Die grosse Liebe ist manchmal die grösste Herausforderung.

Liebeslügen

Der junge, ambitionierte Journalist Stephen Glass erfindet Storys, fliegt auf und verliert alles. Er schwört sich, ab jetzt stets die Wahrheit zu sagen – bis er sein Gelübde brechen muss.

Von Bill Adair (Text), Stephan Pörtner (Übersetzung) und Kwennie Cheng (Illustration), 25.12.2021

Eine Warnung: Dieser Beitrag behandelt auch das Thema Suizid. Eine Box mit Anlaufstellen finden Sie am Ende des Textes.

Ich mag keine Lügner. Zwanzig Jahre lang war ich Zeitungs­reporter und dermassen genervt von verlogenen Politikern, dass ich die Factchecking-Website «PolitiFact» gegründet habe. Trotzdem bin ich von Lügnerinnen fasziniert, so wie ein Detektiv von Meister­verbrechern fasziniert ist.

Als ich 2013 Professor für Journalismus an der Duke University wurde, sollte ich eine Ethik­vorlesung abhalten und beschloss, ein Segment über Journalisten einzubauen, die Geschichten erfunden oder geklaut hatten.

Mir fiel auf, dass es wenig akademische Forschung dazu gab und kaum weiter gehende Bericht­erstattung. Niemand scheint sich dafür zu interessieren, was aus den schlimmsten Betrügern des Journalismus wird. Die meisten werden gefeuert und verschwinden für immer. Sie sprechen nur selten über ihre Vergehen und erhalten kaum Gelegenheit, sich zu erklären.

Ich beschäftigte mich mit der Handvoll neuer Fälle, die jedes Jahr auffliegen. Und mit den legendär gewordenen: Janet Cooke, die Pulitzerpreis­trägerin der «Washington Post», die eine Geschichte über einen achtjährigen Heroin­abhängigen fabrizierte; Jayson Blair, der junge «New York Times»-Reporter, der Geschichten erfand und die Arbeit anderer Autorinnen abkupferte; Jack Kelley, der Star von «USA Today», der seine Geschichten mit frei erfundenen Details ausschmückte. Und ich nahm Kontakt zu Stephen Glass auf.

Glass machte 1998 Schlagzeilen, als er von der «New Republic» gefeuert wurde. Er hatte für diese und andere Zeitschriften Personen, Szenen und ganze Artikel erfunden. Die Geschichte seines Niedergangs wurde der Stoff für den Hollywoodfilm «Shattered Glass», der zwar weitgehend der Wahr­heit entspricht, aber auch verfälschte Szenen über einen Fälscher enthält. So richtig berühmt-berüchtigt wurde Glass 2003, als der Film in die Kinos kam und «The Fabulist» erschien, seine fiktionalisierte Darstellung seines Falls, die jedoch wenig Anklang fand. («Pauschale Beschreibungen von Personen und Ereignissen», urteilte Chris Lehmann in der «Washington Post».)

Als ich mich mit Glass beschäftigte, stellte ich fest, dass er sich seit damals kaum mehr öffentlich geäussert hatte. Er war nach Los Angeles gezogen und arbeitete in einer auf Personen­schäden spezialisierten Anwalts­kanzlei. 2013 geriet er noch einmal in die Schlag­zeilen, als er sich um die Zulassung als Rechts­anwalt in Kalifornien bemühte, sein Antrag jedoch abgelehnt wurde. Die Anwalts­kammer wollte keinen Lügner in ihrer Mitte.

Es vergingen ein paar Jahre, ehe es mir gelang, Glass zu kontaktieren. Im Frühjahr 2016 erklärte er sich bereit, an die Duke University zu kommen, um mit den Studierenden meiner Ethik­vorlesung zu sprechen.

Zum ersten Mal begegnete ich ihm bei einem Frühstück in einem Café in der Nähe des Campus. Er bestand darauf, selber für sein Essen zu bezahlen. Auch seinen Flug und sein Hotel hatte er selber bezahlt. Er wolle in keiner Weise von seinen Lügen profitieren, erklärte er. Ich hatte alte Fotos von Glass in den Zwanzigern gesehen und war überrascht, wie er jetzt in den Vierzigern aussah: hohe Stirn, dünnes, dunkles Haar und grösser, als ich erwartet hatte. (Habe ich wirklich geglaubt, Fälscher seien klein?)

Ich hatte meinen Studentinnen und Studenten aufgetragen, sich «Shattered Glass» anzuschauen, und brachte den Protagonisten als Überraschungs­gast in die Vorlesung. «Ich möchte euch Stephen Glass vorstellen», sagte ich, als wir herein­kamen. Und dann beantwortete er eine Stunde lang ihre Fragen.

Er sprach mit den Studierenden über die Entschädigungen, die er kurz zuvor an die Magazine bezahlt hatte, die seine Artikel veröffentlicht hatten. Rund 200’000 Dollar, die er als Löhne und Honorare für seine Artikel verdient hatte, zahlte er zurück, zuzüglich Zinsen. «Das hätte ich längst tun sollen», sagte er vor der Klasse. «Ich habe das Geld genommen und Lügen geschrieben.» (Er war nicht verpflichtet, das Geld zurück­zuzahlen, der oberste Gerichtshof von Kalifornien hatte sich jedoch dafür ausgesprochen.)

Glass kam nicht besonders gut an. Die Studierenden fanden zwar, dass es beeindruckend gewesen sei, ihn zu treffen, und hiessen es gut, dass er die Zahlungen erwähnt hatte, doch er hinterliess den Eindruck eines intro­spektiven und kleinlauten Menschen.

An diesem Tag erzählte mir Glass von seiner Frau, Julie Hilden, die an der früh einsetzenden familiären Alzheimer-Krankheit litt. Er verschwieg mir, dass er sich auf eine neue Lüge eingelassen hatte, jene, die er später als «die grösste aller Lügen» bezeichnen würde.

Aufgeflogen

Glass wollte einfach nur geliebt werden. Das nannte er als Grund, weshalb er in den späten 1990er-Jahren aus mehr als vierzig Artikeln ein komplexes Fälschungs­geflecht aufgebaut hatte. Das Ausmass seines Betrugs ist auch zwanzig Jahre später noch erstaunlich. Er baute seine Geschichten auf Lügen auf und log dann, um diese zu vertuschen.

Stephen Glass wuchs in einem Vorort von Chicago auf. Seine Familie drängte ihn dazu, Arzt zu werden. Doch als er an der University of Pennsylvania anfing, war er ein miserabler Medizin­student. Viel besser gefiel es ihm, für die Studenten­zeitung zu arbeiten. Nach dem Studium bekam er einen Job bei der «New Republic», einer einfluss­reichen links­liberalen Zeitschrift.

Seine ersten Artikel basierten auf Fakten, doch je mehr er schrieb, desto mehr Druck verspürte er, erfolgreich zu sein. Er begann Dinge zu erfinden – baute hier und da ein gefälschtes Zitat ein –, und bald enthielten seine Artikel fiktive Personen und Dialoge, die zu gut waren, um wahr zu sein. Er berichtete von der «Conservative Political Action Conference» und erfand dabei Ausschweifungen von republikanischen Studenten, die jammerten, dass sie ohne Reagan verloren seien, die kifften und vorhatten, eine junge Frau in ihr Hotel­zimmer zu locken, um sie zu erniedrigen.

Er dachte sich eine Hacker-Konferenz in Bethesda, Maryland, aus und tat alles, damit ihm seine Redaktion nicht auf die Schliche kam. Er fabrizierte Notizen, setzte eine falsche Website auf und liess gefälschte Visiten­karten drucken. Sein Bruder musste sich gar als Chef eines Unternehmens im Silicon Valley ausgeben.

Sein Betrug flog auf, als Adam Penenberg, ein Reporter bei «Forbes Digital», den Hacker­artikel verdächtig fand und anfing, Fragen zu stellen. Dies führte dazu, dass die Redaktoren der «New Republic», die zuvor Fragen zu Glass’ Glaubwürdigkeit abgeblockt hatten, seine Arbeit genauer unter die Lupe nahmen. Im Mai 1998 wurde er gefeuert.

Die schlechte Tochter

Glass und seine künftige Frau Julie Hilden lernten sich in dem Jahr kennen, als er am Tiefpunkt war. Er hatte einen Termin bei einem Anwalt der renommierten Kanzlei Williams & Connolly in Washington. Es ging darum, die möglichen rechtlichen Konsequenzen seiner Fälschungen zu besprechen. Er sass zusammen­gesunken in einem Stuhl, als Hilden, eine junge Anwältin, ihn erkannte. Sie hatte ihn in den Nachrichten gesehen. Später sagte sie seinem Anwalt, Glass sei der deprimierteste Mensch, den sie je gesehen habe.

Julie Hildens Karriere war beeindruckend. Sie hatte in Harvard und an der Yale Law School studiert und war Referentin bei Stephen Breyer, als dieser Berufungs­richter war. Jason Furman, ein Freund, der später der oberste Wirtschafts­berater von Präsident Barack Obama wurde, erinnert sich an eine kluge, gelegentlich leicht verschrobene Frau, die gerne las – Literatur, Science-Fiction, Erotik und manchmal auch puren Schund. Sie hatte «Titanic» viermal im Kino gesehen, so sehr liebte sie den Film.

Ihr Familien­leben war turbulent. Als Hilden ein Teenager war, konnte ihre Mutter vor Wut explodieren. Sie erkrankte schon früh an der vererblichen familiären Alzheimer-Krankheit. Hilden, verbittert über ihre schwierige Kindheit, liess ihre Mutter im Stich, während sich ihre Krankheit bis zu ihrem Tod verschlimmerte.

Hilden veröffentlichte «The Bad Daughter» (die schlechte Tochter), ein erschütterndes Buch darüber, wie sie ihr Leben als junge Anwältin in New York führte und die Bedürfnisse ihrer Mutter ignorierte. Sie beschreibt, wie sie ihren Freund betrog und dies mit Lügen vertuschte, wie sie über ihre Mutter log. Es war ein Thema, das viel später in ihrer Beziehung zu Glass wieder auftauchen sollte: die Herausforderung, ehrlich zu sein.

In der Kanzlei konzentrierte sich Hilden auf medien­rechtliche Fälle und arbeitete an Zivil­prozessen für den ehemaligen Präsidenten Bill Clinton. Sie war nicht in Glass’ Fall involviert und sah ihn erst zwei Jahre später wieder, als eine gemeinsame Freundin ein Treffen vorschlug.

Das erste Gespräch zwischen Glass und Hilden wurde ein sechs­stündiger Telefon­marathon – beide mussten während­dessen heimlich auf die Toilette. Sie hatte die Kanzlei verlassen, um für «FindLaw», eine frühe juristische Website, Kolumnen über Fälle zu schreiben, die den ersten Verfassungs­zusatz betrafen. Sie wohnte in New York, Glass noch immer in Washington, und so begannen sie eine Fernbeziehung.

Ein Neuanfang

Zu Beginn waren Hildens Freundinnen besorgt. Melanie Thernstrom, eine Journalistin, die eng mit Hilden befreundet war, weiss noch, dass sie fragte: «Wie bitte? Du gehst jetzt mit den Kriminellen aus, die in der Kanzlei auftauchen?» Mit jedem anderen, sagte sie ihrer Freundin, geh mit irgend­jemandem aus, nur nicht mit diesem Typen. Doch Hilden war verliebt, und ihre Freunde erwärmten sich für Glass aufgrund seiner Grosszügigkeit und weil er sie unterstützte, als sie die angesehene Anwalts­kanzlei verliess, um sich ihrer Leidenschaft, dem Schreiben, zu widmen.

Als sie einmal krank wurde, reiste Glass nach New York und kümmerte sich tagelang um sie. Er beschreibt ihre lange Beziehung als ein nie endendes Gespräch. Er stand als Erster auf, holte ihr einen Kaffee und sie unterhielten sich über Filme, Politik, Literatur, Psycho­analyse oder simplen Klatsch.

Glass versuchte, sein Leben wieder auf die Reihe zu kriegen. Nachdem er von der «New Republic» gefeuert worden war, verfiel er in eine schwere Depression und ging bis zu viermal pro Woche zur Therapie. Schon vor seiner Entlassung hatte er Abend­vorlesungen in Rechts­wissenschaften an der Georgetown University belegt und musste feststellen, dass ihn viele Leute hassten, obwohl sie ihn nicht kannten. Er wurde angefragt, für die Zeitschrift der Fakultät zu schreiben. Doch bevor er annehmen konnte, setzten sich die Studierenden dafür ein, dass das Angebot zurück­gezogen wurde.

Auf Empfehlung seiner Therapeutin schrieb Glass Dutzende von Entschuldigungs­briefen an Menschen, die von seinen Fälschungen betroffen waren – Verlegerinnen, Redaktoren, Autorinnen –, und an die Menschen, die Gegenstand seiner erfundenen Artikel waren (einschliesslich Monica Lewinsky). Das Schreiben der Entschuldigungen öffnete ihm die Augen. Er begriff, dass er sich diesen Leuten gegenüber wie ein Arschloch verhalten hatte und dass seine Lügen viele von ihnen zutiefst getroffen hatten.

«Ich schreibe dir, um mich dafür zu entschuldigen, dass ich dich belogen, betrogen und getäuscht habe. Ich habe versucht, dich zu manipulieren, und habe das Vertrauen, das du mir entgegen­gebracht hast, aufs Schändlichste missbraucht», schrieb er an Chuck Lane, den «New Republic»-Herausgeber. «Ich habe dich auf so viele Arten verletzt, ich weiss gar nicht, wo beginnen.»

Während seiner Zeit in Georgetown bewarb sich Glass auf Sommer-Assistenz­stellen, die in der Regel zu einem Arbeits­angebot bei Studien­abschluss führen. Er legte Wert darauf, bei den Bewerbungs­gesprächen klarzustellen, was zu seiner Entlassung bei der «New Republic» geführt hatte. Die renommierten Kanzleien wollten ihn nicht, am Schluss blieb nur eine in Greenbelt, Maryland, übrig, die auf Personen­schäden spezialisiert war.

Hilden half ihm, diese schwierige Zeit zu überstehen, so wie er ihr geholfen hatte, als sie krank war. Sie passten perfekt zusammen – beide waren liebevoll, fürsorglich und leicht neurotisch.

In ihrem Buch, das erschienen war, bevor sie Glass kennen­lernte, beschreibt Hilden ein normales Gehirn als «etwas Schönes: wie ein anmutiger Weiden­baum», während ein Alzheimer-Gehirn «gekennzeichnet ist von verklumpten Ablagerungen und Neuronen­knäueln».

Dann deutet sie ihren eigenen Tod an:

In jeder Zelle meines Körpers liegt eine genetische Information, die bestimmt, ob mein Gehirn, das zur ersten Sorte gehörte, wenn ich fünfzig oder fünfundfünfzig bin, unaufhaltsam zu einem der zweiten Sorte wird. Die Information ist festgeschrieben und doch unergründlich, immanent und doch unsichtbar. Sie bestimmt, ob mein Gehirn so sterben wird wie das meiner Mutter, ob es denselben Zerfalls­prozess durchmachen wird.

Aus: «The Bad Daughter» von Julie Hilden.

Zweite Chancen

Es waren drei Personen, die Glass nach seiner Entlassung die Chance gaben, sich zu rehabilitieren.

Die erste war Sue Bloch, Professorin für Verfassungs­recht an der George­town University. Sie nahm Kontakt mit ihm auf und fragte ihn, ob er recherchieren könne, ohne Dinge zu erfinden. Er versicherte ihr, dazu in der Lage zu sein. «Ich glaube an zweite Chancen», sagte sie mir. Sie merkte, dass Glass ausgezeichnet recherchierte, und stellte ihn Frank Burgess vor, einem Richter am Obersten Gerichtshof von Washington.

Die zweite Person, Supreme Court Judge Burgess, ein ehemaliger Freiwilliger des Friedens­korps und Pflicht­verteidiger, war als ruhiger, mitfühlender Richter bekannt. Er stellte Glass als Rechts­referent ein, der ihm bei der Abfassung von Urteilen und anderen juristischen Arbeiten helfen sollte. Burgess brachte ihm bei, wie wichtig es ist, klar und deutlich zu schreiben, damit alle es verstehen können, und wie man den Leuten die beste Chance gibt, ihre Argumente vorzubringen.

Und schliesslich Paul Zuckerman, Senior­partner einer auf Personen­schäden spezialisierten Kanzlei in West Hollywood, Kalifornien. Er ging 2004 die «typischen Nullacht­fünfzehn-Lebensläufe» durch. Zuckerman suchte neue Mitarbeitende und war überrascht, dass einer der Bewerber in George­town Jura mit Auszeichnung abgeschlossen hatte. Er löschte die E-Mail, überlegte einen Moment und holte sie wieder aus dem Papierkorb.

Beim Bewerbungs­gespräch empfand er Glass als «einen zerstörten Menschen, der vor Scham und Reue nur so triefte». «Doch», so sagt er, «nach drei Minuten war mir klar, dass ich es mit jemandem zu tun hatte, dem ich trauen konnte.»

Zuckerman, der vier Jahre zuvor selber ein Drogen­problem überwunden hatte, sagte zu Glass, dass die Entlarvung als Serien­fälscher «das Beste ist, was Ihnen passieren konnte. Nun, da Sie auf die Schnauze gefallen sind, können Sie ein nützliches Mitglied der Gesellschaft werden.»

Der Wahrheit verpflichtet

Ein Interview mit Glass kann anstrengend sein, weil er dermassen darauf bedacht ist, dass jedes Detail stimmt. Er hält mitten im Satz inne, um über den Monat oder den Tag nachzudenken, an dem etwas passiert ist. War das Mittag­essen Ende 2014 oder Anfang 2015? Er wird es überprüfen.

Glass weiss um seinen Ruf als Lügner. Er hat Glaubwürdigkeit für ein ganzes Leben verspielt.

Beim Schreiben dieser Geschichte wollte ich unbedingt mit seinen Mitarbeitenden, Freundinnen und Freunden sprechen, um alle Einzel­heiten zu prüfen und sicherzustellen, dass er nicht mehr einfach das Parade­beispiel für schlechten Journalismus ist. Dabei stellte sich heraus, dass er mir die Wahrheit über sein Leben und seine Liebe zu Hilden erzählt hatte. Ich erfuhr überraschende Details und hörte aufschluss­reiche Anekdoten.

Peter Blake, der für das Fernsehen schreibt, erzählte mir, dass er Glass vor etwa fünfzehn Jahren auf einem Hochzeits­empfang getroffen hatte. Der Small Talk mündete in die üblichen Fragen darüber, was sie beruflich machten. Glass erzählte, er arbeite für eine auf Personen­schäden spezialisierte Kanzlei, fügte aber rasch hinzu, dass er, bevor er nach L.A. zog, in «eine schlimme Sache» verwickelt war.

Er legte ein umfassendes Geständnis über seine Lügen und seine Entlassung bei der Zeitschrift ab – auf einem Hochzeits­empfang, einem Mann gegenüber, den er gerade erst getroffen hatte. Glass’ Kollegen in der Anwalts­kanzlei erzählten, dass es sie nervt, wie er potenziellen Mandantinnen die Geschichte immer wieder und in allen Einzelheiten erzählt. Glass aber meint, seine Ehrlichkeit zahle sich aus: Seine Mandanten würden ihm Dinge enthüllen, die sie sonst niemandem erzählen würden.

Glass und ich haben ausführlich über seine neue Haltung zur Unehrlichkeit gesprochen. Er empfahl mir das Buch «Lying» («Lügen – Kurze Beine, lange Folgen») von Sam Harris, ein Büchlein mit dem absolutistischen Ansatz: Lüge nicht! Glass sagt, dass er nach Jahren in Therapie und langen Diskussionen über das Lügen erkannt habe, dass Lügen Gift sind für die Belogenen, «weil es sie ihrer Handlungs­fähigkeit beraubt, das heisst ihrer Fähigkeit, selbst zu urteilen und Entscheidungen zu treffen».

Für ihn ist Lügen ein Akt der Arroganz, bei dem die Lügenden beschlossen haben, die Wahrheit zurück­zuhalten, um ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen. Er gibt zu, noch gelegentlich zu lügen. Beispiels­weise wenn er jemandem sagt, dass sie sich treffen sollten, obwohl er weiss, dass er das nicht vorhat. Er sagt aber auch, dass er es oft bereut, wenn er gelogen hat. «Wenn das passiert, versuche ich meist, die Situation wieder gerade­zubiegen.»

Glass wusste, dass er nach seiner Entlassung bei der «New Republic» nie wieder in den Journalismus zurück­kehren konnte, doch er versichert, dass ihm die Arbeit mit dem Personen­schaden­recht Freude bereitet. Kolleginnen und Freunde bestätigen, dass er es mit der Wahrheit sehr genau nimmt. «Sein ganzes Leben ist darauf ausgerichtet, ein ehrlicher Mensch zu sein», sagt Melanie Thernstrom, Hildens Freundin, die ihn seit zwanzig Jahren kennt. «Der Gedanke, zu flunkern oder fünf gerade sein zu lassen, etwas, das viele Menschen gewohnheits­mässig tun, kommt für Stephen absolut nicht infrage. Deshalb kann man alles, was er sagt, für bare Münze nehmen.»

Der erste Test

Als ihre Mutter im Alter von 53 Jahren starb, fragte sich Hilden, wie gross die Wahrscheinlichkeit sei, selber an Alzheimer zu erkranken. Ihre Ärztin meinte, die Chancen, dass sie das krankheits­verursachende Gen geerbt habe, stünden 50:50. Zu diesem Zeitpunkt, Mitte der 1990er-Jahre, gab es jedoch noch keinen Test, mit dem sich das Gen nachweisen liess. Die Ärztin erklärte ihr, dass der Test erst in etwa fünf Jahren zur Verfügung stehen würde, und warnte, sie solle sich gut überlegen, ob sie ihn machen wolle. Da es keine Behandlung gibt, würde ein positives Ergebnis ihrem Leben ein Verfalls­datum geben, es könnte Hoffnungs­losigkeit aufkommen.

Hilden wollte trotzdem wissen, ob sie das Gen hatte. Weder wollte sie einen Partner damit belasten, sich um sie kümmern zu müssen, noch wollte sie das Gen an etwaige Kinder weitergeben.

In ihrem Buch «The Bad Daughter» beschreibt Hilden eine dramatische Szene, in der sie sich vorstellt, was passieren würde, wenn sie endlich getestet wird. «Ich träume davon, es zu wissen», schrieb sie und schildert, wie sie den Umschlag aufreissen und ihre Zukunft erfahren würde. «Ich habe die Information – die Information über mein Schicksal, meine Zukunft.» Der Umschlag, so schrieb sie, könne ein Todes­urteil enthalten, «eines, das vor meiner Geburt verfasst wurde, eines, das ich nie lesen sollte».

Im Jahr 2002 konnte sie den Test endlich machen. Glass war bei ihr, als sie den Umschlag öffnete und die Nachricht las: negativ. Sie hatte das Gen für die familiäre Alzheimer-Krankheit nicht. In dem Bericht stand jedoch, dass die Krankheit immer noch «aufgrund anderer Ursachen» ausbrechen könnte. «Ich kann es also immer noch bekommen», sagte sie.

Glass und Hilden beschlossen, New York zu verlassen und nach Los Angeles zu ziehen, wo sie einen Neuanfang machen konnten. Im Gegensatz zu den medien­besessenen Einwohnerinnen von New York und Washington interessierten sich die Menschen in L.A. nicht für einen Mann, der für ein Magazin Geschichten erfunden hatte, das sie ohnehin nicht kannten. Hilden konnte weiterhin ihre juristischen Kolumnen schreiben, und Glass suchte einen Job in einer Anwalts­kanzlei.

Wie in New York bauten er und Hilden einen Freundes­kreis auf. Glass ging weiterhin jede Woche zur Therapie und versuchte sich sogar als Stand-up-Comedian. Während eines seiner Auftritte rief ein Mann im Publikum «Lügner!» – eine seltsame Beleidigung für einen Comedian, aber auch eine Erinnerung daran, dass er seinem Ruf nicht entkam, nicht einmal, wenn er Witze erzählte.

Eine neue Berufung

Die Anwalts­kanzlei Carpenter & Zuckerman («Anwälte, die sich bei Personen­schäden für Sie einsetzen»), bei der Glass arbeitet, ist in einem bescheidenen Backstein­gebäude in Beverly Hills untergebracht. Abgesehen von einer Garage, in der die Partner alte Sport­wagen eingestellt haben und sich zu Drinks treffen, gibt es nirgends elegante Möbel oder teure Kunst­werke wie in den renommierten Kanzleien, in denen viele von Glass’ Studien­kolleginnen inzwischen arbeiten. In den Büros und auf den Fluren stapeln sich Kartons mit Akten, die dem Ort einen provisorischen Charakter verleihen, etwa wie das Haupt­quartier einer Wahl­kampagne.

«Wir haben über 2,0 Milliarden Dollar für Personen­schadens­opfer gewonnen!», steht auf der Website der Firma, die eine Reihe von Siegen aufzählt: 10,25 Millionen Dollar für einen Motorrad­fahrer, dem ein Bein amputiert werden musste, weil eine Auto­fahrerin eine rote Ampel überfahren hatte; 8,3 Millionen Dollar für einen Navy-Veteranen, der eine Penis­verletzung erlitten hatte; 6,9 Millionen Dollar für einen College-Football-Spieler mit einer traumatischen Hirnverletzung.

Glass arbeitet wie ein Verrückter, meist auch an den Wochen­enden. Nach einem gemeinsamen Abend­essen kehrte er um 21.30 Uhr ins Büro zurück, um weiterzuarbeiten. Er erklärte mir, dass er seine Arbeit liebt und das Gefühl hat, wirklich etwas zu tun, was Menschen in Not hilft. Er geniesst die Heraus­forderung, komplexe Dinge zu verstehen, ob es nun um rutsch­feste Boden­beläge in Lebensmittel­geschäften geht oder darum, was passiert, wenn ein Körper sechs Meter in die Tiefe fällt.

Er kennt das menschliche Leid, das Unfälle verursachen. Seine Mandanten sind in der Regel arm und «Menschen, die von der Gesellschaft ausgegrenzt wurden». Eine hohe Schaden­ersatz­zahlung durch das Gericht kann sie nicht nur für ihren Verlust entschädigen, sie kann ihr Leben verändern. Auch die intellektuelle Heraus­forderung seiner Arbeit gefällt ihm – die Befragung von Zeuginnen und Sach­verständigen, das Destillieren der Fakten und Entwerfen einer Geschichte, die Geschworene überzeugt.

Trotz seines Engagements bei der Arbeit wurde Glass nicht zum Partner ernannt. Auf der Website der Kanzlei sind vier Partner aufgeführt plus Glass, der als Bereichs­leiter für Sonder­projekte aufgeführt ist. Unter seinem Namen steht: «kein Anwalt». Diese Anmerkung findet sich überall, wo Glass namentlich erwähnt wird, selbst auf seiner Visitenkarte.

Vor Gericht

Glass hat versucht, diese Anmerkung loszuwerden. Im Jahr 2000 bestand er die New Yorker Anwalts­prüfung und beantragte zwei Jahre später die Zulassung. Als klar wurde, dass er diese nicht bekommen würde, zog er den Antrag zurück. Das kalifornische Examen legte er 2006 ab und bewarb sich um «die Feststellung des moralischen Charakters», eine Standard­anforderung für die Zulassung als Anwalt.

Ein früheres Fehlverhalten wie das seine ist nicht zwingend ein Ausschluss­kriterium. Die Person, die den Antrag stellt, muss aber den überzeugenden Beweis ihrer Besserung und Rehabilitation erbringen, was in der Regel eine lange Zeit vorbildlichen Verhaltens bedeutet, oft mit «angemessener Wiedergut­machung» gegenüber den Personen oder Einrichtungen, die geschädigt wurden.

Es ist faszinierend, seine Akte zu lesen. Der Fall hing teilweise von Detail­fragen ab. Etwa der, ob er der Anwalts­kammer die falsche Anzahl von fabrizierten Artikeln genannt hatte. Oder ob er tatsächlich mit allen betroffenen Zeitschriften «zusammen­gearbeitet» hatte, um die gefälschten Inhalte zu finden. In Wirklichkeit ging es um Wiedergut­machung und Vertrauen.

Auf der einen Seite standen seine Freunde, Uni-Professorinnen und ehemalige Mitarbeitende, die aussagten, dass er aus den Vorfällen gelernt und sich geändert habe. «Zweite Chancen sind typisch amerikanische Geschichten», heisst es in einem von seinem Anwalt verfassten Schreiben. «Dieser Fall ist so eine Geschichte – die Geschichte einer Wiedergut­machung.» Auf der anderen Seite, gestützt auf die Aussage des «New Republic»-Herausgebers Chuck Lane (der sagte, Glass sei «in eklatanter Weise unfähig, ehrlichen Journalismus zu betreiben»), wurde die Ansicht vertreten, Glass sei ein notorischer Lügner, dem man keine Verantwortung übertragen könne, auf keinen Fall.

Der Fall brandete im kalifornischen Zulassungs­prozess wie ein Tennis­match hin und her. Mal punkteten die Puristen, dann wieder die Wiedergut­macherinnen. Das Ganze gipfelte in einer denkwürdigen zehntägigen Anhörung, in der Zeugen auf beiden Seiten über Glass’ Charakter aussagten. Er nannte es eine Verhandlung darüber, «ob ich ein guter oder ein schlechter Mensch bin».

Im Jahr 2014 entschied der oberste Gerichts­hof von Kalifornien endlich über sein Schicksal. Von der ersten Zeile an («Stephen Randall Glass machte sich einen Namen als unehrlicher Journalist …») strotzte die Stellung­nahme vor Abscheu. Glass wurde darin als «Jura­student an der Abend­schule» herab­gewürdigt. Vieles von dem, was er seit 1998 getan hatte, wurde als selbst­süchtig beurteilt.

Die Richter waren verärgert darüber, dass er bei seiner Bewerbung um das Anwalts­patent in New York nicht die korrekte Anzahl gefälschter Artikel angegeben hatte, dass er den Zeitschriften seine Honorare und Gehälter nicht zurück­gezahlt hatte und dass er gesagt hatte, er habe «alle drei» («New Republic», «George» und «Harper’s») dabei unterstützt, gefälschte Inhalte zu identifizieren, was Chuck Lane in Abrede stellte. Nach Ansicht des Gerichts log der Lügner noch immer.

Glass war am Boden zerstört. Er ging nach Hause und verkroch sich im Bett. Nachdem er einen Tag lang Trübsal geblasen hatte, wurde ihm klar, dass dies das Leben war, das er sich geschaffen hatte, und dass er das Beste daraus machen musste.

Bei einem Mittag­essen zu dritt in Beverly Hills, im Sommer 2019, sagte Zuckerman zu Glass, dass die Entscheidung des obersten Gerichts­hofs ein Wende­punkt gewesen sei. «Als du dich damit abgefunden hast, konntest du dir selbst verzeihen.» Früher sei Glass zu zaghaft gewesen und habe sich selbst «fürs Atmen entschuldigt». Erst nach dem Urteil «akzeptierte er sich so, wie er ist. Mit allen Ecken und Kanten.»

Verstörende Vorfälle

Es war 2012 oder 2013, als Glass bemerkte, dass Hilden einen Fehler beim Ausfüllen ihrer Steuer­erklärung gemacht hatte. Das passte nicht zu der akribischen ehemaligen Mathematik­studentin.

Es folgten weitere beunruhigende Vorfälle: Als sie Anfang 2014 ein Haus in Venice kauften, überflog sie die Vertrags­papiere bloss. Der relativ einfache Plan, im neuen Haus die Katzen und den Hund voneinander zu trennen, verwirrte sie. Glass musste es ihr erklären, indem er mit ihr durch alle Räume ging: «Das ist das Hunde­land … das ist das Katzen­land … und das ist Menschenland.»

Im Sommer 2014 waren sie unterwegs aus der Stadt in ein ruhiges Wochen­ende, als Hilden wegen der vielen Autos auf der Strasse plötzlich in Panik geriet. Glass hielt an, und sie setzten sich für eine Stunde in eine Saftbar. Doch Hilden war dermassen aufgebracht, dass sie den Ausflug abbrechen und nach Hause zurück­kehren mussten.

Am Labor Day kam Zuckerman bei ihnen vorbei, um etwas abzuholen. Er sah Hilden durch ein Fenster. Sie saugte an ihrem Finger und machte einen verwirrten Eindruck. Vom Auto aus rief er Glass an: «Da stimmt etwas ganz und gar nicht.»

Glass, der nun sicher war, dass etwas nicht in Ordnung war, befürchtete, es könnte sich um Alzheimer handeln. Sie bekamen rasch einen Termin bei einer Neurologin. Doch bei der ersten kurzen Untersuchung konnte die Ärztin keine Probleme feststellen. Glass wandte sich an einen Neurologen, den er von seiner Arbeit als Anwalt kannte. Anstatt zu warten, bis die Kranken­versicherung ein MRI bewilligte, bot er an, dies selbst zu bezahlen.

Die Ergebnisse waren negativ. In einem weiter­führenden Test wurde Hilden gebeten, eine Uhr mit den Zeigern in Positionen wie «zehn vor drei» oder «Viertel vor vier» zu zeichnen. Es gelang ihr nicht, die Zeiger an den richtigen Stellen zu platzieren. Diese Untersuchung und andere Tests liessen mehrere mögliche Ursachen zu, doch der Neurologe meinte, die Anzeichen deuteten auf Alzheimer. Hilden war 46 Jahre alt.

Wieder zu Hause versuchte Glass, mit ihr über die Test­ergebnisse und die Krankheit, die sie so gut kannte, zu sprechen. Doch Hilden wollte nichts davon wissen. «Du kannst so viel recherchieren und unternehmen, wie du willst, um mir zu helfen, aber ich will nichts damit zu tun haben. Ich liebe mein Leben. Ich war noch nie so glücklich. Ich will dieses Glück geniessen und sein, wie ich bin. Wir werden einfach so weiter­leben wie bisher und nicht darüber sprechen.»

Es war der Befehl zu lügen.

Therapeutisches Flunkern

Hilden war fest entschlossen, nicht über die Krankheit zu sprechen, sie wollte so tun, als sei alles normal. Ihre Freunde sollten auf keinen Fall etwas erfahren. Das stürzte Glass in ein Dilemma. Seit mehr als fünfzehn Jahren arbeitete er hart daran, ein grundehrliches Leben zu führen.

Nun wurde er gezwungen zu lügen.

Diese Methode des «therapeutischen Flunkerns» kann für Alzheimer-Patientinnen jedoch hilfreich sein, weil sie ihnen schmerzhafte Wahrheiten erspart. Patientinnen wollen oder müssen oft nicht über die Konsequenzen ihrer Diagnose sprechen, daher ist es für Pflege­personen mitunter besser, das Thema zu vermeiden oder das Gespräch auf andere Themen zu lenken.

Dies kann für die Betreuenden, die einen geliebten Menschen ständig anlügen müssen, aber sehr belastend sein. Für Glass war es kaum auszu­halten. «Nun lüge ich also wieder, obwohl ich versprochen habe, genau das nicht mehr zu tun. Und ich belüge die Person, die ich am meisten liebe», sagte er. «Doch wir hatten die Abmachung getroffen, dass ich ihren Wunsch, das Leben zu geniessen, respektieren würde.» Also log er – täuschte vor, dass sie keine degenerative Krankheit hatte, und belog auch Freundinnen und Freunde über ihren Zustand.

Glass und Hilden waren bereits vierzehn Jahre zusammen und hatten nie das Bedürfnis verspürt zu heiraten. Bekannten sagten sie, sie würden so lange warten, bis auch die gleich­geschlechtliche Ehe im ganzen Land legal sei (was erst nach der Entscheidung des Obersten Gerichtshofs der USA im Jahr 2015 der Fall sein würde). Doch als im Herbst 2014 die Krankheit bei Hilden ausbrach, wollte Glass nicht länger warten. Er musste ihre finanziellen und rechtlichen Angelegenheiten übernehmen können, wenn es nötig würde. Er wollte Hilden, die ihre an Alzheimer erkrankte Mutter verlassen hatte, zeigen, dass er sie immer lieben würde.

Es war nicht schwer, sie zu überzeugen. Glass erwähnte Alzheimer nicht, glaubt aber, dass sie genau wusste, dass dies der Grund war. Am 17. September 2014 fuhren sie zur Trauung ins Amts­gericht von Beverly Hills. Der Standes­beamte ging die Bestimmungen durch und erklärte, dass Hilden ihren Namen ändern könne. «Ich ändere meinen Namen nicht!», sagte sie. Die Frisch­vermählten trugen Turnschuhe und dunkle Hemden. Hilden zudem eine Mütze. Sie lächelte die Fotografin etwas ausdruckslos an. Heute zeigt mir Glass die Fotos auf seinem Handy: «Das ist das Bild, das sie gemacht haben. Es ist unglaublich deprimierend.»

Ende 2014 hatte Hilden zunehmend Schwierigkeiten, sich an Wörter zu erinnern oder zusammen­hängend zu sprechen. Wenn Glass mit ihr ins Restaurant ging, brauchte sie Hilfe, um die Toilette zu finden und wieder an den Tisch zu kommen. Doch sie taten so, als ginge es ihr gut. Wenn Freundinnen auf ihre seltsame Ausdrucks­weise und ihr merkwürdiges Verhalten aufmerksam wurden, erfanden sie irgendwelche Begründungen. Hilden war schon immer ein eigenwilliger Charakter, und eine Zeit lang schienen es die Leute zu akzeptieren.

Doch eines Tages sprach Neal Katyal, ein prominenter Verfassungs­rechtler und lang­jähriger Freund von Hilden, Glass darauf an. Er war zum Abend­essen zu Besuch und stellte ihn in der Küche zur Rede.

«Was ist hier los?», fragte Katyal.

Vor dem guten Freund konnte Glass das Geheimnis nicht bewahren. Er erklärte ihm, dass sie die Krankheit habe, es aber niemandem erzählen wolle. Die beiden brachen in Tränen aus und umarmten sich. Als Katyal an den Tisch zurück­kehrte, spielte er mit. Bald nach dem Essen ging Hilden ins Bett. Katyal blieb und setzte sich neben Glass auf die Couch. Er hielt Glass’ Hand und umarmte ihn lange. Sie weinten. Hilden zu pflegen, sei sein neuer Lebens­inhalt, sagte Glass, er werde alles tun, um ihr zu helfen.

Einen oder zwei Monate später wollte Lisa Daly, eine Freundin aus ihrer New Yorker Zeit, dringend mit Glass sprechen. Sie und ein Freund waren besorgt, weil Hilden so verschlossen war und Schwierigkeiten hatte, ein Gespräch zu führen. Sie waren dermassen verwundert über Hildens Verhalten, dass sie sich fast vorwurfs­voll an Glass wandten und ihn fragten, ob er sich auch gut um sie kümmere.

Daly wusste, dass Hildens Mutter an Alzheimer gestorben war. Sie hatte Hildens Buch zwar gelesen, aber keinen Zusammen­hang zu den seltsamen Symptomen hergestellt. Glass schilderte Hildens Zustand und sagte, sie wolle ihn nicht wahrhaben. Wenn sie Hilden trafen, sollten sie so tun, als sei alles normal. Stellt besser keine Fragen, instruierte er, haltet einfach einen Monolog.

Glass und all ihre Freundinnen und Freunde spielten mit. «Wenn man sich traf, tat man so, als sei alles normal», sagt Furman, der während seiner Zeit als Obamas oberster Wirtschafts­berater gelegentlich zu Besuch kam.

Während Hildens kognitive Fähigkeiten weiter nachliessen, tat Glass weiterhin so, als sei alles in Ordnung. Als sie Mühe bekam, die Schuhe zu binden, kaufte er ihr solche mit Klett­verschluss. Als sie nicht mehr lesen konnte, stellte er eine Gymnasiastin ein, die ihr vorlas.

Hilden beschloss, die kalifornische Anwalts­prüfung abzulegen, Glass kaufte ein altes Prüfungs­buch und las ihr daraus vor. Er tat so, als könnte sie das Examen eines Tages ablegen. Das Sprechen fiel ihr schwer. Doch eines Tages malte sie Herzen auf zwei Post-its, ging zu Glass’ Schreibtisch und legte sie neben seinen Computer.

Die schwierigste Frage

In «The Bad Daughter» beschreibt Hilden, wie sie Selbst­mord begehen würde, sollte sie positiv auf das krankheits­verursachende Gen getestet werden, um zu vermeiden, dass ein Partner die Tortur der Langzeit­pflege auf sich nehmen müsste. Hilden fand nach dem Tod ihrer Mutter heraus, dass sie während ihres Aufenthalts in einer Langzeit­pflege­einrichtung versucht hatte, Tabletten für Suizid zu bekommen, ein Wunsch, der ihr nicht erfüllt wurde. «Ich fragte mich», schrieb Hilden, «warum meine Mutter nicht früher darum gebeten hatte, sterben zu dürfen.»

Suizid schien ein verlockendes Ende. «Meine Mutter wusste nicht, was mit ihr geschah, als sie krank wurde, und hatte daher nicht die Möglichkeit, sich das Leben zu nehmen», schrieb Hilden. «Sobald ich getestet werden kann, werde ich es wissen, lange bevor die Krankheit ausbricht – und ich werde die Möglichkeit haben, sie zu stoppen.»

In drei bedrückenden Absätzen erzählt sie, wie sie den Entschluss fassen würde, bevor die Krankheit ihren Verstand zerstörte, und wie sie sich mit einem Rasier­messer umbringen würde. «Ich schlitze mir das eine Hand­gelenk auf, zucke zusammen, dann ist das zweite an der Reihe. Senkrecht: Ich habe gelesen, dass man senkrecht schneiden muss, nicht quer … Ich bin froh, dass ich mich entschieden habe, so zu sterben, mit dem abrupten Ende der Erinnerung, der absoluten Dunkelheit anstelle des Zwielichts allmählichen Vergessens.»

Würde sie nun, da sie die Krankheit hatte, ihre Pläne umsetzen wollen?

Melanie Thernstrom, Hildens langjährige Freundin, informierte sich über die Möglichkeiten der Sterbe­hilfe, doch Glass war dagegen. Hilden war glücklich, besonders in den ersten Tagen nach der Diagnose. Es war eine seltsame Zeit. Eine tödliche Krankheit zerstörte langsam ihren Geist, solange nicht über die Krankheit geredet wurde, schien sie ausgesprochen heiter.

Er habe sich gegen die Beihilfe zum Suizid entschieden, erklärt Glass, weil «sie ihr Leben mehr liebte als je zuvor und enorme Freude daran empfand». Ungeachtet dessen, was sie zwei Jahr­zehnte zuvor geschrieben hatte, befand Glass, dass «dein früheres Ich dein jetziges Ich nicht töten darf», wenn ihr jetziges Ich das nicht will.

Glass entschied sich dagegen, Hilden in eine Pflege­einrichtung zu bringen. Er wollte sie zu Hause in Venice pflegen, damit sie weiterhin ihre vertraute Umgebung und ihren Garten geniessen konnte. Er engagierte eine Haus­hälterin und Hilfs­kräfte, die sich um sie kümmerten, wenn er bei der Arbeit war. Er installierte Schutz­gitter, damit sie nicht die Treppe hinunter­fallen konnte, und baute die Dusche um, sodass sie darin gebadet werden konnte.

Glass versuchte, ihre Lebens­freude zu erhalten, indem er sich für jeden Tag Aktivitäten ausdachte. Ihre Freundin Lisa Daly organisierte Haus­besuche des Friseurs, der Hilden die Haare schnitt. Glass nannte dies den «Schönheits­tag». Hilden war überzeugt, dass all die Leute im Haus da seien, um sich um den Hund zu kümmern. Irgend­wann bemerkte sie: «Dieser Hund braucht eine Menge Betreuung!»

Auch als sich ihr Zustand weiter verschlechterte, blieb Glass geduldig und erhielt die Illusion aufrecht, dass es ihr gut ging. Hilden und er sprachen nie über die Krankheit und erwähnten auch ihre Mutter nicht. Als es wegen ihres unberechenbaren Verhaltens schwierig wurde, ins Restaurant zu gehen, besorgte er sich Kärtchen von der Alzheimer-Vereinigung, die er der Bedienung überreichte. «Meine Begleitung leidet unter Gedächtnis­verlust und benötigt unter Umständen etwas mehr Zeit und Unterstützung», stand darauf. «Besten Dank für Ihr Verständnis.»

Hilden wurde immer verwirrter. Sie sprach davon, dass sie sich ein Kind wünschte, konnte sich aber nicht an das Wort «Baby» erinnern und wiederholte stattdessen mehrmals am Tag, dass sie gern «einen Menschen» hätte. Glass sagte, er werde die Möglichkeit einer Adoption prüfen. Das war gelogen. Sie war unheilbar krank, und er hatte nicht die Absicht, ein Kind zu adoptieren. Doch seine Zusicherungen schienen sie zu beruhigen.

«Glass hätte auch einfach abhauen können – ehrlich gesagt, viele Leute, die ich kenne, hätten das getan», sagt sein Freund Katyal. «Ihm wäre es nie in den Sinn gekommen.»

Im Jahr 2017 wurde Hilden immer schwächer. Sie konnte nicht mehr sprechen, doch Glass fand, sie strahle eine stille Zufriedenheit aus. Im März 2018 hatte sie Schwierigkeiten zu stehen und fuchtelte manchmal wild mit den Armen, während ihr Körper allmählich versagte. Am 17. März starb Julie Hilden in ihrem Schlafzimmer.

Auf ihrer Beerdigung gedachten Freundinnen und Freunde Hilden und ihrer Liebe zu Filmen und Büchern. Lisa Daly las Passagen aus «The Bad Daughter», einschliesslich des aufwühlenden letzten Abschnitts:

Manchmal denke ich an meine Mutter mit dreissig, nur wenig älter als ich jetzt bin, an das Abenteuer, das ihr bevorstand, und daran, dass sie nicht stark genug dafür war, daran, wie ihr Körper sie so jung im Stich liess, wie sie einen Makel in sich trug, den auch ich in mir tragen könnte. Ich denke, dass ihr Glaube an das Leben hätte belohnt werden müssen und nicht zum Scheitern verurteilt sein durfte. Ich glaube an die Zeit, bevor ihre Wut begann. Ich stelle sie mir als unschuldig vor, und später als angeschlagen, und ich glaube, dass die Krankheit die Ursache von allem war. Und dann, wenn ich es zulasse, erinnere ich beinahe daran, wie es war, sie zu lieben – vor langer Zeit.

«Zum Glück für Julie», sagt Daly, «nahm sich jemand ihrer an. Steves Hingabe und Fürsorge für Julie war das grösste Geschenk ihres Lebens, und ich glaube, auch das grösste Geschenk für ihn. Er hat sie so geliebt, wie man nur träumen kann, geliebt und umsorgt zu werden.»

Eine Lüge leben

Im März 2020, zwei Jahre nach Hildens Tod, kehrte Glass an die Duke University zurück und sprach vor meiner Klasse. Es waren andere Studierende als bei seinem Besuch 2016. Als eine Studentin fragte, wie er zum Lügen stehe, sprach er zum ersten Mal öffentlich über die Alzheimer-Krankheit seiner Frau und wie er gezwungen war, diese zu leugnen.

«Vielleicht werde ich weinen», warnte er die Klasse und erzählte von der Tortur der letzten vier Jahre und darüber, wie Hilden ihr Gedächtnis verlor, aber dennoch glauben wollte, dass alles in Ordnung sei. «Man musste sie bei diesem Verdrängen unterstützen. Ich habe mich auf diese Lüge eingelassen und sie jahrelang mit ihr gelebt während ihrer Krankheit.» Das sei schwierig gewesen, weil «ich mich verpflichtet hatte, nicht zu lügen, und nun war ich zu Hause mit meiner Lebens­partnerin in die grösste aller Lügen verstrickt».

Es sei ein schwieriger Balance­akt gewesen zwischen ihren Bedürfnissen und seinem Widerwillen gegen das Lügen. «Ich glaube, Mitgefühl ist das Wichtigste. Aus Mitgefühl war es das einzig Richtige, nicht die Wahrheit zu sagen.»

Im Gegensatz zu seinem Besuch vor vier Jahren, bei dem er unsicher gewirkt hat, waren die Studierenden dieses Mal von seiner Geschichte gerührt, einige hatten Tränen in den Augen.

Glass schilderte, er sei «ständig bemüht, mein Leben und meine Beziehungen zu anderen Menschen zu verbessern». Hilden habe ihm geholfen, sein Leben wieder in den Griff zu bekommen. «Sie war ein äusserst nachsichtiger und tief­gründiger Mensch, der mir viel darüber beigebracht hat, was es bedeutet, jemanden zu lieben – und was es bedeutet, geliebt zu werden.»

«Sie hat mir das Leben gerettet.»

Zu Anlaufstellen für Hilfe: Sie haben Suizid­gedanken? Reden Sie darüber!

Die Erfahrung zeigt: Menschen, die einen Suizid­versuch überlebten, waren froh, noch am Leben zu sein. Holen Sie sich bei Suizid­gedanken anonym Hilfe:

  • Plattform für psychische Gesundheit, speziell in der Corona-Zeit: «Dureschnufe»

  • Notfallnummern:
    Dargebotene Hand: 143
    Psychosoziale Beratung der Pro Mente Sana: 0848 800 858 (auch für Angehörige, Bürozeiten)
    Elternberatung der Pro Juventute: 058 261 61 61 (24/7)
    Elternnotruf: 0848 354 555 (24/7)

Zum Autor

Bill Adair ist Gründer von «PolitiFact» und Professor für Journalismus und Public Policy an der Duke University. Dieser Beitrag erschien erstmals am 4. Dezember 2021 im Onlinemagazin «Air Mail».