, die diesen Graben zu überwinden suchten: ein Schulprogramm für Kinder in schweren Notlagen sowie Massnahmen, die es allen Hilfsorganisationen erleichtern sollten, in abgelegene Gebiete zu gelangen. Dazu gehörten eine Art afghanische Rega und ständig aktualisierte Reisehinweise.
Betrachtet man die Liste der aktuellen Schweizer Projekte in Afghanistan, finden sich sowohl Rega als auch Sicherheitshinweise wieder. Um Nothelferinnen und Entwicklungsleuten die Arbeit zu erleichtern, hat die Deza seit 2018 etwas mehr als 3 Millionen Franken investiert. Bis 2030 sollen weitere 11 Millionen folgen.
Ansonsten zeigt sich in Afghanistan das ganze Spektrum der Hilfe vor Ort:
Auf der Entwicklungsseite kümmert sich die Deza vor allem um ländliche Gegenden und die Bildung. Sie hilft armen Bauernfamilien, mehr zu produzieren und so besser gegen Hunger gewappnet zu sein; sie beauftragte drei internationale NGOs damit, die Angestellten des Bildungsministeriums in Kabul fortzubilden, damit diese die Qualität des Unterrichts im ganzen Land verbessern; und sie investierte in den Treuhandfonds für den Wiederaufbau Afghanistans, der die internationalen Hilfszahlungen an den afghanischen Staat koordinierte.
Auf der humanitären Seite findet sich neben einer im Jahr 2019 getätigten Transferzahlung ans IKRK über 7,5 Millionen Franken eine Initiative für Afghanen, die aus Iran oder Pakistan zurückkehrten. Die Internationale Organisation für Migration leistete ihnen in den städtischen Slums die nötigste Hilfe.
Zwar leuchtet ein, dass die Fäden für all diese Initiativen künftig in Bern an einer Stelle zusammenlaufen sollen. Nur: Seit die Taliban die Macht im Land übernommen haben, sind diese Projekte in höchstem Masse gefährdet.
Am offensichtlichsten ist das bei den Budgethilfen. Als sich die Deza vor sechs Jahren an dem Fonds für den Wiederaufbau Afghanistans zu beteiligen begann, wollte sie damit die «Schweizer Solidarität» ausdrücken mit einem Land, das eine schwierige Transformation durchmachte. Im damaligen Projektbeschrieb wird klar, dass sie auf die «reformorientierte und glaubwürdige» neue Regierung vertraute.
Diese Hoffnung hat sich längst zerschlagen. Die durch ausländische Zahlungen befeuerte Korruption wird inzwischen sogar dafür verantwortlich gemacht, dass die Taliban überhaupt wieder so stark werden konnten. So wird kritisiert, die internationale Hilfe habe in Afghanistan Staatsstrukturen aufgebaut und geduldet, die von den involvierten Politikern nie als Vehikel zur Regierungsführung verstanden wurden, sondern primär als Mittel zum Zweck der Selbstbereicherung.
Auch im Schweizer Parlament ist Korruption immer wieder Thema. Während die humanitäre Hilfe unumstritten ist, wird die Entwicklungszusammenarbeit bisweilen infrage gestellt. Man könnte deshalb vermuten, die Integration der beiden Bereiche bedeute eine schleichende Abwertung der langfristig ausgerichteten Arbeit. Dafür gibt es aber keine Indizien. Vielmehr betonen im Gespräch mit der Republik alle dazu befragten Personen, dass es diese zusammenhängende Planung von Nothilfe und Entwicklung brauche – gerade in langwierigen Krisen wie in Afghanistan.
2. Tunesien: Migration und Entwicklung verknüpfen
Mit Tunesien besteht die Art von Beziehung, welche die Schweiz auch anderswo erreichen möchte: eine Migrationspartnerschaft. Im Land an der südlichen Mittelmeerküste, wo der Arabische Frühling seine einzige, fragile Demokratie hervorbrachte und viele Leute noch immer ohne Job sind, ortet der Bundesrat das «erweiterte Umfeld» der Schweiz. Tausende besteigen hier die Boote in Richtung Europa. Im Corona-Jahr 2020 kamen sogar 60 Prozent dieser Passagiere aus Tunesien selbst.
Kein Wunder, hat der Maghrebstaat das Interesse von Ignazio Cassis geweckt. Schliesslich ist die Eindämmung der Migration neben der verstärkten Zusammenarbeit mit dem Privatsektor und einer besseren Verzahnung von Entwicklungszusammenarbeit und humanitärer Hilfe das Hauptziel seiner Strategie.
Ländervergleich
Indikator | Tunesien | Schweiz |
---|---|---|
Gesamtbevölkerung (Millionen) | 11,7 | 8,6 |
BNE pro Kopf (USD, kaufkraftbereinigt) | 10’414 | 69’394 |
Kindersterblichkeit (pro 1000 Kindern unter 5 Jahren) | 17,0 | 4,1 |
Jahre in der Schule (Mittelwert) | 7,2 | 13,4 |
Quelle: Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen. |
Mit dem Abschluss des Rückübernahmeabkommens im Jahr 2012 sicherte die Schweiz zu, jungen Tunesiern Aufenthaltsbewilligungen für Stages zu erteilen. Ein entsprechendes Programm läuft nach wie vor, kam aber nie richtig in die Gänge, weil sich nicht genügend Schweizer Firmen finden liessen, die Weiterbildungswillige aus Tunesien anstellen wollen. Aus Schweizer Sicht aber ist das Abkommen ein Erfolg, ermöglichte es doch beispielsweise im Dezember 2020, vier Tunesier aus dem Kanton Zürich mit einem Sonderflug zurückzuschaffen. Das Beispiel soll Schule machen: In den nächsten Jahren will der Bundesrat so viele Rückübernahmeabkommen abschliessen wie möglich.
Um das hochgesteckte Ziel zu erreichen, will Cassis die Entwicklungszusammenarbeit stärker mit der Migrationspolitik verknüpfen. Wann immer die Deza oder das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) in Zukunft mit einem Schwerpunktland verhandeln, sollen sie verlangen, dass die Regierung in einen Migrationsdialog einwilligt. Kooperationsprogramme sollen die Migration systematisch «berücksichtigen».
Allerdings wird die Entwicklungszusammenarbeit nicht direkt von der Bereitschaft zur Rückübernahme abgewiesener Asylbewerberinnen abhängig gemacht. Es wäre «übertrieben», heisst es in Cassis’ Strategie, die Verknüpfung so strikt zu verstehen und «die internationale Zusammenarbeit in einem Land einzustellen, weil sich die Schweizer Migrationspolitik dort schwierig gestaltet». Die Erfahrung habe gezeigt, dass man damit nicht die gewünschten Effekte erziele, weil «Drohungen häufig kontraproduktiv» wirkten, «eine solche Konditionalität negative politische Folgen für die Schweiz» haben könnte und das Mandat der internationalen Zusammenarbeit darin bestehe, «der von Armut und Krisen betroffenen Bevölkerung zu helfen».
Bei dieser Abwägung zeigt sich das Dilemma einer Aussenpolitik, die Interessen verfolgen will, ohne Werte zu vernachlässigen. Denn wenn es primär darum geht, ein Abkommen zur Rückübernahme zu schliessen, sind die tunesischen Regierungsbehörden die Adressaten; doch diese haben von einem erfolgreichen Entwicklungsprojekt womöglich eine andere Vorstellung als die Menschen, deren Not und Armut gelindert werden sollen.
In Tunesien versucht die Schweiz den Spagat mit unterschiedlichen Akteuren: Während die Deza in die demokratische Transition und die Prävention von gewalttätigem Extremismus investiert und im grossen Stil Wasserinfrastruktur in benachteiligten Gegenden baut, finanziert das Seco mehrere überregionale Programme, um die Investitionsbedingungen zu verbessern. Und auch das Staatssekretariat für Migration «hilft vor Ort», wie es auf seiner Website heisst. Konkret bedeutet das, dass Schweizer Behörden, finanziert vom Staatssekretariat für Migration, die tunesische Kriminalpolizei oder die Grenzverwaltung dabei unterstützen, die irreguläre Migration zu bekämpfen und die legale besser zu regeln.
Die Forderung, Entwicklungsprojekte vermehrt in den Dienst der Migrationspolitik zu stellen, ist nicht neu. Und sie ist auch nicht die Erfindung von Ignazio Cassis.
Und doch hat sich unter dem Tessiner FDP-Bundesrat etwas Grundlegendes geändert: Seit er das Amt des Aussenministers von seinem Parteikollegen Didier Burkhalter übernommen hat, setzt er die Deza unter Zugzwang, bei allen Programmen einen Link zur Migration aufzuzeigen. Wenn ein Projekt bloss Not und Armut lindert, hat es schlechte Karten. Alle Mitarbeiterinnen seines Departements sollten ständig eine Frage im Kopf haben, forderte Cassis Ende 2019 im «Sonntags-Blick»: «Was genau tun wir und welche Gegenleistung könnten wir dafür erhalten?»
Allerdings: Eine zu enge Verknüpfung der Entwicklungszusammenarbeit mit der Migrationspolitik birgt das Risiko, dass Gelder in Schnellschussprojekte fliessen. Davor jedenfalls warnte die Forschungsstelle des Europäischen Parlaments, wo genau die gleichen Diskussionen geführt werden wie in der Schweiz. Wissenschaftliche Studien hätten keine Anzeichen gefunden, dass Armutsbekämpfung die Migration kurz- und mittelfristig verringere. Im Gegenteil: Höhere Einkommen führten in armen Ländern sogar eher zu mehr Migration, weil es sich mehr Menschen leisten könnten, die nicht selten teure Reise in Angriff zu nehmen.
3. Bolivien: Weniger Länder, weg aus Lateinamerika
Aus Bolivien reisen fast nur Schweizer Touristen ein, die nach dem Besuch spektakulärer Salzwüsten, geheimnisvoller Inka-Ruinen und des höchstgelegenen Regierungssitzes der Welt wieder heimkehren. Asylgesuche hingegen gibt es so gut wie keine. Und weil das so ist, entschwindet das Land mit dem harten Klima, in dem die Deza seit 1968 aktiv ist, nun aus dem Fokus der Schweizer Entwicklungszusammenarbeit.
Ländervergleich
Indikator | Bolivien | Schweiz |
---|---|---|
Gesamtbevölkerung (Millionen) | 11,5 | 8,6 |
BNE pro Kopf (USD, kaufkraftbereinigt) | 8554 | 69’394 |
Kindersterblichkeit (pro 1000 Kindern unter 5 Jahren) | 26,8 | 4,1 |
Jahre in der Schule (Mittelwert) | 9,0 | 13,4 |
Quelle: Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen. |
Ab 2024 verzichtet die Deza auf jegliche bilateralen Projekte in weit entfernten Staaten, sofern keine für Europa relevanten Migrationsrouten hindurchlaufen. Die Anzahl der Schwerpunktländer reduziert sich damit von 46 auf 35.
Es sind vielfältige Projekte, die nun vor dem Ende stehen: ein technisches Bildungsprogramm für 35’000 junge Bolivianer, die nicht vom Rohstoffboom im Land profitieren konnten und in das die Schweiz 14 Millionen Franken investiert hat; ein drei Millionen teures Projekt, das Bauernbetrieben besseren Marktzugang ermöglichen und damit 50’000 Personen zu einem höheren Einkommen verhelfen soll; ein mehrstufiges Programm zum nachhaltigen Wassermanagement, in das während mehrerer Jahrzehnte gesamthaft mehr als 30 Millionen Franken gesteckt wurden.
Vor dem Parlament betonte Bundesrat Cassis, dass der Ausstieg bis 2024 sorgfältig erfolge und man in der nun anstehenden letzten Phase auf Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und gute Regierungsführung fokussiere, um die erreichten Resultate abzusichern. Damit dürfte in Bolivien vor allem ein Programm für die in den vergangenen Jahren unter Druck geratene Zivilgesellschaft gemeint sein: Organisationen können sich bei einem Wettbewerbsfonds bewerben und eigene Projekte verwirklichen, die es ihnen erlauben sollen, dem Staat und der Privatwirtschaft auf Augenhöhe zu begegnen; die Schweiz hat dafür knapp 5 Millionen Franken budgetiert.
Der Rückzug aus Lateinamerika ist der sichtbarste Teil von Cassis’ Reformpaket. Begründet wird er mit «einer Analyse, die den Bedarf im Vergleich zu anderen Weltregionen und die Interessen der Schweiz sowie den Mehrwert ihrer internationalen Zusammenarbeit ermittelte». Tatsächlich empfahl die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) der Schweiz, sich weniger zu verzetteln. Hilfswerke kritisierten in der Vernehmlassung allerdings, mit dem Rückzug würden Erfolge zunichtegemacht.
Das wirft die Frage auf, wie wirksam ein Engagement ist, das auch nach einem halben Jahrhundert noch notwendig sein und bei dem die Gefahr bestehen soll, dass alles in sich zusammenfällt, sobald sich das Geberland zurückzieht. Externe Evaluationen zeigten, dass die Schweiz zu einem würdigeren Leben der bolivianischen Bevölkerung beigetragen habe, schreibt die Deza dazu. Gemeinsam mit anderen Geberstaaten habe man «einen wichtigen Beitrag» dazu geleistet, extreme und moderate Armut im Land zu reduzieren, die Rechte und Chancen benachteiligter Bevölkerungsgruppen zu stärken und die Folgen des Klimawandels abzumildern. Tatsächlich hat sich das Pro-Kopf-Einkommen seit 1968 mehr als verdoppelt, und die Ungleichheit ist viel kleiner geworden.
Auch mit Blick auf ihr weltweites Engagement zieht die Schweiz ein positives Fazit. Dank stetigem Wirtschaftswachstum, Sozialprogrammen «und auch dank der öffentlichen Entwicklungshilfe» sei die extreme Armut rapide zurückgegangen. Die Schweiz misst ausserdem mit unabhängigen Evaluationen die Erfolgsquote ihrer Projekte, die insgesamt bei über 80 Prozent liege. Auch die Dauerhaftigkeit der Resultate habe sich verbessert, bleibe aber «eine Herausforderung».
Helfen könnte da, dass die Schweiz mit einem Fuss doch in Lateinamerika verbleibt: Die Deza-Programme, die Themen wie Klimawandel und Wasser regional oder weltweit behandeln, werden fortgeführt (in Bolivien hat die Deza so in den vergangenen zehn Jahren rund 8 Millionen Franken in den Schutz der Anden investiert); solch thematische Initiativen sollen sich wie die Friedensförderung und die humanitäre Hilfe zwar ebenfalls an den neuen Schwerpunktregionen orientieren, behalten aber ihr «universelles Mandat». Und auch das Staatssekretariat für Wirtschaft unterstützt einige globale Programme, die unter anderem in Bolivien laufen – zum Beispiel eine Vorzeigeinitiative für bessere Jobs.
Ohnehin gilt der von Cassis beschlossene «Rückzug» aus Lateinamerika für das von Wirtschaftsminister Guy Parmelin geführte Staatssekretariat für Wirtschaft nicht. Es wird die Entwicklungszusammenarbeit in Lateinamerika weiterführen. Nicht in Bolivien, sondern in Kolumbien und Peru, wo die Schweiz mit dem Goldhandel handfestere wirtschaftspolitische Interessen hat.
Da sind sie wieder: die eigenen Interessen, die in der neu ausgerichteten Entwicklungspolitik der Schweiz so prominent vorkommen.
Epilog: Wirksamere Deza der Zukunft?
Ein Vorwurf, der ins Herz der staatlichen Entwicklungszusammenarbeit zielt, lautet: Sie sei ineffizient, wirkungslos oder sogar kontraproduktiv, weil die Anreize verkehrt herum lägen. Ein Geberland müsse primär den Mittelabfluss gewährleisten, um das heimische Publikum und internationale Versprechen zu bedienen; was sich vor Ort ändert, sei sekundär. Die Kritik nährt sich an Projektleichen wie halb fertigen Wohnbauten, nicht verteilter Babynahrung und verfallenen Sanitäranlagen.
Bundesrat Cassis hat diese Fundamentalkritik aufgenommen. Seine aktuelle Strategie verpflichtet die Deza, sich bei der Wirkungsmessung stärker auf wissenschaftliche Forschung zu stützen. Dabei stehen sogenannte «evidenzbasierte Ansätze» im Zentrum. Das sind Studien, die nicht nur die Resultate eines Projekts betrachten, sondern diese auch mit einer Kontrollgruppe vergleichen, die nicht von den Schweizer Geldern profitiert hat. So lässt sich eher herausfinden, wie das eigene Engagement tatsächlich wirkt.
Zwei im Jahr 2020 erstmals publizierte Wirksamkeitsstudien stellten fest, dass Bildungs- und Gesundheitsprojekte in Westafrika den Kindern und Jugendlichen messbar halfen. Eine andere Methode basiert auf dem Prinzip, für erreichte Resultate zu bezahlen. Das funktioniert zum Beispiel in Zusammenarbeit mit Unternehmen, denen die Deza eine Prämie in Aussicht stellt, wenn sie wichtige Dienstleistungen auch für ärmere Kundinnen entwickeln und erfolgreich anbieten.
Trotz solch aufwendiger Initiativen ist unklar, welchen Stellenwert Bundesrat Cassis der Deza in Zukunft einräumen will. Die engere Anbindung an die Diplomatie, die vor Jahren begann, schreitet weiter voran. Seit Januar entscheidet die Personalabteilung des Aussendepartements darüber, welche Deza-Leute wohin versetzt werden. Nimmt man die 10-Jahre-Vision als Anhaltspunkt, die eine Gruppe unter der Leitung von Cassis’ Generalsekretär Markus Seiler erarbeitet hat, wird die internationale Zusammenarbeit an Unabhängigkeit einbüssen – und zu einem Instrument im Dienst der Aussenpolitik, das sich nach innenpolitischen Präferenzen richtet.
In der Neuausrichtung, die Bundesrat Cassis in der Entwicklungszusammenarbeit angestossen hat, sind zwei Kräfte erkennbar:
Wirksamkeit. Um vor Ort mehr zu erreichen, will der Bund enger mit der Privatwirtschaft zusammenarbeiten, besser zwischen humanitärer Hilfe und Entwicklungsprojekten koordinieren, auf weniger Länder fokussieren und sich bei der Wirkungsmessung auf die Wissenschaft stützen. Alle diese Bestrebungen basieren auf Evaluationen und Erkenntnissen vergangener Jahre. Man kann von einem Reformstau sprechen, der jetzt angegangen wird.
Eigeninteressen. Der Bund verknüpft die internationale Zusammenarbeit mit innenpolitischen Zielen, insbesondere der Eindämmung der Migration. Dies geschieht nicht wegen wissenschaftlicher Erkenntnisse, sondern weil es das Parlament so will.
Es kann sein, dass die internationale Zusammenarbeit im Inland an Popularität gewinnt, wenn Cassis und seine Vertrauten andauernd betonen, dass sich die Schweiz damit eigentlich selbst hilft.
Doch geht damit auch die Gefahr einher, dass der Bund in Projekte investiert, die sich zwar gut verkaufen lassen, vor Ort aber wenig bewirken. Vielleicht würde es sich lohnen, auch bei den Werten wieder eine etwas ambitioniertere Vision zu formulieren.
Ariane Lüthi studierte in Genf internationale Beziehungen. Von 2010 bis 2015 arbeitete sie als Menschenrechtsspezialistin bei der Zementfirma Holcim, bevor sie in den diplomatischen Dienst wechselte und für die Schweiz in Teheran und in der Sicherheitspolitik tätig war. Heute arbeitet sie als Journalistin in Zürich. Für die Republik schrieb sie im Herbst 2020 einen dreiteiligen Report zur Konzernverantwortungsinitiative und führte im Sommer 2021 ein Interview mit einem jungen, desillusionierten Iraner.
- Mitglied werden
- Angebote
- Gutschein einlösen
- Anmelden
Republik AG
Sihlhallenstrasse 1
8004 Zürich
Schweiz