«Irgendwann findest du dann auch: Fuck you»
Ernteausfälle, Verluste, Unsicherheit: Die Klimakrise trifft die Schweizer Landwirtschaft hart – und viele Bäuerinnen wollen, dass sich etwas ändert. Doch die Agrarpolitik steht still.
Eine Reportage von Anja Conzett (Text) und Ephraim Bieri (Bilder), 23.12.2021
Wie ein uneingelöstes Versprechen hängen sie an den Reben unter der Wintersonne, unzählige dürre Skelette von Weintrauben, die gar nicht erst gelesen wurden – als hätte jemand die Ernte verschlafen. «Falscher Mehltau», sagt Ilona Thétaz vom Sitz ihres Pick-up-Trucks auf dem Feldweg, der zu ihrem Bauernhof führt, in Saxon, Wallis, Hauptstadt der Aprikosen.
Dieser Weinberg gehört jemand anderem, aber auch Thétaz hat bei ihren 5 Hektaren Trauben 40 Prozent Verlust gemacht in diesem Jahr. Bei den 5 Hektaren Aprikosen waren es satte 90 Prozent Verlust. Ilona Thétaz ist Biobäuerin und Quereinsteigerin. Unter ihrem dicken Wollpullover schauen Tattoos hervor. Die Bauern, die das Land schon länger bewirtschaften als sie, sagen ihr, so etwas wie dieses Jahr hätten sie noch nie gesehen. «So ein richtiges Scheissjahr», sagt Ilona Thétaz.
Erst der Frost, dann der Hagel, dann die Kälte und der Regen – und mit ihm die Krankheiten. Das Resultat: Gemüse, das unter Wasser steht, Knollen und Wurzeln, die in der Erde verfaulen, Blüten, die an den Ästen erfrieren, und was nicht erfroren ist, wird von fallenden Eisklumpen erschlagen.
6 Prozent weniger Getreide, ein Fünftel weniger Zuckerrüben, ein Viertel weniger Kartoffeln, über 20 Prozent weniger Birnen als im Vorjahr, über 60 respektive über 70 Prozent weniger Zwetschgen und Aprikosen, hat Agristat, der statistische Dienst des Bauernverbands, erhoben, wie die «Bauernzeitung» schreibt. Gemäss dem Bundesamt für Landwirtschaft mussten allein im Juli 680 Tonnen Eisbergsalat importiert werden – im Jahr davor waren es 0,3 Tonnen. Und die Hagelversicherung Schweiz vermeldet das schlimmste Jahr in ihrer 140-jährigen Geschichte.
«Es ist nicht so lange her, da hätte ein Jahr wie dieses in der Schweiz eine Hungersnot ausgelöst», sagt Christoph Johner.
Johner steht in seinem Lager im freiburgischen Kerzers, hinter dem Hof die Hauptstrasse, über die die Lastwagen der Grossisten donnern, um die Produkte aus der Gemüsekammer der Schweiz, dem Seeland, abzuholen. Als Abschätzer der Hagelversicherung, der Schäden bei den versicherten Bauern beurteilt, war Johner dieses Jahr so viel unterwegs wie noch nie. Daneben musste er die Krise auf seinem eigenen Hof managen. In der Hand hält er einen Teil der Ernte – auffallend kleine, goldschalige Zwiebeln. «Das Lager ist gut ein Drittel voll», schätzt er.
Auf seinem gepanzerten Telefon sucht er die Bilder, die er im Sommer gemacht hat. Traktoren, die im Wasser auf den Feldern absinken, Dämme, die nicht halten, Zucchini im Schlamm. Johner wollte das Jahr festhalten, die Dokumentation eines katastrophalen Sommers für die Nachwelt. «Aber wer weiss, vielleicht wird das in ein paar Jahren gar nichts mehr Besonderes, sondern ganz normal sein», sagt Johner.
Damit könnte der Gemüsebauer recht haben.
Warm und unberechenbar
2021 mag wie ein Ausnahmejahr wirken, aber die Extremwetter sind für die Schweizer Landwirtschaft längst nicht mehr nur isolierte Vorfälle.
2003: Jahrhundert-Hitzewelle.
2014: Dauerregen und das Aufkommen eines neuen Parasiten: der Kirschessigfliege, auch Suzukifliege genannt.
2015: Noch eine Jahrhundert-Hitzewelle.
2017: Frost.
2018: Dürre.
Und jetzt dieses Scheissjahr.
Die Häufung der Wetterkapriolen kommt nicht von ungefähr, sie ist ein direktes Resultat des in Windeseile voranschreitenden Klimawandels – auch wenn das auf den ersten Blick widersprüchlich wirkt. «Ein verregneter, kalter Sommer ist allgemein nicht, was man vor dem Hintergrund der Klimaerwärmung erwartet», sagt Annelie Holzkämper, die den Einfluss der Klimaerwärmung auf die Schweizer Landwirtschaft für das Bundeskompetenzzentrum Agroscope erforscht. «Aber mit dem Klimawandel nimmt eben auch die Variabilität zu.»
Variabilität bedeutet unberechenbares Wetter. Und was der Bauer nicht kennt, könnte ihn bald fressen, denn: «Wie dieser Sommer eindrücklich zeigt, wird die Zunahme der Variabilität die grössere Herausforderung an die Landwirtschaft darstellen als die Erwärmung», sagt Holzkämper.
Aber auch die Erwärmung hat ihre Tücken. Das liegt unter anderem am Frost. Wenn die Pflanzen sich unter den steigenden durchschnittlichen Temperaturen schneller entwickeln, schneller in die Blüte kommen, sind sie damit auch anfälliger für Frost. «Und Frost wird es in der Schweiz auch weiterhin geben», sagt Holzkämper. Auch in Bezug auf die Häufung von Hagel wird ein Zusammenhang mit dem Klimawandel vermutet, das ist allerdings noch nicht eingehend erforscht, entsprechende Projekte laufen.
Es wird also zunehmend schwieriger für die Schweizer Landwirtschaft.
Man kann versuchen, der Unberechenbarkeit des Wetters mit Diversifizierung zu begegnen. Einmal bei den Sorten und Arten, wie Seelandbauer Johner, der über 65 verschiedene Kulturen anbaut, oder wie die Wahlwalliserin Thétaz, die nebst Wein und Aprikosen auch Schafe hat. Und auch Diversifizierung in der Betriebsführung ist nötig, wie bei Johner, der nebenbei für die Hagelversicherung arbeitet, und bei Thétaz, die im Nebenjob Gemüse ausliefert.
Aber damit allein ist es nicht getan. Anpassung ist auch in anderen Bereichen dringend angezeigt. Und hier verbirgt sich auch schon das nächste Risiko: Maladaption, oder: die falsche Form der Anpassung.
Wie das aussehen könnte, hat Holzkämper in einer Studie über Mais untersucht, deren Resultate sich auf andere Sorten übertragen lassen.
Mehr Potenzial, aber auch mehr Risiko
Dazu muss man wissen: Höhere Temperaturen sind für sich allein auch eine Chance. Sie ermöglichen den Anbau neuer Kulturen, und sie verlängern die potenziellen Anbauzeiten. Es böte sich also beispielsweise an, spätreife Sorten anzupflanzen, die länger auf dem Feld stehen und Biomasse aufbauen können – also letztlich mehr Ertrag ergeben. Doch damit folgt auch ein Risiko: Eine längere Wachstumsperiode bedeutet eben auch, dass länger etwas schiefgehen kann, besonders im Fall von Dürren und Hitzestress.
Das heisst: Die Pflanzen mit längerem Wachstumszyklus brauchen mehr Wasser. Das wiederum ist ungünstig, weil der Niederschlag in den Sommermonaten tendenziell abnimmt. «Auch wenn wir in der Schweiz vergleichsweise reichlich Wasser haben, könnte es langfristig zu Interessenkonflikten zwischen Landwirtschaftsbetrieben und Trinkwasserverteilern kommen», sagt Holzkämper. Mehr noch: «Bei starkem Niedrigwasser leiden Fische und andere aquatische Organismen, und auch die Wasserqualität wird negativ beeinflusst.» Spätreife Sorten führten zwar mittelfristig zu einem Anstieg der Erträge, wenn die Wasserlimitierungen immer mehr zunähmen, könne das bis Ende Jahrhundert aber kippen.
Die Alternative wären frühreife Sorten, die ein geringeres Risiko an Verlust bringen, aber auch einen geringeren Ertrag.
Ein weiterer, auf den ersten Blick positiver Effekt der wärmeren Temperaturen ist, dass man mehrere Kulturen pro Jahr anbauen kann. Aber auch das ist nicht ungefährlich. «Das kann zu einer Intensivierung der Landwirtschaft führen, mit möglichen negativen Umweltauswirkungen wie zum Beispiel höherem Risiko von Wassernutzungskonflikten, mehr Auswaschung von Nährstoffen und Anreicherung von Pestiziden in den Böden», sagt Holzkämper.
Intensivere Landwirtschaft bedeutet intensivere Düngung, wodurch Stickstoff und Nitrat in die Böden gelangen und auch mehr Lachgas aus den Böden in die Atmosphäre steigt. Dazu kommt die Verdichtung durch vermehrten Maschineneinsatz, der Humus erodiert – und das bringt wieder eine Reihe von neuen Problemen.
«Intensive Landwirtschaft bringt potenziell negative Umweltauswirkungen mit sich», sagt Holzkämper. «Gleichzeitig wird die inländische Produktion eher noch wichtiger, wenn man bedenkt, dass die Schweiz im Vergleich zu manchen Importländern bessere Wasserreserven hat.»
Kurz: Die Lage ist vertrackt. Will die Schweizer Landwirtschaft nicht den Ast absägen, auf dem sie sitzt, muss sie zwangsläufig ökologischer und nachhaltiger werden.
Doch dafür bräuchte sie den entsprechenden politischen Rückenwind.
Zwei Betriebe, viele Sorgen
Auf dem Hof von Ilona Thétaz arbeiten gerade die Spengler am Dach, eine nötige Investition, die sie sich nach diesem Jahr eigentlich nicht mehr leisten kann. Dass Umweltschäden und Klimaerwärmung ein Problem sind, muss man ihr nicht erzählen, sie macht Bio aus Überzeugung, weil sie kein Verständnis hat für den «ertragsgetriebenen Einsatz von Pestiziden und Herbiziden». Während der Aprikosenhain neben ihrem sauber gepützelt daherkommt, wuchert zwischen ihren Bäumen das Grün. Ihr gefällt das so, das Lebendige.
Für gewöhnlich fährt sie gut damit: Mit ihren 5 Hektaren stemmt ihr Betrieb fast 10 Prozent der Produktion der Bio-Aprikosen der Schweiz. «Die Nachfrage ist immer grösser als das Angebot», sagt sie. «Aber wenn dir 90 Prozent der Ernte fehlen, spielt das auch keine Rolle mehr.» 200’000 Franken hat sie allein wegen der Aprikosen «hinderschi» gemacht. 40 Prozent der Ernte gingen beim Frost im Frühling drauf, der Rest fiel dem verheerenden Sommer zum Opfer. «Wenn alles dem Frost zum Opfer gefallen wäre, hätte ich mir wenigstens die Erntekosten gespart», sagt sie, während sie einem der drei Hunde auf dem Hof den Kopf tätschelt.
Versicherung hat Thétaz keine, zu teuer. Was sie bekommt, ist eine Ausfallentschädigung von Bund und Kanton von 32’000 Franken. «Wenn du dich entscheiden musst, ob du das bisschen Geld auf deinem Konto lieber in ein neues Spritzmittel investierst oder ein Geschenk für deine vierjährige Tochter kaufst …», sie schüttelt den Kopf. «Irgendwann findest du dann auch: Fuck you.»
Thétaz hat den Hof nach ihrer Winzerlehre 2017 via Erbvorbezug gekauft, damals noch praktisch ohne Land, und seither Stück um Stück ausgebaut, unter anderem mithilfe eines Crowdfundings. Zwecks Publicity machte sie damals bei der SRF-Sendung «Landfrauen» mit. Das Crowdfunding war ein Erfolg. «Jetzt müsste ich eigentlich die Gegenleistungen verschicken, aber ich hab noch nicht mal liquide Mittel für die Briefmarken.»
Auf dem Küchentisch liegt ein Businessplan, den Thétaz zusammen mit ihrem Partner, einem Agronomen, erstellt hat. Entwicklung, Projekte, alles drin. Das Ziel: nicht länger von Direktzahlungen abhängig sein, sondern vom Boden und den Tieren leben zu können. «Letztlich sind wir ein landwirtschaftliches Start-up.» Nur ist es als solches fast unmöglich, Kredite zu bekommen – zu wenig Sicherheiten, zu wenig Einkommen. Gerade einmal die Alternative Bank hat nicht von vornherein Nein gesagt.
Gleichzeitig hat sie ein Projekt beim Innovationsfonds von Biosuisse eingereicht, mit dem sie den Food-Waste auf dem Betrieb reduzieren will – eine Limonade aus den unverkäuflichen Aprikosen. Das Projekt wurde abgelehnt. «Genau jetzt, wo Investitionen so wichtig wären, fehlt es schlicht an flüssigen Mitteln.»
«Mit Bürokratie torpediert»
Das Problem, weiss Thétaz, haben viele. Ein Bekannter von ihr ist letztes Jahr plötzlich an einem Herzinfarkt verstorben. «Der Existenzdruck ist enorm hoch, das spiegelt sich auch in den Suizidraten.» Dennoch sei das Problembewusstsein unter den Landwirten da. «Viele Bauern sagen jetzt, wir müssen ökologischer arbeiten, wir wären bereit dazu – aber die Umstellung für eine Biozertifizierung kostet schnell mal eine Million an Investitionen.»
Der Bund gewährt zwar Kredite ohne Zins, die in 25 Jahren zurückbezahlt werden müssen, «das deckt 50 Prozent, für den Rest müssen wir selbst aufkommen, aber wie soll das gehen, wenn wir Mühe haben, AHV und Pensionskasse einzuzahlen». Thétaz ist wütend. Manchmal schmeisse sie auch mal etwas an die Wand, weil es ihr so ausweglos erscheint. «Wir wollen uns verändern, aber wir können auch nicht schneller tanzen, als die Musik spielt.»
Christoph Johner ist nicht wütend. Im Gegenteil, er strahlt so eine Ruhe aus, dass man meinen könnte, selbst der beissende Wind über dem Seeland um ihn herum werde stiller. Was ihn und Thétaz verbindet: Auch er lässt nichts unversucht, um seinen Hof auch unter den sich schnell verändernden Bedingungen über Wasser zu halten. Für den Gemüsebauern war schon 2020 ein schlechtes Jahr – die Ernte gut, aber durch Covid verlor er schlagartig einen grossen Teil seiner Abnehmerschaft: Restaurants und Marktbesucherinnen. Fast über Nacht stellte er damals einen Lieferservice auf die Beine. «Wenn dir das Wasser bis zur Nase steht, musst du schwimmen, nicht jammern», sagt er.
In diesem Jahr hat Johner insgesamt rund 40 Prozent der Ernte verloren, eine seiner zwei Angestellten konnte er für dieses Jahr nicht ganzjährig verpflichten. Im Grossen und Ganzen hat die Familie die Krise aber gut überstanden, auch weil Johners Frau 40 Prozent in der Pflege arbeitet – «ein Privileg», sagt er. Und auch weil Johner selbst ursprünglich eine KV-Lehre gemacht hat, dazu die Betriebsmeisterprüfung, was vieles einfacher macht.
Johner baut mehrheitlich konventionell an, nur den Weizen produziert er gemäss IP-Richtlinien, er setzt aber wenn immer möglich Produkte aus dem Biosektor ein, nutzt Drohnen, um gezielt gegen Schädlinge vorzugehen, und arbeitet, um die Böden zu entlasten, nur mit leichten Traktoren. Aus Verantwortungsgefühl, denn belohnt wird er als Konventioneller für das Einsetzen von Biomitteln nicht: «Ich muss hinter dem Lebensmittel, das ich produziere, stehen können, meinen Kunden gute, gesunde Ware verkaufen können, an die nächste Generation denken.» In einem Jahr wie diesem sei er trotzdem froh, dass er einmal gegen Krautfäule spritzen könne, deshalb ist er nicht biozertifiziert. «Im Biobereich ist bei den Zwiebeln dieses Jahr viel kaputtgegangen, weil es keine wirklich wirksamen Spritzmittel gibt.»
Die Familie Johner betreibt den Hof in fünfter Generation – auf ihren 23 Hektaren wachsen Pflanzen, deren Anbau für ihre Vorfahren noch undenkbar waren. Auberginen, Chilis, faustgrosse Ingwerknollen. Dass die Klimaerwärmung eine grosse Herausforderung darstellt, ist auch ihm sehr bewusst. Zusammen mit 50 anderen Höfen hat er eine Bewässerungsgenossenschaft mitbegründet, die in Dürrezeiten nicht auf Oberflächengewässer und Grundwasser zurückgreift, sondern auf grosse stehende und fliessende Gewässer, die Broye, die Aare, die Seen. Ein 10-Millionen-Projekt, das durch Bundesgelder unterstützt wird. Für Johner, Sekretär der Genossenschaft, auch eine ernüchternde Erfahrung – Auflagen von Gemeinden und Kanton und Einsprachen von Umweltbehörden machen ihm das Leben schwer. «Da will man etwas Gutes für die Umwelt tun und wird mit irrsinniger Bürokratie torpediert.»
Eine ähnliche Erfahrung hat Johner in einem anderen Bereich gemacht. Bei der Stromgewinnung sieht er grosses Potenzial in der Landwirtschaft: «Wir haben so viel Dachfläche für Solarzellen oder Platz für Windräder – dem Guschti, dem Jungrind, ist das doch gleich, ob über ihm ein Rad dreht», sagt er. Aber auch hier Ernüchterung, als er Solarzellen auf die gut 300 Quadratmeter Dach des Hofs montieren wollte: «Die Kosten wären das eine gewesen, aber irgendjemand muss die Leitung zum Haus ziehen und den Verstärker bezahlen, und das kann ich mir nicht leisten, ob ich will oder nicht.» Johner stöhnt. «Man wird von äusseren Bedingungen zurückgebunden – Raumplanungsgesetz, Umweltgesetz, Gemeinden, Anwohner, die sich wegen des Gestanks des Miststocks beschweren.» Das Spannungsfeld sei riesig, überall Konfliktlinien.
Vollgas mit Handbremse
Johner und Thétaz wollen beide nicht einfach Opfer sein, sie wollen handeln, den Problemen begegnen, die sich der Landwirtschaft stellen. Dabei sind sie durchaus auch selbstkritisch, hinterfragen sich und das System. Bei beiden zeichnet sich am Ende nebst grossem Tatendrang auch Frustration ab. Und Ratlosigkeit.
Das ist nicht weiter erstaunlich. Denn die Schweizer Agrarpolitik ist ein kaum überschaubares Dickicht an Interessenvertretern, Zusammenhängen, Auflagen – und Widersprüchen.
«Wir haben hier ein Gefährt, das mit staatlichen Mitteln Vollgas und gleichzeitig mit gezogener Handbremse in Richtung Nachhaltigkeit fährt», sagt Andreas Bosshard. Bosshard ist Agrarökologe, Co-Autor des «Weissbuchs Landwirtschaft», ehemaliger Geschäftsführer von Vision Landwirtschaft und unterdessen für die unabhängige Landwirtschaftsberatung Ö+L tätig. «Die Hälfte der Mittel wird als Anreiz in Richtung Ökologisierung eingesetzt, und die andere Hälfte der Mittel wird genutzt, um diese Anreize zu neutralisieren.»
Ein Grund dafür sind laut Bosshard die Pauschalzahlungen, die 50 Prozent der Mittel an die Landwirtschaft ausmachen und die nicht an Gegenleistungen geknüpft sind. «Diese Gelder fliessen praktisch eins zu eins an die vorgelagerten Branchen – besonders in Futtermittel oder an die Agrochemie. Und was dort eingekauft wird, ist in den allermeisten Fällen nicht nur schlecht fürs Portemonnaie der Bauern, sondern auch schlecht für die Umwelt und das Klima.»
Die Schweiz investiert 3,5 Milliarden Franken an Steuergeldern jährlich in die Landwirtschaft – fünf- bis zehnmal so viel wie das nahe Ausland – mit dem Auftrag, den Verfassungsauftrag einer nachhaltigen Bodennutzung umzusetzen. Dazu gehören klare Umweltziele in den Bereichen Böden und Biodiversität, Emissionen von Methan, CO2, Lachgas und Ammoniak sowie bezüglich Nitrat-, Stickstoff- und Phosphorgehalt in den Gewässern.
3,5 Milliarden Franken – und die Landwirtschaft verfehle seit 15 Jahren mehrheitlich alle 13 Umweltziele, sagt Bosshard. «Wir sind in den meisten Bereichen kein My vorwärtsgekommen. Dabei sind die Lösungen für eine nachhaltige, zukunftsgerichtete Entwicklung der Landwirtschaft längst bekannt – sie werden einfach nicht umgesetzt.»
Wie verfahren die Situation ist, zeigt die parlamentarische Reaktion auf die vom Bund verfasste Botschaft zur Agrarpolitik 22+, die unter anderem das Erreichen der Umweltziele vorantreiben und Fehlanreize in Form von Pauschalzahlungen reduzieren wollte. Ein wichtiger Schritt und ein zäh verhandelter Kompromiss. Doch er scheiterte auf den letzten Metern: Im März entschied der Nationalrat, die Vorlage zu stoppen, und folgte damit dem Ständerat.
Die Vollbremsung kam dank einem geschickt eingefädelten Deal des Schweizer Bauernverbandes zustande: Dieser versprach der FDP, die Konzernverantwortungsinitiative abzulehnen, wenn die Liberalen im Gegenzug für die Sistierung stimmen – zum Nachsehen von Links-Grün, GLP und Umweltverbänden, die sich gegen die Sistierung stellten.
Ilona Thétaz und Christoph Johner fühlen sich beide nicht wirklich vertreten vom Bauernverband. Aber auch mit der Agrarpolitik 22+ können sie wenig anfangen. «Eine Schlange, die ihren Schwanz frisst», sagt Thétaz. «Das Papier wird mit jeder Reform mehr, die Bürokratie wächst jetzt schon zu vielen über den Kopf», sagt Johner.
Ein Papiermonstrum
Zugegeben – die Botschaft zur Agrarpolitik mit ihren 258 Seiten mutet man selbst als geübte Vielleserin von Beamtendeutsch spätestens nach der Hälfte lieber dem Cheminée als dem Geist zu.
Die Bürokratie wäre kaum weniger geworden. Und doch werden gewisse Probleme, die Thétaz und Johner beschrieben haben, darin konkret angegangen.
Zum Beispiel die Hilfe zur Finanzierung von Solarzellen, Wasserkraftwerken und Biogasanlagen mittels zinsfreier Investitionskredite.
Bei der befristeten Beteiligung des Bundes an Prämien von Ernteversicherungen.
Oder bei Investitionshilfen für innovative Technologien und zur Reduktion negativer Umweltauswirkungen.
Das alles kommt vorläufig nicht zustande. Zwar werden einzelne Punkte trotz Sistierung aufgegriffen – zum Beispiel in Form der parlamentarischen Initiative «Das Risiko beim Einsatz von Pestiziden reduzieren», die die Halbierung der Risiken durch Pestizide bis 2030 vorsieht – die konkrete Umsetzung der Agrarpolitik 22+ ist aber für Jahre auf Eis gelegt.
«Für die Bauern bedeutet das über viele weitere Jahre grosse Planungsunsicherheit», sagt Agrarökologe Bosshard. «Da hat der Bauernverband der Landwirtschaft sicher keinen Gefallen getan.»
Offiziell lehnt der Bauernverband die Agrarpolitik 22+ mit dem Argument ab, dass der Selbstversorgungsgrad um 4 Prozentpunkte – von 56 auf 52 sinken würde.
Das ist kurzsichtig, weil die weitere Schädigung von Böden, Wasser und Biodiversität langfristig die grösste Bedrohung für die Versorgungssicherheit darstellt. Und es ist heuchlerisch – denn wer die Versorgungssicherheit tatsächlich erhöhen will, müsste es mit der intensiven Tierproduktion aufnehmen.
Davor aber hütet sich der Bauernverband wie der Teufel vor dem Weihwasser.
Ohne die Konsumentinnen geht es nicht
Die Tierproduktion ist die grösste landwirtschaftliche Verursacherin von Emissionen. Vor allem der mittlerweile gigantische Import von Futtermitteln und die hohen Tierbestände verursachen enorme Nährstoffüberschüsse in Form von Gülle und Mist, welche Gewässer, Wälder und die Biodiversität erheblich schädigen. Die Schweiz nimmt bei diesen Emissionen europaweit einen Spitzenplatz ein – an zweiter Stelle kurz nach den Niederlanden.
Hinzu kommt, dass die intensive Tierhaltung eine enorme Ressourcenverschwendung darstellt. Zum Beispiel bei der Milchproduktion: «Mit den Ackerflächen, auf denen im Ausland die Futtermittel für Schweizer Milchkühe wachsen, könnten fast zwei Millionen Menschen ernährt werden», sagt Bosshard.
Und das ist noch nicht alles: Trotz erheblichen Futtermittelimporten werden in der Schweiz 80 bis 90 Prozent der landwirtschaftlichen Flächen für die Futtermittelproduktion genutzt – darunter weite Strecken besten Ackerlands, auf dem mehr Nahrungsmittel hergestellt werden könnten, wenn die Pflanzen nicht den Umweg über das Tier machen würden, bis sie auf dem Teller landen.
Aber es wäre falsch, diese Entwicklung der immer intensiveren Tierhaltung allein den Landwirtinnen und ihren Verbänden anzulasten. «In einem Punkt muss man dem Bauernverband recht geben: Wenn die Landwirtschaft einfach weniger Fleisch produziert, heisst das nicht, dass auch weniger Fleisch konsumiert wird, sondern es würde einfach mehr importiert», sagt Bosshard. Die Probleme werden sich nicht lösen, wenn sich der Konsum nicht verändert. «Deshalb ist es richtig, dass Bund und Verbände unterdessen von Land- und Ernährungswirtschaft sprechen und auch den Handel und den Konsum mit in die Pflicht nehmen wollen.»
Ähnlich verhält es sich beim Food-Waste. Gemäss Bund sind 25 Prozent der Umweltbelastung durch die Ernährung hierzulande auf vermeidbare Lebensmittelverluste zurückzuführen. Bei der Landwirtschaft fallen 9 Prozent dieser Verluste an, oft weil die Produkte wie Obst und Gemüse nicht den Anforderungen der Grossisten entsprechen, während bei der Lebensmittelindustrie und in Privathaushalten am meisten weggeworfen wird – 37 und 39 Prozent.
«Wir müssen das ganze Ernährungssystem neu denken. Neben der Landwirtschaft haben auch der Handel und der Konsument eine entscheidende Rolle», sagt Bosshard. «Wenn wir unsere Ernährungsgewohnheiten nicht anpassen, insbesondere hin zu einem geringeren Konsum tierischer Produkte, und dabei nicht unseren Teil dazu beitragen, den unhaltbaren Food-Waste zu reduzieren, dann ist die Landwirtschaft bei der Lösung der Probleme auf verlorenem Posten.»
Auch Ilona Thétaz und Christoph Johner sehen einen Teil der Verantwortung bei den Konsumentinnen: «Viele haben den Bezug zu Nahrungsmitteln verloren – sehen in der Landwirtschaft eine Bedrohung und Ernährung als etwas, über das man sich optimiert», sagt Thétaz. «Früher hat man fürs Essen und Wohnen am meisten ausgegeben. Das ist längst nicht mehr so. Vielleicht hat das Produkt heute einfach zu wenig Wert», sagt Johner. Es brauche einen besseren Dialog zwischen Landwirtschaft und Konsumenten, finden beide.
Dass auch aufseiten der nicht landwirtschaftlichen Bevölkerung Redebedarf herrscht, zeigt sich an der Häufung landwirtschaftlicher Initiativen in den letzten Jahren: Hornkuh, Ernährungssicherheit, Pestizide, Trinkwasser – und nächstes Jahr voraussichtlich Massentierhaltung.
Doch ob und wie auch immer die Politik die Weichen stellen wird: Die Bäuerinnen müssen am Ende die Entscheide auch mittragen – und umsetzen wollen: «Man kann nichts gegen den Willen der landwirtschaftlichen Betriebe durchstieren, man muss sie mit auf den Weg nehmen», sagt Bosshard dazu.
Agrarökologe Bosshard glaubt, dazu brauche man nicht auf die Politik zu warten, die derzeit in Sachen Landwirtschaft weitgehend stillsteht. «Das Potenzial und das Interesse von Bauern und Bäuerinnen, ihren Teil zu einer nachhaltigen Landwirtschaft beizutragen, ist auch ohne politische Weichenstellungen gross.»
Bauern brauchen Hilfe
Ein Pilotprojekt, das der Bund in den Kantonen Thurgau und Glarus durchführt, versucht dieses Potenzial in Zusammenarbeit mit den beteiligten Landwirtschaftsbetrieben umzusetzen. Dabei wird eine individuelle, unabhängige Beratung angeboten, bei der gemeinsam mit verschiedenen Experten aus Ökologie, Ökonomie und Forschung Lösungen gesucht werden, wie ein Betrieb nachhaltiger aufgestellt sein kann. Miteinbezogen wird auch der soziale Bereich, wo beispielsweise angesichts der oft sehr grossen Arbeitsbelastung bei vielen dringender Handlungsbedarf besteht. «Es braucht externe Unterstützung, man kann nicht von den Bäuerinnen und Bauern erwarten, dass sie alles allein lösen», sagt Bosshard, der am Projekt beteiligt ist.
Individuelle Einzelberatung ist sicher kein einfacher Weg, aber einer, der sich laut Bosshard lohnen kann: «Die Optimierungspotenziale, die auf vielen Betrieben vorhanden sind, sind enorm», sagt er. Und in den allermeisten Fällen stünden die Betriebe am Ende auch wirtschaftlich besser da, was bestätigt, was bereits bekannt ist – «im Schnitt sind viele ökologische Produktionsweisen rentabler als konventionelle». Gerade auch in schwierigen Jahren wie diesem bewähre sich die ökologische Landwirtschaft, sagt Bosshard, da sie langfristig resilientere Produktionssysteme schafft.
Das mit der Resilienz sieht Ilona Thétaz noch nicht auf ihrem Hof. «In einem guten Jahr können wir sicher die gleichen Erträge erzielen – in einem schlechten Jahr wie heuer mache ich bei den Aprikosen auch mal 30 Prozent mehr Verluste als Konventionelle.» Das Pilotprojekt wiederum hält sie für «extrem nützlich». Sie selbst sucht gerade auf eigene Faust nach Ökonomen, die sie bei der Betriebsführung beraten.
Auch Seelandbauer Christoph Johner begrüsst das Pilotprojekt. «Das braucht es dringend – unabhängige Berater, die keinen Dünger, kein Pflanzenschutzmittel oder Futtermittel verkaufen wollen.» In seiner Freizeit berät Johner andere Landwirtinnen, etwa solche, denen die Bürokratie zu viel wird, gegen einen kleinen Unkostenbeitrag. Wichtig ist ihm, dass bei Beratungen wie im Pilotprojekt auch Praktiker dabei sind, nicht nur «Gstudierti», und dass die Ökologisierung nicht zu dogmatisch wird.
All die Jahre in der Landwirtschaft hätten ihn eins gelehrt: «Nichts ist nur richtig, nichts ist nur falsch.»
In einer früheren Version dieses Textes war die Rede von Sonnenkollektoren, die für die Stromgewinnung verwendet werden. Kollektoren wandeln aber Sonnenenergie in Wärmeenergie um. Für die Stromgewinnung werden hingegen Solarzellen verwendet. Wir haben die entsprechenden Stellen angepasst.