Schweizer Landwirte haben dieses Jahr enorme Verluste erlitten – auch die Walliser Biobäuerin Ilona Thétaz.

«Irgendwann findest du dann auch: Fuck you»

Ernteausfälle, Verluste, Unsicherheit: Die Klima­krise trifft die Schweizer Land­wirtschaft hart – und viele Bäuerinnen wollen, dass sich etwas ändert. Doch die Agrarpolitik steht still.

Eine Reportage von Anja Conzett (Text) und Ephraim Bieri (Bilder), 23.12.2021

Wie ein uneingelöstes Versprechen hängen sie an den Reben unter der Winter­sonne, unzählige dürre Skelette von Wein­trauben, die gar nicht erst gelesen wurden – als hätte jemand die Ernte verschlafen. «Falscher Mehltau», sagt Ilona Thétaz vom Sitz ihres Pick-up-Trucks auf dem Feldweg, der zu ihrem Bauern­hof führt, in Saxon, Wallis, Hauptstadt der Aprikosen.

Dieser Weinberg gehört jemand anderem, aber auch Thétaz hat bei ihren 5 Hektaren Trauben 40 Prozent Verlust gemacht in diesem Jahr. Bei den 5 Hektaren Aprikosen waren es satte 90 Prozent Verlust. Ilona Thétaz ist Biobäuerin und Quer­einsteigerin. Unter ihrem dicken Woll­pullover schauen Tattoos hervor. Die Bauern, die das Land schon länger bewirtschaften als sie, sagen ihr, so etwas wie dieses Jahr hätten sie noch nie gesehen. «So ein richtiges Scheiss­jahr», sagt Ilona Thétaz.

Erst der Frost, dann der Hagel, dann die Kälte und der Regen – und mit ihm die Krankheiten. Das Resultat: Gemüse, das unter Wasser steht, Knollen und Wurzeln, die in der Erde verfaulen, Blüten, die an den Ästen erfrieren, und was nicht erfroren ist, wird von fallenden Eisklumpen erschlagen.

6 Prozent weniger Getreide, ein Fünftel weniger Zucker­rüben, ein Viertel weniger Kartoffeln, über 20 Prozent weniger Birnen als im Vorjahr, über 60 respektive über 70 Prozent weniger Zwetschgen und Aprikosen, hat Agristat, der statistische Dienst des Bauern­verbands, erhoben, wie die «Bauern­zeitung» schreibt. Gemäss dem Bundes­amt für Land­wirtschaft mussten allein im Juli 680 Tonnen Eisberg­salat importiert werden – im Jahr davor waren es 0,3 Tonnen. Und die Hagel­versicherung Schweiz vermeldet das schlimmste Jahr in ihrer 140-jährigen Geschichte.

«Es ist nicht so lange her, da hätte ein Jahr wie dieses in der Schweiz eine Hungers­not ausgelöst», sagt Christoph Johner.

Johner steht in seinem Lager im frei­burgischen Kerzers, hinter dem Hof die Haupt­strasse, über die die Lastwagen der Grossisten donnern, um die Produkte aus der Gemüse­kammer der Schweiz, dem Seeland, abzuholen. Als Abschätzer der Hagel­versicherung, der Schäden bei den versicherten Bauern beurteilt, war Johner dieses Jahr so viel unterwegs wie noch nie. Daneben musste er die Krise auf seinem eigenen Hof managen. In der Hand hält er einen Teil der Ernte – auffallend kleine, goldschalige Zwiebeln. «Das Lager ist gut ein Drittel voll», schätzt er.

«Es ist nicht so lange her, da hätte ein Jahr wie dieses in der Schweiz eine Hungers­not ausgelöst», sagt Landwirt Christoph Johner.
Wegen der Klimaveränderung baut Johner Pflanzen an, die für seine Vorfahren noch undenkbar waren – zum Beispiel Ingwer.

Auf seinem gepanzerten Telefon sucht er die Bilder, die er im Sommer gemacht hat. Traktoren, die im Wasser auf den Feldern absinken, Dämme, die nicht halten, Zucchini im Schlamm. Johner wollte das Jahr festhalten, die Dokumentation eines katastrophalen Sommers für die Nachwelt. «Aber wer weiss, vielleicht wird das in ein paar Jahren gar nichts mehr Besonderes, sondern ganz normal sein», sagt Johner.

Damit könnte der Gemüse­bauer recht haben.

Warm und unberechenbar

2021 mag wie ein Ausnahme­jahr wirken, aber die Extrem­wetter sind für die Schweizer Land­wirtschaft längst nicht mehr nur isolierte Vorfälle.

2003: Jahrhundert-Hitzewelle.

2014: Dauerregen und das Aufkommen eines neuen Parasiten: der Kirschessig­fliege, auch Suzuki­fliege genannt.

2015: Noch eine Jahrhundert-Hitzewelle.

2017: Frost.

2018: Dürre.

Und jetzt dieses Scheissjahr.

Die Häufung der Wetter­kapriolen kommt nicht von ungefähr, sie ist ein direktes Resultat des in Windes­eile voranschreitenden Klima­wandels – auch wenn das auf den ersten Blick widersprüchlich wirkt. «Ein verregneter, kalter Sommer ist allgemein nicht, was man vor dem Hinter­grund der Klima­erwärmung erwartet», sagt Annelie Holzkämper, die den Einfluss der Klima­erwärmung auf die Schweizer Land­wirtschaft für das Bundes­kompetenz­zentrum Agroscope erforscht. «Aber mit dem Klima­wandel nimmt eben auch die Variabilität zu.»

Variabilität bedeutet unberechenbares Wetter. Und was der Bauer nicht kennt, könnte ihn bald fressen, denn: «Wie dieser Sommer eindrücklich zeigt, wird die Zunahme der Variabilität die grössere Heraus­forderung an die Land­wirtschaft darstellen als die Erwärmung», sagt Holzkämper.

Aber auch die Erwärmung hat ihre Tücken. Das liegt unter anderem am Frost. Wenn die Pflanzen sich unter den steigenden durchschnittlichen Temperaturen schneller entwickeln, schneller in die Blüte kommen, sind sie damit auch anfälliger für Frost. «Und Frost wird es in der Schweiz auch weiterhin geben», sagt Holzkämper. Auch in Bezug auf die Häufung von Hagel wird ein Zusammen­hang mit dem Klima­wandel vermutet, das ist allerdings noch nicht eingehend erforscht, entsprechende Projekte laufen.

Es wird also zunehmend schwieriger für die Schweizer Landwirtschaft.

Man kann versuchen, der Unberechenbarkeit des Wetters mit Diversifizierung zu begegnen. Einmal bei den Sorten und Arten, wie Seeland­bauer Johner, der über 65 verschiedene Kulturen anbaut, oder wie die Wahl­walliserin Thétaz, die nebst Wein und Aprikosen auch Schafe hat. Und auch Diversifizierung in der Betriebs­führung ist nötig, wie bei Johner, der nebenbei für die Hagel­versicherung arbeitet, und bei Thétaz, die im Nebenjob Gemüse ausliefert.

Aber damit allein ist es nicht getan. Anpassung ist auch in anderen Bereichen dringend angezeigt. Und hier verbirgt sich auch schon das nächste Risiko: Maladaption, oder: die falsche Form der Anpassung.

Wie das aussehen könnte, hat Holzkämper in einer Studie über Mais untersucht, deren Resultate sich auf andere Sorten übertragen lassen.

Mehr Potenzial, aber auch mehr Risiko

Dazu muss man wissen: Höhere Temperaturen sind für sich allein auch eine Chance. Sie ermöglichen den Anbau neuer Kulturen, und sie verlängern die potenziellen Anbau­zeiten. Es böte sich also beispiels­weise an, spätreife Sorten anzupflanzen, die länger auf dem Feld stehen und Biomasse aufbauen können – also letztlich mehr Ertrag ergeben. Doch damit folgt auch ein Risiko: Eine längere Wachstums­periode bedeutet eben auch, dass länger etwas schief­gehen kann, besonders im Fall von Dürren und Hitzestress.

Das heisst: Die Pflanzen mit längerem Wachstums­zyklus brauchen mehr Wasser. Das wiederum ist ungünstig, weil der Niederschlag in den Sommer­monaten tendenziell abnimmt. «Auch wenn wir in der Schweiz vergleichs­weise reichlich Wasser haben, könnte es langfristig zu Interessen­konflikten zwischen Landwirtschafts­betrieben und Trinkwasser­verteilern kommen», sagt Holzkämper. Mehr noch: «Bei starkem Niedrig­wasser leiden Fische und andere aquatische Organismen, und auch die Wasser­qualität wird negativ beeinflusst.» Spätreife Sorten führten zwar mittelfristig zu einem Anstieg der Erträge, wenn die Wasser­limitierungen immer mehr zunähmen, könne das bis Ende Jahrhundert aber kippen.

Die Alternative wären frühreife Sorten, die ein geringeres Risiko an Verlust bringen, aber auch einen geringeren Ertrag.

Ein weiterer, auf den ersten Blick positiver Effekt der wärmeren Temperaturen ist, dass man mehrere Kulturen pro Jahr anbauen kann. Aber auch das ist nicht ungefährlich. «Das kann zu einer Intensivierung der Land­wirtschaft führen, mit möglichen negativen Umwelt­auswirkungen wie zum Beispiel höherem Risiko von Wasser­nutzungs­konflikten, mehr Auswaschung von Nährstoffen und Anreicherung von Pestiziden in den Böden», sagt Holzkämper.

Intensivere Land­wirtschaft bedeutet intensivere Düngung, wodurch Stickstoff und Nitrat in die Böden gelangen und auch mehr Lachgas aus den Böden in die Atmosphäre steigt. Dazu kommt die Verdichtung durch vermehrten Maschinen­einsatz, der Humus erodiert – und das bringt wieder eine Reihe von neuen Problemen.

«Intensive Land­wirtschaft bringt potenziell negative Umwelt­auswirkungen mit sich», sagt Holzkämper. «Gleichzeitig wird die inländische Produktion eher noch wichtiger, wenn man bedenkt, dass die Schweiz im Vergleich zu manchen Import­ländern bessere Wasser­reserven hat.»

Kurz: Die Lage ist vertrackt. Will die Schweizer Land­wirtschaft nicht den Ast absägen, auf dem sie sitzt, muss sie zwangsläufig ökologischer und nachhaltiger werden.

Doch dafür bräuchte sie den entsprechenden politischen Rückenwind.

Zwei Betriebe, viele Sorgen

Auf dem Hof von Ilona Thétaz arbeiten gerade die Spengler am Dach, eine nötige Investition, die sie sich nach diesem Jahr eigentlich nicht mehr leisten kann. Dass Umwelt­schäden und Klima­erwärmung ein Problem sind, muss man ihr nicht erzählen, sie macht Bio aus Überzeugung, weil sie kein Verständnis hat für den «ertrags­getriebenen Einsatz von Pestiziden und Herbiziden». Während der Aprikosen­hain neben ihrem sauber gepützelt daherkommt, wuchert zwischen ihren Bäumen das Grün. Ihr gefällt das so, das Lebendige.

Für gewöhnlich fährt sie gut damit: Mit ihren 5 Hektaren stemmt ihr Betrieb fast 10 Prozent der Produktion der Bio-Aprikosen der Schweiz. «Die Nachfrage ist immer grösser als das Angebot», sagt sie. «Aber wenn dir 90 Prozent der Ernte fehlen, spielt das auch keine Rolle mehr.» 200’000 Franken hat sie allein wegen der Aprikosen «hinderschi» gemacht. 40 Prozent der Ernte gingen beim Frost im Frühling drauf, der Rest fiel dem verheerenden Sommer zum Opfer. «Wenn alles dem Frost zum Opfer gefallen wäre, hätte ich mir wenigstens die Ernte­kosten gespart», sagt sie, während sie einem der drei Hunde auf dem Hof den Kopf tätschelt.

Auf ihrem Hof baut die Wahl­walliserin Ilona Thétaz Wein und Aprikosen an, sie hält Schafe und liefert im Nebenjob Gemüse aus.

Versicherung hat Thétaz keine, zu teuer. Was sie bekommt, ist eine Ausfall­entschädigung von Bund und Kanton von 32’000 Franken. «Wenn du dich entscheiden musst, ob du das bisschen Geld auf deinem Konto lieber in ein neues Spritzmittel investierst oder ein Geschenk für deine vierjährige Tochter kaufst …», sie schüttelt den Kopf. «Irgendwann findest du dann auch: Fuck you.»

Thétaz hat den Hof nach ihrer Winzer­lehre 2017 via Erbvorbezug gekauft, damals noch praktisch ohne Land, und seither Stück um Stück ausgebaut, unter anderem mithilfe eines Crowd­fundings. Zwecks Publicity machte sie damals bei der SRF-Sendung «Land­frauen» mit. Das Crowd­funding war ein Erfolg. «Jetzt müsste ich eigentlich die Gegen­leistungen verschicken, aber ich hab noch nicht mal liquide Mittel für die Briefmarken.»

Auf dem Küchentisch liegt ein Business­plan, den Thétaz zusammen mit ihrem Partner, einem Agronomen, erstellt hat. Entwicklung, Projekte, alles drin. Das Ziel: nicht länger von Direkt­zahlungen abhängig sein, sondern vom Boden und den Tieren leben zu können. «Letztlich sind wir ein land­wirtschaftliches Start-up.» Nur ist es als solches fast unmöglich, Kredite zu bekommen – zu wenig Sicherheiten, zu wenig Einkommen. Gerade einmal die Alternative Bank hat nicht von vornherein Nein gesagt.

Gleichzeitig hat sie ein Projekt beim Innovations­fonds von Biosuisse eingereicht, mit dem sie den Food-Waste auf dem Betrieb reduzieren will – eine Limonade aus den unverkäuflichen Aprikosen. Das Projekt wurde abgelehnt. «Genau jetzt, wo Investitionen so wichtig wären, fehlt es schlicht an flüssigen Mitteln.»

«Mit Bürokratie torpediert»

Das Problem, weiss Thétaz, haben viele. Ein Bekannter von ihr ist letztes Jahr plötzlich an einem Herz­infarkt verstorben. «Der Existenz­druck ist enorm hoch, das spiegelt sich auch in den Suizid­raten.» Dennoch sei das Problem­bewusstsein unter den Land­wirten da. «Viele Bauern sagen jetzt, wir müssen ökologischer arbeiten, wir wären bereit dazu – aber die Umstellung für eine Biozertifizierung kostet schnell mal eine Million an Investitionen.»

Der Bund gewährt zwar Kredite ohne Zins, die in 25 Jahren zurück­bezahlt werden müssen, «das deckt 50 Prozent, für den Rest müssen wir selbst aufkommen, aber wie soll das gehen, wenn wir Mühe haben, AHV und Pensions­kasse einzuzahlen». Thétaz ist wütend. Manchmal schmeisse sie auch mal etwas an die Wand, weil es ihr so ausweglos erscheint. «Wir wollen uns verändern, aber wir können auch nicht schneller tanzen, als die Musik spielt.»

Christoph Johner ist nicht wütend. Im Gegenteil, er strahlt so eine Ruhe aus, dass man meinen könnte, selbst der beissende Wind über dem Seeland um ihn herum werde stiller. Was ihn und Thétaz verbindet: Auch er lässt nichts unversucht, um seinen Hof auch unter den sich schnell verändernden Bedingungen über Wasser zu halten. Für den Gemüse­bauern war schon 2020 ein schlechtes Jahr – die Ernte gut, aber durch Covid verlor er schlag­artig einen grossen Teil seiner Abnehmerschaft: Restaurants und Markt­besucherinnen. Fast über Nacht stellte er damals einen Liefer­service auf die Beine. «Wenn dir das Wasser bis zur Nase steht, musst du schwimmen, nicht jammern», sagt er.

In diesem Jahr hat Johner insgesamt rund 40 Prozent der Ernte verloren, eine seiner zwei Angestellten konnte er für dieses Jahr nicht ganzjährig verpflichten. Im Grossen und Ganzen hat die Familie die Krise aber gut überstanden, auch weil Johners Frau 40 Prozent in der Pflege arbeitet – «ein Privileg», sagt er. Und auch weil Johner selbst ursprünglich eine KV-Lehre gemacht hat, dazu die Betriebs­meister­prüfung, was vieles einfacher macht.

Johner baut mehrheitlich konventionell an, nur den Weizen produziert er gemäss IP-Richtlinien, er setzt aber wenn immer möglich Produkte aus dem Biosektor ein, nutzt Drohnen, um gezielt gegen Schädlinge vorzugehen, und arbeitet, um die Böden zu entlasten, nur mit leichten Traktoren. Aus Verantwortungs­gefühl, denn belohnt wird er als Konventioneller für das Einsetzen von Biomitteln nicht: «Ich muss hinter dem Lebens­mittel, das ich produziere, stehen können, meinen Kunden gute, gesunde Ware verkaufen können, an die nächste Generation denken.» In einem Jahr wie diesem sei er trotzdem froh, dass er einmal gegen Kraut­fäule spritzen könne, deshalb ist er nicht biozertifiziert. «Im Biobereich ist bei den Zwiebeln dieses Jahr viel kaputt­gegangen, weil es keine wirklich wirksamen Spritz­mittel gibt.»

Die Familie Johner betreibt den Hof in fünfter Generation – auf ihren 23 Hektaren wachsen Pflanzen, deren Anbau für ihre Vorfahren noch undenkbar waren. Auberginen, Chilis, faust­grosse Ingwer­knollen. Dass die Klima­erwärmung eine grosse Heraus­forderung darstellt, ist auch ihm sehr bewusst. Zusammen mit 50 anderen Höfen hat er eine Bewässerungs­genossenschaft mitbegründet, die in Dürre­zeiten nicht auf Oberflächen­gewässer und Grund­wasser zurück­greift, sondern auf grosse stehende und fliessende Gewässer, die Broye, die Aare, die Seen. Ein 10-Millionen-Projekt, das durch Bundes­gelder unterstützt wird. Für Johner, Sekretär der Genossenschaft, auch eine ernüchternde Erfahrung – Auflagen von Gemeinden und Kanton und Einsprachen von Umwelt­behörden machen ihm das Leben schwer. «Da will man etwas Gutes für die Umwelt tun und wird mit irrsinniger Bürokratie torpediert.»

Eine ähnliche Erfahrung hat Johner in einem anderen Bereich gemacht. Bei der Strom­gewinnung sieht er grosses Potenzial in der Land­wirtschaft: «Wir haben so viel Dach­fläche für Solar­zellen oder Platz für Wind­räder – dem Guschti, dem Jung­rind, ist das doch gleich, ob über ihm ein Rad dreht», sagt er. Aber auch hier Ernüchterung, als er Solarzellen auf die gut 300 Quadrat­meter Dach des Hofs montieren wollte: «Die Kosten wären das eine gewesen, aber irgend­jemand muss die Leitung zum Haus ziehen und den Verstärker bezahlen, und das kann ich mir nicht leisten, ob ich will oder nicht.» Johner stöhnt. «Man wird von äusseren Bedingungen zurück­gebunden – Raum­planungs­gesetz, Umwelt­gesetz, Gemeinden, Anwohner, die sich wegen des Gestanks des Mist­stocks beschweren.» Das Spannungs­feld sei riesig, überall Konflikt­linien.

Vollgas mit Handbremse

Johner und Thétaz wollen beide nicht einfach Opfer sein, sie wollen handeln, den Problemen begegnen, die sich der Land­wirtschaft stellen. Dabei sind sie durchaus auch selbst­kritisch, hinterfragen sich und das System. Bei beiden zeichnet sich am Ende nebst grossem Taten­drang auch Frustration ab. Und Ratlosigkeit.

Das ist nicht weiter erstaunlich. Denn die Schweizer Agrar­politik ist ein kaum überschaubares Dickicht an Interessen­vertretern, Zusammen­hängen, Auflagen – und Widersprüchen.

«Wir haben hier ein Gefährt, das mit staatlichen Mitteln Vollgas und gleich­zeitig mit gezogener Hand­bremse in Richtung Nachhaltigkeit fährt», sagt Andreas Bosshard. Bosshard ist Agrar­ökologe, Co-Autor des «Weiss­buchs Land­wirtschaft», ehemaliger Geschäfts­führer von Vision Land­wirtschaft und unterdessen für die unabhängige Landwirtschafts­beratung Ö+L tätig. «Die Hälfte der Mittel wird als Anreiz in Richtung Ökologisierung eingesetzt, und die andere Hälfte der Mittel wird genutzt, um diese Anreize zu neutralisieren.»

Landwirt Christoph Johner hat wegen der Pandemie einen Grossteil seiner Abnehmer verloren, nebenbei ist er für die Hagel­versicherung tätig, seine Frau arbeitet in der Pflege.

Ein Grund dafür sind laut Bosshard die Pauschal­zahlungen, die 50 Prozent der Mittel an die Land­wirtschaft ausmachen und die nicht an Gegen­leistungen geknüpft sind. «Diese Gelder fliessen praktisch eins zu eins an die vorgelagerten Branchen – besonders in Futter­mittel oder an die Agro­chemie. Und was dort eingekauft wird, ist in den allermeisten Fällen nicht nur schlecht fürs Portemonnaie der Bauern, sondern auch schlecht für die Umwelt und das Klima.»

Die Schweiz investiert 3,5 Milliarden Franken an Steuer­geldern jährlich in die Land­wirtschaft – fünf- bis zehnmal so viel wie das nahe Ausland – mit dem Auftrag, den Verfassungs­auftrag einer nachhaltigen Boden­nutzung umzusetzen. Dazu gehören klare Umwelt­ziele in den Bereichen Böden und Biodiversität, Emissionen von Methan, CO2, Lachgas und Ammoniak sowie bezüglich Nitrat-, Stickstoff- und Phosphor­gehalt in den Gewässern.

3,5 Milliarden Franken – und die Land­wirtschaft verfehle seit 15 Jahren mehrheitlich alle 13 Umwelt­ziele, sagt Bosshard. «Wir sind in den meisten Bereichen kein My vorwärts­gekommen. Dabei sind die Lösungen für eine nachhaltige, zukunfts­gerichtete Entwicklung der Land­wirtschaft längst bekannt – sie werden einfach nicht umgesetzt.»

Wie verfahren die Situation ist, zeigt die parlamentarische Reaktion auf die vom Bund verfasste Botschaft zur Agrar­politik 22+, die unter anderem das Erreichen der Umwelt­ziele vorantreiben und Fehlanreize in Form von Pauschal­zahlungen reduzieren wollte. Ein wichtiger Schritt und ein zäh verhandelter Kompromiss. Doch er scheiterte auf den letzten Metern: Im März entschied der National­rat, die Vorlage zu stoppen, und folgte damit dem Ständerat.

Die Vollbremsung kam dank einem geschickt eingefädelten Deal des Schweizer Bauern­verbandes zustande: Dieser versprach der FDP, die Konzern­verantwortungs­initiative abzulehnen, wenn die Liberalen im Gegenzug für die Sistierung stimmen – zum Nachsehen von Links-Grün, GLP und Umwelt­verbänden, die sich gegen die Sistierung stellten.

Ilona Thétaz und Christoph Johner fühlen sich beide nicht wirklich vertreten vom Bauern­verband. Aber auch mit der Agrar­politik 22+ können sie wenig anfangen. «Eine Schlange, die ihren Schwanz frisst», sagt Thétaz. «Das Papier wird mit jeder Reform mehr, die Bürokratie wächst jetzt schon zu vielen über den Kopf», sagt Johner.

Ein Papiermonstrum

Zugegeben – die Botschaft zur Agrar­politik mit ihren 258 Seiten mutet man selbst als geübte Vielleserin von Beamten­deutsch spätestens nach der Hälfte lieber dem Cheminée als dem Geist zu.

Die Bürokratie wäre kaum weniger geworden. Und doch werden gewisse Probleme, die Thétaz und Johner beschrieben haben, darin konkret angegangen.

  • Zum Beispiel die Hilfe zur Finanzierung von Solarzellen, Wasser­kraft­werken und Biogas­anlagen mittels zinsfreier Investitions­kredite.

  • Bei der befristeten Beteiligung des Bundes an Prämien von Ernte­versicherungen.

  • Oder bei Investitions­hilfen für innovative Technologien und zur Reduktion negativer Umwelt­auswirkungen.

Das alles kommt vorläufig nicht zustande. Zwar werden einzelne Punkte trotz Sistierung aufgegriffen – zum Beispiel in Form der parlamentarischen Initiative «Das Risiko beim Einsatz von Pestiziden reduzieren», die die Halbierung der Risiken durch Pestizide bis 2030 vorsieht – die konkrete Umsetzung der Agrar­politik 22+ ist aber für Jahre auf Eis gelegt.

«Für die Bauern bedeutet das über viele weitere Jahre grosse Planungs­unsicherheit», sagt Agrar­ökologe Bosshard. «Da hat der Bauern­verband der Land­wirtschaft sicher keinen Gefallen getan.»

Offiziell lehnt der Bauern­verband die Agrar­politik 22+ mit dem Argument ab, dass der Selbst­versorgungs­grad um 4 Prozent­punkte – von 56 auf 52 sinken würde.

Das ist kurzsichtig, weil die weitere Schädigung von Böden, Wasser und Biodiversität langfristig die grösste Bedrohung für die Versorgungs­sicherheit darstellt. Und es ist heuchlerisch – denn wer die Versorgungs­sicherheit tatsächlich erhöhen will, müsste es mit der intensiven Tier­produktion aufnehmen.

Davor aber hütet sich der Bauern­verband wie der Teufel vor dem Weihwasser.

Ohne die Konsumentinnen geht es nicht

Die Tier­produktion ist die grösste land­wirtschaftliche Verursacherin von Emissionen. Vor allem der mittler­weile gigantische Import von Futter­mitteln und die hohen Tier­bestände verursachen enorme Nährstoff­überschüsse in Form von Gülle und Mist, welche Gewässer, Wälder und die Biodiversität erheblich schädigen. Die Schweiz nimmt bei diesen Emissionen europa­weit einen Spitzenplatz ein – an zweiter Stelle kurz nach den Niederlanden.

Hinzu kommt, dass die intensive Tierhaltung eine enorme Ressourcen­verschwendung darstellt. Zum Beispiel bei der Milch­produktion: «Mit den Acker­flächen, auf denen im Ausland die Futter­mittel für Schweizer Milch­kühe wachsen, könnten fast zwei Millionen Menschen ernährt werden», sagt Bosshard.

Und das ist noch nicht alles: Trotz erheblichen Futtermittel­importen werden in der Schweiz 80 bis 90 Prozent der land­wirtschaftlichen Flächen für die Futtermittel­produktion genutzt – darunter weite Strecken besten Acker­lands, auf dem mehr Nahrungs­mittel hergestellt werden könnten, wenn die Pflanzen nicht den Umweg über das Tier machen würden, bis sie auf dem Teller landen.

Aber es wäre falsch, diese Entwicklung der immer intensiveren Tier­haltung allein den Land­wirtinnen und ihren Verbänden anzulasten. «In einem Punkt muss man dem Bauern­verband recht geben: Wenn die Land­wirtschaft einfach weniger Fleisch produziert, heisst das nicht, dass auch weniger Fleisch konsumiert wird, sondern es würde einfach mehr importiert», sagt Bosshard. Die Probleme werden sich nicht lösen, wenn sich der Konsum nicht verändert. «Deshalb ist es richtig, dass Bund und Verbände unterdessen von Land- und Ernährungs­wirtschaft sprechen und auch den Handel und den Konsum mit in die Pflicht nehmen wollen.»

Ähnlich verhält es sich beim Food-Waste. Gemäss Bund sind 25 Prozent der Umwelt­belastung durch die Ernährung hierzulande auf vermeidbare Lebens­mittel­verluste zurück­zuführen. Bei der Land­wirtschaft fallen 9 Prozent dieser Verluste an, oft weil die Produkte wie Obst und Gemüse nicht den Anforderungen der Grossisten entsprechen, während bei der Lebensmittel­industrie und in Privat­haushalten am meisten weggeworfen wird – 37 und 39 Prozent.

«Wir müssen das ganze Ernährungs­system neu denken. Neben der Land­wirtschaft haben auch der Handel und der Konsument eine entscheidende Rolle», sagt Bosshard. «Wenn wir unsere Ernährungs­gewohnheiten nicht anpassen, insbesondere hin zu einem geringeren Konsum tierischer Produkte, und dabei nicht unseren Teil dazu beitragen, den unhaltbaren Food-Waste zu reduzieren, dann ist die Land­wirtschaft bei der Lösung der Probleme auf verlorenem Posten.»

Auch Ilona Thétaz und Christoph Johner sehen einen Teil der Verantwortung bei den Konsumentinnen: «Viele haben den Bezug zu Nahrungs­mitteln verloren – sehen in der Land­wirtschaft eine Bedrohung und Ernährung als etwas, über das man sich optimiert», sagt Thétaz. «Früher hat man fürs Essen und Wohnen am meisten ausgegeben. Das ist längst nicht mehr so. Vielleicht hat das Produkt heute einfach zu wenig Wert», sagt Johner. Es brauche einen besseren Dialog zwischen Landwirtschaft und Konsumenten, finden beide.

«Wir wollen uns verändern, aber wir können auch nicht schneller tanzen, als die Musik spielt»: Ilona Thétaz mit zweien ihrer drei Hunde.

Dass auch aufseiten der nicht landwirtschaftlichen Bevölkerung Rede­bedarf herrscht, zeigt sich an der Häufung land­wirtschaftlicher Initiativen in den letzten Jahren: Hornkuh, Ernährungs­sicherheit, Pestizide, Trink­wasser – und nächstes Jahr voraussichtlich Massen­tierhaltung.

Doch ob und wie auch immer die Politik die Weichen stellen wird: Die Bäuerinnen müssen am Ende die Entscheide auch mittragen – und umsetzen wollen: «Man kann nichts gegen den Willen der land­wirtschaftlichen Betriebe durchstieren, man muss sie mit auf den Weg nehmen», sagt Bosshard dazu.

Agrarökologe Bosshard glaubt, dazu brauche man nicht auf die Politik zu warten, die derzeit in Sachen Land­wirtschaft weitgehend stillsteht. «Das Potenzial und das Interesse von Bauern und Bäuerinnen, ihren Teil zu einer nachhaltigen Land­wirtschaft beizutragen, ist auch ohne politische Weichen­stellungen gross.»

Bauern brauchen Hilfe

Ein Pilot­projekt, das der Bund in den Kantonen Thurgau und Glarus durch­führt, versucht dieses Potenzial in Zusammen­arbeit mit den beteiligten Land­wirtschafts­betrieben umzusetzen. Dabei wird eine individuelle, unabhängige Beratung angeboten, bei der gemeinsam mit verschiedenen Experten aus Ökologie, Ökonomie und Forschung Lösungen gesucht werden, wie ein Betrieb nachhaltiger aufgestellt sein kann. Miteinbezogen wird auch der soziale Bereich, wo beispiels­weise angesichts der oft sehr grossen Arbeits­belastung bei vielen dringender Handlungs­bedarf besteht. «Es braucht externe Unterstützung, man kann nicht von den Bäuerinnen und Bauern erwarten, dass sie alles allein lösen», sagt Bosshard, der am Projekt beteiligt ist.

Individuelle Einzel­beratung ist sicher kein einfacher Weg, aber einer, der sich laut Bosshard lohnen kann: «Die Optimierungs­potenziale, die auf vielen Betrieben vorhanden sind, sind enorm», sagt er. Und in den aller­meisten Fällen stünden die Betriebe am Ende auch wirtschaftlich besser da, was bestätigt, was bereits bekannt ist – «im Schnitt sind viele ökologische Produktions­weisen rentabler als konventionelle». Gerade auch in schwierigen Jahren wie diesem bewähre sich die ökologische Land­wirtschaft, sagt Bosshard, da sie langfristig resilientere Produktions­systeme schafft.

Das mit der Resilienz sieht Ilona Thétaz noch nicht auf ihrem Hof. «In einem guten Jahr können wir sicher die gleichen Erträge erzielen – in einem schlechten Jahr wie heuer mache ich bei den Aprikosen auch mal 30 Prozent mehr Verluste als Konventionelle.» Das Pilot­projekt wiederum hält sie für «extrem nützlich». Sie selbst sucht gerade auf eigene Faust nach Ökonomen, die sie bei der Betriebs­führung beraten.

Auch Seeland­bauer Christoph Johner begrüsst das Pilot­projekt. «Das braucht es dringend – unabhängige Berater, die keinen Dünger, kein Pflanzen­schutzmittel oder Futter­mittel verkaufen wollen.» In seiner Freizeit berät Johner andere Land­wirtinnen, etwa solche, denen die Bürokratie zu viel wird, gegen einen kleinen Unkosten­beitrag. Wichtig ist ihm, dass bei Beratungen wie im Pilot­projekt auch Praktiker dabei sind, nicht nur «Gstudierti», und dass die Ökologisierung nicht zu dogmatisch wird.

All die Jahre in der Land­wirtschaft hätten ihn eins gelehrt: «Nichts ist nur richtig, nichts ist nur falsch.»

In einer früheren Version dieses Textes war die Rede von Sonnenkollektoren, die für die Stromgewinnung verwendet werden. Kollektoren wandeln aber Sonnenenergie in Wärmeenergie um. Für die Stromgewinnung werden hingegen Solarzellen verwendet. Wir haben die entsprechenden Stellen angepasst.