Was diese Woche wichtig war

Scholz als deutscher Kanzler vereidigt, Gross­britannien liess Afghanen im Stich – und Spionage-SMS aus Zug

Woche 49/2021 – das Nachrichten­briefing aus der Republik-Redaktion und die aktuelle Corona-Lage.

Von Reto Aschwanden, Oliver Fuchs, Daniel Graf, Bettina Hamilton-Irvine, Marie-José Kolly, Marguerite Meyer und Cinzia Venafro, 10.12.2021

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Deutschland: Die Scholz-Regierung ist im Amt

Darum geht es: Wochenlang wurde verhandelt, nun steht die Ampel-Koalition, und die neue Bundes­regierung ist im Amt. Am Dienstag haben SPD, Grüne und FDP den 177-seitigen Koalitions­vertrag unterschrieben, am Mittwoch wurde Olaf Scholz (SPD) im Parlament zum neuen Bundes­kanzler gewählt.

Warum das wichtig ist: Nach 16 Jahren geht die Ära von Angela Merkel zu Ende – und Deutschland erhält ein Regierungs­bündnis, das auf Bundes­ebene ein Novum ist. Ein Wahl­versprechen hat Scholz bereits eingelöst: Die Kabinetts­posten der Ampel-Koalition sind – trotz deutlichen Männer­überhangs bei den FDP-geführten Ministerien – geschlechter­paritätisch verteilt. Für eine Über­raschung sorgte die Ernennung von Nancy Faeser zur Innen­ministerin. Die bisherige Vorsitzende der SPD Hessen erklärte die Bekämpfung des Rechts­extremismus zu ihrer vordringlichen Aufgabe. Diskussionen hatte es zuletzt vor allem noch um das Gesundheits­ministerium gegeben, das nun Karl Lauterbach übernimmt. Der SPD-Politiker und studierte Epidemiologe gilt als führender Experte, polarisiert aber mit seiner klaren Position für strenge Corona-Massnahmen.

Was als Nächstes geschieht: Die Eindämmung der Pandemie wird für die Scholz-Regierung zur ersten akuten Bewährungs­probe. Bereits am heutigen Freitag soll eine Verschärfung des Infektionsschutz­gesetzes im Bundestag beschlossen werden. Der im Parlament heftig diskutierte Vorschlag der Ampel-Koalition sieht unter anderem eine Impf­pflicht für Pflege­personal vor. Zweites Haupt­thema der neuen Regierung: die Klima­krise. Eine Schlüssel­rolle kommt dabei den Grünen zu: Vize­kanzler Robert Habeck steht dem Ministerium für Wirtschaft und Klima­schutz vor, Annalena Baerbock will als Aussen­ministerin die inter­nationale Bewältigung der Krise vorantreiben.

Ukraine: Keine Entspannung nach Gipfel­treffen zwischen Biden und Putin

Darum geht es: US-Präsident Joe Biden und der russische Präsident Wladimir Putin haben sich bei einem Online-Gipfeltreffen ausgetauscht. Biden warnte Putin vor einem Einmarsch in die Ukraine. Putin wiederum verlangte eine Garantie, dass die Nato keinesfalls die Ukraine als Mitglied aufnehme. Biden lehnte es strikt ab, Russland dies­bezüglich ein Vetorecht zuzugestehen.

An einem Tisch? Nicht wirklich. US-Präsident Joe Biden (ganz rechts) im Videocall mit seinem russischen Amts­kollegen Wladimir Putin. White House Photo/UPI Photo/Newscom/picture alliance

Warum das wichtig ist: Das Verhältnis zwischen den beiden Super­mächten ist stark angespannt. Russland verschiebt seit Wochen Truppen an die Grenze zur Ukraine. Nach amerikanischen Angaben könnten bis Anfang 2022 um die 175’000 Soldaten vor Ort sein – genug für eine Invasion. Sollte Russland tatsächlich in die Ukraine einfallen, würden die Nato-Länder laut Biden «mit starken wirt­schaftlichen und anderen Massnahmen» reagieren. Diese dürften heftiger ausfallen als die Sanktionen, die verhängt wurden, nachdem Russland 2014 die Krim annektiert hatte.

Was als Nächstes geschieht: Dass es überhaupt ein Treffen gegeben habe, sei bereits ein gutes Zeichen, bemerkte Wladimir Putins Sprecher. Eine Entspannung ist aber nicht in Sicht. Die USA wollen der Ukraine weitere Waffen­systeme zuliefern, sollte Russland eine militärische Eskalation suchen und Truppen in osteuropäische Länder schicken. Auf wirt­schaftlicher Ebene drohen die USA mit einer Blockade der neuen Gaspipeline Nord Stream 2 von Russland nach Deutschland, was sie aus Rücksicht auf Deutschland eben erst noch ausgeschlossen hatten.

Grossbritannien: Chaos bei Evakuierungen aus Kabul kostete Menschen­leben

Darum geht es: Gross­britannien hat seine afghanischen Helfer im Stich gelassen. Das sagte diese Woche ein ehemaliger Angestellter des Krisen­stabs im Aussen­ministerium. Laut dem Whistle­blower herrschte in seiner Behörde während des Falls von Kabul an die Taliban das nackte Chaos. Dadurch blieben Zehn­tausende von Hilfs­gesuchen liegen. Das Fazit des Whistle­blowers: «Es ist klar, dass einige der Zurück­gelassenen seither von den Taliban ermordet wurden.»

Die Taliban sind schon da: Am Flughafen Kabul, als im August 2021 Tausende Afghaninnen versuchten, aus dem Land zu fliehen. Sayed Khodaiberdi Sadat/Anadolu Agency/picture alliance

Warum das wichtig ist: Der über­hastete Rückzug der westlichen Truppen führte dazu, dass Afghanistan sehr schnell an die Taliban fiel. Nach dem Fall von Kabul Mitte August wollten sich Zehn­tausende von Afghaninnen ausser Landes retten. Gross­britannien flog damals etwa 15’000 Menschen aus, deutlich mehr als Länder wie Deutschland. Noch viel mehr Menschen baten aber vergeblich um Hilfe. Nun erhob ein ehemaliger Beamter vor einem parlamentarischen Ausschuss schwere Vorwürfe: Mails seien unbeantwortet geblieben, Entscheide über Evakuierungen willkürlich getroffen worden. Mitten in der Krise habe der Krisen­stab keine Über­stunden angeordnet, um die Work-Life-Balance der Angestellten nicht in Schief­lage zu bringen, und der Chef des diplomatischen Dienstes sei in den Ferien gewesen. Zudem habe es eine Anweisung aus dem Stab von Premier­minister Johnson gegeben, dass Tiere evakuiert werden müssten, die sich in der Obhut einer vor Ort tätigen britischen Tierschutz­organisation befanden. Der Transport der Tiere habe Kapazitäten gebunden, die dann bei der Evakuierung von Menschen fehlten.

Was als Nächstes geschieht: Justiz­minister Dominic Raab, der im August noch Aussen­minister war, sagt, ein Teil der Vorwürfe verkenne die damalige Situation vor Ort. Zudem bezeichnet er den Whistle­blower als «eher nach­geordneten Büro­angestellten». Gross­britannien will weitere 20’000 afghanische Zivilisten ins Land holen, doch dieses Programm ist noch nicht angelaufen. So verstecken sich derzeit fast 100 ehemalige Mitarbeiterinnen des British Council in Afghanistan vor den Taliban, weil ihnen die Einreise nach Gross­britannien nicht erlaubt wurde.

Schweiz: Spionage­vorwürfe gegen Zuger Tech-Firma

Darum geht es: Die Mitto AG aus Zug ist laut dem Journalisten­netzwerk «Bureau of Investigative Journalism» und «Bloomberg News» in eine weltweite Spionage­affäre involviert. Die Vorwürfe sind happig: Ein Mitbegründer des Unter­nehmens soll Überwachungs­firmen den Zugang zu Daten von Handy­nutzerinnen verkauft haben. Konkret soll dabei etwa das Telefon eines hoch­rangigen Beamten des US-Aussen­ministeriums geortet worden sein.

Warum das wichtig ist: Nur Monate nach dem Pegasus-Projekt, das aufdeckte, wie die Software einer israelischen Firma für die Überwachung von Handys eingesetzt wurde, zeigen die Vorwürfe gegen die Mitto AG erneut, wie spionage­anfällig Mobil­telefone sind. Was das Zuger Unter­nehmen angeblich praktizierte, kommt ohne spezielle Software aus – und betrifft potenziell auch Durch­schnitts­bürger. Die Mitto AG verschickt weltweit SMS und andere Mitteilungen für grosse Tech-Unter­nehmen wie Google, Facebook und Alibaba, um deren Kundinnen den Zugang zu Online-Diensten über die sogenannte 2-Faktor-Authentifizierung zu ermöglichen. Dafür nutzt sie einen privilegierten Zugang zu Mobilfunk­netzen – der auf Vertrauen basiert. Denn das dafür genutzte System SS7 ist alt und schlecht geschützt. Es kann genutzt werden, um abzufragen, bei welchem Mobilfunk­mast sich eine Telefon­nummer zuletzt angemeldet hatte. Zudem können Nachrichten und Telefonate abgefangen und umgeleitet werden. Bereits 2017 kritisierte das amerikanische Ministerium für Inland­sicherheit gravierende Sicherheits­lücken bei der SS7-Authentifizierung.

Was als Nächstes geschieht: Der Eidgenössische Datenschutz- und Öffentlichkeits­beauftragte hat eine Vorabklärung eröffnet. Die Schweizer Bundes­anwaltschaft hat noch keine Stellung genommen. Die Mitto AG bestreitet die Vorwürfe vehement.

Israel: Neuer Hightech-Zaun riegelt Gaza­streifen ab

Darum geht es: Am Dienstag verkündete Israel die Fertig­stellung des verstärkten Sperrzaunes um den palästinensischen Gazastreifen. Die 65 Kilometer lange Anlage umfasst die ganze Grenze zwischen Gaza und Israel. Sie besteht aus einem sechs Meter hohen Grenzzaun, unter­irdischen Sensoren zum Aufspüren von Tunnel­bauten, Radar­anlagen, Unterwasser­geräten, Kameras und Wach­räumen.

65 Kilometer Ausgrenzung: Israel hat den Zaun um den palästinensischen Gazastreifen fertiggestellt. Ammar Awad/Reuters

Warum das wichtig ist: Der neue Grenzzaun verstärkt die bestehende Blockade des Gaza­streifens. Der dicht besiedelte Streifen am Mittel­meer wird von Menschen­rechts­organisationen als Freiluft­gefängnis bezeichnet. Seine palästinensischen Bewohnerinnen können nicht ausreisen, ausser sie erhalten eine Spezial­bewilligung von Israel – wie nun Christen zu Weihnachten. Die wirt­schaftliche Versorgungs­lage ist desolat. Erst kürzlich hat Israel die Einfuhr von Baumaterial für den Wieder­aufbau erlaubt – nachdem bei der jüngsten Eskalation im Mai dieses Jahres viele Gebäude zerstört worden waren. Der israelische Verteidigungs­minister Benny Gantz bezeichnet die neue Anlage als «eiserne Mauer». Sie soll Israel schützen vor Attacken der radikal­islamischen Hamas, die den Gaza­streifen kontrolliert. Im Gaza-Krieg von 2014 benutzten Hamas-Kämpfer ein ausgeklügeltes Tunnel­system, um nach Israel zu gelangen; nach dem Krieg wurden viele Tunnel von Israel zerstört. Doch diese Verbindungen werden auch für den Schmuggel von Alltags­gütern wie Lebens­mitteln, Medikamenten und Baumaterial benutzt.

Was als Nächstes geschieht: Die Abriegelung von Gaza dürfte die humanitäre Lage dort weiter verschlechtern. Im grösseren Kontext ist der Zaun auch eine Botschaft an den Iran, der die Hamas im Gaza­streifen unterstützt. Ein weiteres Signal in diese Richtung schickte Israel in der Nacht auf Dienstag, zumindest nach syrischen Angaben: Die Behörden dort machen Israel verantwortlich für einen Raketen­angriff auf ein iranisches Schiff mit Munition im Hafen von Latakia.

Der Corona-Lagebericht

Extrem ist das neue Normal. Vor einer Woche mussten wir Sie an dieser Stelle informieren, dass in der Schweiz mit 11’340 neuen Fällen der höchste Tageswert positiv auf Sars-CoV-2 getesteter Personen seit Beginn der Pandemie vermeldet wurde. Leider sind die Fallzahlen in dieser Woche weiter gestiegen. Am 6. Dezember gab es einen neuen Rekord, der Nikolaus brachte Lebkuchen und 12’742 Neuinfektionen. Und anders als in den Nachbar­ländern Österreich (wo die Fallzahlen mit dem harten Lockdown nun klar sinken) und Deutschland (wo sie seit einiger Zeit immerhin stagnieren) – deutet sich in der Schweiz noch keine Kehrtwende an.

Die Schweiz bricht fast täglich ihre eigenen Rekorde

Positiv getestete Personen: gleitender Mittelwert über 7 Tage

15. Oktober 2015. Mai 216. Dezember 2102000400060008000 Personen

Die Daten nach dem 6. Dezember sind vermutlich noch unvollständig, deshalb haben wir sie nicht berück­sichtigt. Stand: 9. Dezember 2021. Quelle: Bundesamt für Gesundheit

Damit ist auch in den Spitälern keine Entlastung in Sicht. Unterdessen müssen Tag für Tag mehr Menschen ins Spital als noch im Herbst, als viele ungeimpfte Reise­rückkehrerinnen krank waren – und der Bund die Zertifikats­pflicht stark ausweitete.

Besonders besorgnis­erregend: Es sind nun wieder sehr viele alte Menschen über 80 Jahre, die im Spital landen. Sie haben die geringsten Chancen, heil wieder nach Hause zu gehen.

Bald 100 Spitaleintritte pro Tag

Spitaleintritte: gleitender Mittelwert über 7 Tage

15. Oktober 2015. Mai 212. Dezember 21050100150200 Personen

Die Daten nach dem 2. Dezember sind vermutlich noch unvollständig, deshalb haben wir sie nicht berück­sichtigt. Stand: 9. Dezember 2021. Quelle: Bundesamt für Gesundheit

Ungebrochene Infektions­kurve, schleppende Drittimpfungs­kampagne, volle Spitäler – das sind düstere Aussichten. Und das noch bevor sich die neue Omikron-Variante in der Schweiz richtig bemerkbar macht. Noch immer ist vieles unklar, doch die Hinweise verdichten sich: Diese Variante ist sehr ansteckend, und sie kann wohl einen Teil des Immun­schutzes von geimpften und genesenen Menschen besser austricksen.

Sogar Staaten, die eine weit höhere Impfquote haben als die Schweiz – und darum vor einigen Monaten freedom days feierten –, führen nun wieder Mass­nahmen ein. In Gross­britannien gilt bald wieder Home­office wo möglich, Masken- und Zertifikats­pflicht. Und in Dänemark müssen Bars und Clubs um Mitter­nacht schliessen, sind Masken vielerorts wieder obligatorisch und werden Kinder früher in die Weihnachts­ferien geschickt.

Zum Schluss: Bloss nicht heulen beim Feuern

Eine Entlassung ist immer ein schwieriger Moment. Es gibt bessere und schlechtere Vorgehens­weisen – und jene von Vishal Garg, CEO des Online-Kredit­gebers Better.com. Er rief letzte Woche mehr als 900 Angestellte in einen Zoom-Call, um ihnen mitzuteilen, dass sie per sofort entlassen seien. So handelt ein harter Hund, der schon in der Vergangenheit für Schlag­zeilen sorgte, weil er Angestellte, die für seinen Geschmack zu langsam waren, in Mails als «doofe Delfine» beschimpfte. Aber halt, Garg hat ein Herz, das es ihm bei der Massen­entlassung fast zerriss. «Das ist das zweite Mal in meiner Karriere, dass ich das mache, und ich will das nicht machen», erklärte er zum Auftakt des Calls: «Das letzte Mal hab ich geweint. Ich hoffe, dieses Mal bin ich stärker.» War er, das Weinen überliess er seinen Ex-Angestellten.

Was sonst noch wichtig war

  • Serbien: An zwei Wochen­enden hinter­einander legten Demonstranten im ganzen Land den Verkehr lahm. Der friedliche, aber ungewohnt breite Protest richtet sich gegen ein geplantes Bergwerk zum Abbau von Lithium und ein neues Gesetz, das Enteignungen vereinfachen soll.

  • USA: Nachdem ein 15-Jähriger in Michigan vier Mitschülerinnen erschossen hat, wurden seine Eltern verhaftet und wegen fahrlässiger Tötung angeklagt. Sie hatten ihrem Sohn die halb­automatische Pistole zu Weihnachten geschenkt. Anklagen gegen Eltern sind in solchen Fällen selten; die zuständige Staats­anwältin sagte, sie wolle damit «eine Politik der Abschreckung» fördern.

Die Top-Storys

Ein Gangster-Rapper in Angst Sie waren 14 Jahre unzertrennlich, dann wollte sich der deutsche Rapper Bushido von seinem Manager und Clanchef Arafat Abou-Chaker trennen. Nun werden Bushidos Kinder von der Polizei zur Schule gefahren. «Spiegel TV» hat die Geschichte um Mafia, Millionen und Musik minutiös aufgearbeitet – inklusive eines reumütigen Interviews mit Achtfach-Vater Bushido.

Eine neue Art von Impfung Jedes Jahr infizieren sich weltweit rund eine Milliarde Menschen mit Grippe­viren, 290’000 bis 650’000 sterben daran. Was wäre, wenn es eine neue Art von Impfung dagegen gäbe, die viel effektiver wäre, gleichzeitig die nächste Pandemie stoppen und Millionen von Leben retten könnte? Wissen­schaftlerinnen arbeiten mit Hochdruck daran. Die Geschichte darüber schreibt das «New York Times Magazine».

Geheime Mächte ZDF info taucht mit der fünfteiligen Dokureihe in «Schatten­welten». Es geht um organisierte Kriminalität, Mega­konzerne und Propaganda­schlachten. Geschichts­unterricht, spannend erzählt wie ein guter Spionage­roman.

Illustration: Till Lauer

Was diese Woche wichtig war

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