Die da oben
Hoch über unseren Köpfen laufen die Vorbereitungen für eine neue Art von Krieg. China, Russland, die USA und Indien rüsten im Weltraum auf.
Von Rachel Riederer (Text), Tobias Haberkorn (Übersetzung) und Harrison Edwards (Illustrationen), 04.12.2021
Jede Armee zieht höheres Gelände dem niedrigen vor.
Ende Januar 2020 flogen zwei unbemannte russische Raumflugkörper in einer Umlaufbahn etwa 640 Kilometer über der Erde, in Richtung des amerikanischen Aufklärungssatelliten USA-245. Die russischen Flugkörper waren dem amerikanischen ungewöhnlich nahe gekommen, sie hatten sich in einer nahezu identischen Umlaufbahn positioniert und ihre Flugbahnen so ausgerichtet, dass einer von ihnen mehrmals am Tag etwa 20 Kilometer entfernt an USA-245 vorbeiflog – an einem als geheim eingestuften, milliardenteuren KH-11-Satelliten also, dessen bildgebende Systeme dem Hubble-Weltraumteleskop in nichts nachstehen. Es ist selten, dass sich Satelliten derart nah kreuzen.
Russland, so schien es, belauerte einen amerikanischen Spionagesatelliten.
Der grössere der beiden russischen Flugkörper, Kosmos-2542, war erstmals Ende November 2019 von einer Sojus-Rakete auf dieselbe Bahnebene wie USA-245 gebracht worden. An und für sich kein bemerkenswerter Vorfall; die beiden Satelliten flogen nur alle 11 Tage einmal aneinander vorbei. Doch am 6. Dezember schien sich der russische Flugkörper zu teilen: Tatsächlich hatte er einen Subsatelliten ausgeworfen. Im Februar 2020 beschrieb General John W. «Jay» Raymond, Chief of Space Operations der damals neu gegründeten United States Space Force, den Vorgang so: «Ich stelle mir das vor wie diese russischen Matrjoschka-Puppen, die man ineinanderstellen kann.»
Bedrohliche Nähe
Russland zufolge war Kosmos-2542 ein Inspektorsatellit von einer Art, wie auch die USA und China sie einsetzen. Es handelt sich dabei um kleine, flexible Geräte mit genauer Navigation und Steuerung, die meist dazu dienen, sich verbündeten Flugkörpern zu nähern oder zu Wartungszwecken an diese anzudocken. Das russische Verteidigungsministerium behauptete, der von Kosmos-2542 ausgeworfene Satellit, Kosmos-2543, sei ebenfalls ein Inspektorsatellit gewesen, und beschrieb seinen Einsatz als «Experiment», das die Instandhaltung seiner Flotte voranbringen sollte. Russland merkte noch an, dass 2542 mit leistungsstarken Kameras ausgestattet sei, mit denen sich die Erdoberfläche fotografieren lasse.
USA-245 begab sich langsam in eine höhere Umlaufbahn und entfernte sich so von den russischen Satelliten, während Kosmos-2543, der kleinere, am Himmel hin und her kreuzte und dabei, wie ein später vom Thinktank Center for Strategic and International Studies (CSIS) veröffentlichter Lagebericht zur Weltraumbedrohung feststellte, seine Bahn «fortwährend» änderte.
In der Weltraumnavigation, die mit notorisch knappen Treibstoffen auskommen muss, war das ein unerhörtes Manöver. Einige Zeit später, am 22. Januar 2020, rückten die beiden russischen Satelliten dem amerikanischen auf die Pelle. Zwei Monate lang beschatteten sie USA-245, wobei sich immer einer der beiden russischen Satelliten maximal 1000 Kilometer vom amerikanischen entfernte. Ein Beobachter stellte fest, dass ihre Flugbahnen so auf den amerikanischen Satelliten abgestimmt waren, dass sie ihm bei Sonnenlicht am nächsten waren: die ideale Bedingung für Bildaufnahmen.
Als General Raymond mit dem Nachrichtenmagazin «Time» erstmals öffentlich über die Vorkommnisse sprach, bezeichnete er die Aktivität als «aussergewöhnlich und beunruhigend» und führte aus, dass sich die «Inspektion» eines Satelliten durch einen feindlichen Flugkörper kaum von einer Angriffsbewegung unterscheiden liesse. Ein Offensivschlag könne durch einen altmodischen kinetischen Angriff – durch ein Weltraumgeschoss – durchgeführt werden, aber auch durch das Versprühen chemischer Substanzen, den Einsatz eines Lasers, durch Signalstörer und andere Mittel. Eindeutig habe es sich um eine feindliche Annäherung durch Russland gehandelt. Kaitlyn Johnson, stellvertretende Direktorin des Projekts für Luft- und Raumfahrtsicherheit des Thinktanks CSIS, erklärt, das Verhalten sei «wirklich ungewöhnlich, sehr vorsätzlich und grenzverletzend» gewesen.
Doch egal, ob es ein Akt der Spionage oder reine Provokation gewesen ist: Illegal war die Annäherung nicht.
Mitte April 2020 dann testete Russland eine direkt aufsteigende Antisatellitenwaffe (DA-ASAT-Waffe). Es handelte sich um einen Flugkörper, der direkt von der Erde aus gestartet wurde. Russland hatte dieses Waffensystem – genannt Nudol, nach einem Fluss bei Moskau – zuvor schon mehrfach getestet. Auch die USA, China und Indien hatten in den vergangenen Jahren DA-ASAT-Tests durchgeführt und dabei eigene, ausgediente Satelliten zerstört. Die russische Waffe schien für kein genaues Ziel bestimmt: Sie flog am Himmel entlang und fiel zurück auf die Erde, wo sie vermutlich in der Laptewsee am Rand des Nordpolarmeers landete.
Noch am selben Tag gab das United States Space Command eine Erklärung ab und betonte, dass der Test ein Beweis für die zunehmende Bedrohung der US-Weltraumsysteme sei. Ausserdem sei er «heuchlerisch», denn Russland hatte öffentlich eine «vollständige Demilitarisierung» des Weltraums gefordert. Das Space Command nutzte die Gelegenheit, um auch Stellung zu den beiden Matrjoschka-Satelliten Kosmos-2542 und -2543 zu beziehen. Russland habe «Manöver in der Nähe eines Satelliten der US-Regierung durchgeführt, die in jedem anderen Bereich als unverantwortlich und potenziell bedrohlich aufgefasst werden würden». John Raymond mahnte, die USA seien «bereit und entschlossen, Angriffe abzuwehren und das Land, unsere Verbündeten und unsere Interessen vor feindlichen Handlungen im Weltraum zu verteidigen».
Im Wilden Westen
Doch Russland war noch nicht fertig. Am 15. Juli 2020 expedierte Kosmos-2543, der kleinere der beiden lauernden Satelliten, ein noch kleineres Objekt. Zwar näherte es sich keinem US-Flugkörper, doch sowohl das amerikanische als auch das britische Militär bezeichneten es als Waffe: Russland habe ein Projektil in die Umlaufbahn geschossen. Das Space Command hat bisher keine genaueren Informationen zu den Vorkommnissen veröffentlicht. Jonathan McDowell, Astrophysiker der Universität Harvard und Satellitenbeobachter, sagte, dass eindeutig ein Objekt mit hoher Geschwindigkeit ausgeworfen worden sei. Es sei jedoch schwer zu beurteilen, ob damit ein Angriffs- oder ein Verteidigungssystem getestet werden sollte – im Weltraum eine besonders verzwickte Unterscheidung.
Laut einer Stellungnahme des Space Command habe es Ähnlichkeiten zwischen diesem und einem weiteren von Russland im Jahr 2017 ausgeführten Manöver gegeben; ausserdem stehe es im Widerspruch zur Behauptung, es handle sich um Inspektorsatelliten. Das russische Aussenministerium erwiderte, das Auswerfen des kleineren Objekts sei lediglich Teil einer «genaueren Inspektion» gewesen, und man habe damit «ausdrücklich keine internationalen Gesetzesnormen oder -prinzipien verletzt». Die amerikanische Darstellung der Geschehnisse sei «Propaganda». Auch der Vorwurf der Heuchelei wurde zurückgegeben: Die USA und Grossbritannien «würden über ihre eigenen Bestrebungen und Programme zu einem möglichen Gebrauch von (…) Antisatellitenwaffen natürlich Stillschweigen bewahren».
Doug Loverro, ehemaliger leitender Direktor des Raumfahrt- und Raketensystemzentrums der Air Force und ehemaliger stellvertretender Leiter im Bereich Raumfahrtpolitik im US-Verteidigungsministerium, sagt, das Projektil sei «eindeutig eine Provokation» gewesen.
Doch Russland hatte recht: Gesetze waren dadurch nicht gebrochen worden. Es gibt keine Regeln dafür, wie eine Reaktion der USA oder einer anderen Militärmacht in einer solchen Situation auszufallen hat; keinen Kodex, aus dem sich ableiten liesse, dass die russischen Satelliten den amerikanischen zu nahe gekommen waren oder dass die folgenlose Nutzung einer Waffe im Weltraum ein Abkommen verletzt. Auch gab es kein militärisches Manöver, das die USA zur Abwehr der Matrjoschkas hätten durchführen können, ohne damit eine schwere Eskalation zu riskieren.
Tatsächlich ist die völkerrechtliche Grundlage für Geschehnisse im Weltraum im Wesentlichen noch immer der Outer Space Treaty, der Weltraumvertrag von 1967, der auf eine weit weniger komplexe Situation als die heutige zugeschnitten war. Auf einer Konferenz für Luft-, Raumfahrt- und Cybersicherheit im September 2019 formulierte General Raymond es in einer Ansprache folgendermassen: «Der Weltraumvertrag schreibt vor, dass es im Weltraum keine Atomwaffen geben darf. Mehr steht da eigentlich nicht drin. Alles andere läuft ab wie im Wilden Westen.»
Startschuss
Am 8. Juli 1962 um kurz nach 23 Uhr erhellte ein gleissendes Licht plötzlich den schwarzen Himmel über Hawaii. Auf einmal erloschen die Strassenlaternen und kein Radio funktionierte mehr. Minutenlang sorgte eine rötliche Kugel, die einen gelben Kern und lila Ränder zu haben schien, für taghelles Licht. Sie verglühte allmählich und hinterliess einen changierenden Strahlenkranz, der sich in eine Art Polarleuchten aufzulösen schien. Noch Stunden später lag über dem gesamten Pazifik ein gespenstischer Schimmer.
Die USA hatten soeben einen Atomsprengkopf mit einer Sprengkraft von 1,4 Megatonnen im Weltraum gezündet. Die Wasserstoffbombe war vom Johnston-Atoll aus gestartet worden, einer abgelegenen Inselgruppe 1200 Kilometer südwestlich von Hawaii, die in ein Waffentestgelände umfunktioniert worden war. Die Bombe, welche die Tarnbezeichnung Starfish Prime trug, explodierte 400 Kilometer über der Erdoberfläche und hatte eine 100-mal stärkere Sprengkraft als jene, die 17 Jahre zuvor über Hiroshima abgeworfen worden war. Sie verursachte eine sofortige Überspannung des Stromnetzes, eine anhaltende Störung des Erdmagnetfelds und einen Strahlungsgürtel, der sich im Weltraum ausbreitete und über Monate messbar blieb.
Der elektromagnetische Schock war grösser, als Wissenschaftler der Regierung es erwartet hatten, und die Strahlung beschädigte amerikanische und sowjetische Satelliten. Doch sowohl die USA als auch die Sowjetunion testeten in diesem Jahr weitere Atombomben in grosser Höhe, darunter je zwei im Weltraum; eine der sowjetischen verursachte einen Brand in einem Kraftwerk in Kasachstan. Der Weltraum, dessen Erkundung gerade erst begonnen hatte, wurde militarisiert.
Einige dieser Tests fanden während der Kubakrise im Oktober 1962 statt, als die Möglichkeit eines Atomkrieges unerträglich nahe schien. Im August des folgenden Jahres unterschrieben die USA, das Vereinigte Königreich und die Sowjetunion den Vertrag über das Verbot von Kernwaffenversuchen in der Atmosphäre, im Weltraum und unter Wasser. Doch die USA und die Sowjetunion hatten noch andere himmelwärts gerichtete Ambitionen: Eines der beiden Länder würde zuerst auf dem Mond landen, Ansprüche auf dieses ultimativ höhere Gelände erheben und dort eine Militärbasis errichten. Als Absicherung schlossen sie einen weiteren Vertrag, in dem sie festlegten, dass der Weltraum frei von konkurrierenden Gebietsansprüchen sein sollte.
Dieser Weltraumvertrag oder Outer Space Treaty wurde am Abend des 27. Januars 1967 im East Room des Weissen Hauses von den USA, der Sowjetunion und 60 weiteren Ländern unterzeichnet. 75 Minuten nach dieser Versammlung brach in Cape Canaveral, an der Ostküste der USA, im Cockpit der am Boden befindlichen Kommandokapsel von Apollo 1 ein Feuer aus. Innerhalb weniger Minuten waren die drei ersten Astronauten des amerikanischen Mondprogramms ums Leben gekommen. Diese Katastrophe stand am nächsten Morgen neben der Unterzeichnung des Weltraumvertrags auf der Titelseite der «New York Times».
Kurz zuvor war die grösste Bodenoffensive der US Army in Vietnam in der brutalen Zerstörung des Dorfes Bến Súc kulminiert. In San Francisco hatten sich am 14. Januar 1967 im Rahmen des Human Be-In etwa zwanzigtausend junge Menschen im Golden Gate Park zu Konzerten und Demonstrationen zusammengefunden. Der Weltraumvertrag spiegelte eine Politik wider, die des Krieges überdrüssig und zugleich tief in ihn verstrickt war. Und so eine Vorstellung des Weltraums als Leinwand – bedrohlich zwar, aber noch unberührt –, auf der die irdische Politik in etwas anderes verwandelt werden könnte.
Der erste Artikel des Weltraumvertrags schreibt fest, dass die «Erforschung und Nutzung des Weltraums (…) zum Vorteil und im Interesse aller Länder» durchgeführt werde und eine «Sache der gesamten Menschheit» sei. Der Vertrag hält ausserdem fest, dass sich die unterzeichnenden Staaten bei «der Erforschung und Nutzung des Weltraums (…) vom Grundsatz der Zusammenarbeit und gegenseitigen Hilfe leiten [lassen]» und Raumfahrer als «Boten der Menschheit» betrachtet werden. Die Vertragsstaaten sind dazu angehalten, ihnen im Notfall jede mögliche Hilfe zu gewähren und sie bei einer Notlandung sicher in den Staat zurückzuführen, in dem ihr Raumfahrzeug registriert war.
Zudem haftet laut Vertrag jeder Staat für von seinen Raumflugkörpern verursachte Schäden und für alle Gegenstände, die von seinem Hoheitsgebiet aus in den Weltraum geschickt werden. Der Weltraumvertrag musste hart verhandelt werden, denn zunächst hatte die Sowjetunion die Möglichkeit, dass auch nichtstaatliche Akteure in den Weltraum eingreifen könnten, vehement zurückgewiesen. Ein wichtiger Grundsatz lautete schliesslich, dass kein Land Souveränitätsansprüche auf den Mond, andere Himmelskörper oder andere Teile des Weltraums erheben konnte.
«Spaccccce», sagt der Präsident
Über ein halbes Jahrhundert später ist dieses Dokument aus dem Kalten Krieg nach wie vor die Grundlage aller rechtlichen Konflikte im Weltraum. Wie General Raymond schon festgestellt hat, verbietet der Vertrag die Stationierung von Atom- und Massenvernichtungswaffen im Erdorbit. Bodengestützte oder Space-to-Space-Waffensysteme erwähnt der Vertrag allerdings ebenso wenig wie kinetische Waffen oder die Vielzahl raffinierter Angriffsformen, die seither entwickelt wurden. Das Abkommen enthält keine Definition von feindseligem Verhalten. Und obwohl es festlegt, dass das Völkerrecht auch im Weltraum zu gelten habe, lassen sich irdische Regularien nicht einfach auf einen Raum übertragen, in dem es keine Staatsgrenzen und kaum noch Schwerkraft gibt, dafür aber unendlich viele Ebenen potenzieller Konflikte. Im Laufe der Jahre haben sich neben den USA und Russland auch andere Länder in den Weltraum begeben. Und mit jeder Weiterentwicklung der Weltraumtechnologien wurde die Unzulänglichkeit des Weltraumvertrags zu einer grösseren Gefahr.
Als Ende Dezember 2019 auf der Joint Base Andrews die Unterzeichnungszeremonie für die Neugründung der United States Space Force stattfand, gab Präsident Donald Trump eine Einschätzung zur Stellung der Nation im Weltraum ab: «Wir liegen vorn, aber nicht weit genug. Doch sehr bald werden wir sehr weit vorne liegen.» «Spaccccce», sagte er, und zog das Wort zischend in die Länge.
Laut Einschätzungen von Sicherheitsexpertinnen und den Zielen des Militärs zufolge hatte Trump recht. Im Frühling 2020 berichteten sowohl die Denkfabrik CSIS als auch die Secure World Foundation, ein Thinktank für Weltraumsicherheit, dass die über lange Jahre durch schiere amerikanische Dominanz garantierte Sicherheit des Weltraums nachgelassen habe. «Andere Länder holen auf», sagte Kaitlyn Johnson vom CSIS.
Seit 2015 haben Russland, China, Indien, Iran, Israel, Frankreich und Nordkorea militärische Weltraumprogramme eingerichtet. Die chinesischen und russischen Weltraumkommandos sind den USA dicht auf den Fersen. Der Secure World Foundation zufolge haben die USA bei der Weiterentwicklung von Angriffstechnologien getrödelt, während China und Russland solche Ressourcen aktiv testen. Seit zwei Jahren haben sich militärische Aktivitäten jenseits unserer Atmosphäre vervielfacht. «Die Spannungen verschärfen sich», sagte Jack Beard, ehemaliger Anwalt des US-Verteidigungsministeriums und Professor für Recht mit Spezialisierung auf den Weltraum.
Vorbereitung für Gefechte im Weltraum
Im März 2019 testete Indien seine erste direkt aufsteigende Antisatelliten- oder DA-ASAT-Waffe mit der Zerstörung eines eigenen Satelliten in der niedrigen Erdumlaufbahn. Im April 2020 brachte der Iran, der die Einrichtung seines militärischen Weltraumprogramms verkündete, seinen ersten Aufklärungssatelliten Noor 1 (Farsi für «Licht 1») in die Umlaufbahn. Im September 2020 startete China erfolgreich eine wiederverwendbare, als Spaceplane bezeichnete Raumfähre, die durch die niedrige Erdumlaufbahn fliegt und horizontal wieder auf der Erde landet.
Die USA haben ihrerseits mit der U.S. X-37B ein Spaceplane entwickelt, das 2010 erstmals gestartet wurde. Doch da ihre Missionen seit 2004 als geheim eingestuft sind, ist unklar, wie sich die beiden miteinander vergleichen lassen. Und im Mai 2021 landete ein chinesischer Rover auf dem Mars. Langfristig bemannte Missionen zum Mars zu schicken, ist das erklärte Ziel Chinas.
Chinas erfolgreiche Durchführung eines DA-ASAT-Tests 2007 war ein Weckruf für das Pentagon. Und obwohl bisher nur China, Russland, Indien und die USA das Potenzial für kinetische Antisatellitenwaffen gezeigt haben, sind Satelliten auch anfällig für weitaus weniger spektakuläre Angriffe. Nordkorea entwickelt Signalstörer, welche die Satellitenübertragung blockieren sollen, und der Iran verfügt über Ressourcen für Cyberangriffe, die aus dem Weltraum kommende Signale unterbrechen und Daten beschädigen könnten. Selbst Japan, ein Land mit einer pazifistischen Verfassung, die kriegerische Aktivitäten verbietet, bereitet Verteidigungsmassnahmen für Gefechte im Weltraum vor, wie etwa robotische Arme zum Schutz von Satelliten.
General Raymond ist im Einklang mit anderen Experten der Meinung, dass China Hochleistungslaser baut, die Satellitensensoren beschiessen und effektiv blenden können. (Mindestens einmal, im Jahr 2006, hat China einen bodengestützten Laser genutzt, um, mit den Worten des US National Reconnaissance Office (Nationales Aufklärungsamt), einen amerikanischen Satelliten zu «beleuchten», ohne ihn dabei jedoch zu beeinträchtigen.) Darüber hinaus hat China seine Fähigkeit zum Spoofing bewiesen, zu einer Art von Beeinträchtigung also, die ein bestehendes Satellitensignal durch ein gefälschtes ersetzt. Damit kann etwa dafür gesorgt werden, dass Schiffe auf dem Meer manipulierte GPS-Signale erhalten.
Wie wahrscheinlich ein kinetischer Weltraumkrieg mit im Weltraum explodierenden Bomben ist, vermögen Fachleute nicht zu sagen. Verdecktere Formen von Konflikten finden jedoch längst statt. «In gewisser Hinsicht», so der US-Raumfahrtexperte Loverro, «gab es den Weltraumkrieg schon»: 2007 und 2008 griffen Hacker – chinesische, wird vermutet – US-Satelliten an, die vom United States Geological Survey und der Nasa betrieben wurden. 2008 konnten sie die Kontrolle über den Satelliten gewinnen, stoppten aber, kurz bevor sie ihm Befehle hätten erteilen können. Unterdessen hat man die russische Regierung grossflächiger, mutwilliger Signalstörungen bezichtigt, darunter der Störung von GPS-Übertragungen während einer Nato-Übung in Skandinavien 2018 sowie der Deaktivierung amerikanischer Überwachungsdrohnen in Syrien.
Kollisionsgefahr mit Spachtelmessern
All dies geschieht in einer Zeit, in der ein exponentieller Anstieg der gewerblichen Weltraumnutzung zu verzeichnen ist. Als die Sowjetunion 1957 den ersten menschengemachten Satelliten Sputnik 1 von einem Kosmodrom in der kasachischen Steppe startete, trat die kleine Aluminiumkugel in nahezu vollständige Leere ein. Heute ähneln die Erdumlaufbahnen mit ihren etwa 7000 Satelliten viel befahrenen Schnellstrassen.
Viele dieser Maschinen dienen zivilen und militärischen Zwecken zugleich. 3000 von ihnen sind ausser Betrieb und umgeben von etwa 15’000 Stücken Weltraumschrott, die gross genug sind, dass man sie von der Erde aus erkennen kann: Splitter zerstörter Satelliten, ausgediente Starthilferaketen, auch Gegenstände, die bei Raumspaziergängen verloren gingen (Kameras, Decken, Spachtelmesser). Das Space Command beobachtet Satelliten und Abfall und warnt Betreiber auf der ganzen Welt vor drohenden Kollisionen. Diese sind zwar selten, doch das Militär spricht inzwischen täglich mehr als 100’000 solcher Warnungen aus.
Die grosse Mehrzahl der Satelliten verteilt sich entweder auf die niedrige Erdumlaufbahn (Low Earth Orbit, kurz LEO), die etwa 500 Kilometer oberhalb der Erdoberfläche beginnt und ideal für Telekommunikation und Bildaufnahmen ist; oder die geosynchrone Umlaufbahn (GEO), die 36’000 Kilometer entfernt liegt und in der sich Satelliten langsamer und synchron zur Erdrotation bewegen, sodass sie sich für eine Beobachterin immer am selben Punkt befinden und für meteorologische Zwecke eignen.
Elon Musks Projekt Starlink, das weltweiten Breitbandzugang zur Verfügung stellen soll, zeichnet für eine neue Megakonstellation von Satelliten verantwortlich, die die Welt umgibt. Bis Mai 2021 hat Starlink über 1700 Satelliten in die niedrige Erdumlaufbahn gestartet. Das entspricht mehr als einem Viertel aller funktionstüchtigen Satelliten, die die Erde umkreisen. Laut dem britischen Raumfahrtforscher Hugh Lewis sind sie etwa für die Hälfte aller kritischen Annäherungen verantwortlich, das heisst für Fälle, in denen sich Objekte einander bis auf einen Kilometer annähern.
SpaceX, ein weiteres Unternehmen von Tesla-CEO Musk, startete im September 2021 seinen ersten zivilen Passagierflug, der eine Höhe von fast 580 Kilometern über dem Meeresspiegel erreichte und sich damit deutlich höher bewegte als seine Milliardärskollegen Richard Branson (Virgin Group) und Jeff Bezos (Amazon), die im Sommer beide an den Rand der Erdatmosphäre gereist waren. Branson war der Erste; er erreichte mit seinem Spaceplane VSS Unity eine Höhe von 80 Kilometern über der Erdoberfläche, also die Höhe, ab der die Air Force einen Luftfahrer als Astronauten betrachtet. Bezos hob als Zweiter ab, in einer wiederverwendbaren Rakete namens New Shepard, und erreichte eine Flughöhe von 100 Kilometern über dem Meeresspiegel. Dort liegt die sogenannte Kármán-Linie, die ebenfalls als eine definitorische Grenze zwischen Luft- und Weltraum gilt.
Laut einem Repräsentanten von Bezos’ Projekt Blue Origin soll das Unternehmen schon Ende dieses Jahres mehr Touristinnen in den Weltraum befördern können; Bransons Unternehmen Virgin Galactic strebt für 2022 Ähnliches an. Alle drei Männer – Bezos, Branson und Musk – beschreiben ihre Ambitionen für die Leere im Weltraum mit hochtrabenden Worten (Musk etwa möchte die Menschheit zu einer «multiplanetaren Spezies» machen). Jeder von ihnen sieht über dem Horizont eine neue Art von Prestige aufscheinen sowie enorme Geldsummen.
«… dann bricht vermutlich ein Atomkrieg aus»
Der Wettbewerb um die Plätze auf den vorteilhaften Erdumlaufbahnen ist hart. Für Jack Beard, Rechtsprofessor für Recht mit Spezialisierung auf den Weltraum, ist auch dies ein Gefahrensignal: «Noch nie in der Geschichte der Menschheit wurden vergleichbare neue Ressourcen erschlossen, ohne dass es zu Unstimmigkeiten zwischen Staaten kam. Militärische Verwicklungen lassen dann leider nicht lange auf sich warten.»
Das Aufkommen dieser Gefahr fällt ausgerechnet in eine Zeit, in der die zivile Abhängigkeit von Satelliten – für Internetzugang, Handysignale, Wetterbeobachtung, GPS – höher ist als je. Das amerikanische Militär ist nahezu vollständig von Satelliten abhängig. Alles wird von den Militärsystemen im Weltraum gestützt: Kommunikation, Überwachung, gelenkte Munition, der nukleare Gefechtsstand und anderes mehr. Von allen Raumfahrtnationen sind die USA bei weitem die verwundbarste, da sie mehr als die Hälfte aller aktiven Satelliten in der Erdumlaufbahn steuern. Laura Grego, Astrophysikerin und Mitglied der Union of Concerned Scientists, meint, das Pentagon betrachte diese Verwundbarkeit seit langem mit einiger Nervosität: «Sie sind abhängig von etwas, was nur schwer zu schützen ist.»
Direkte kinetische Angriffe auf Weltraumposten und daraus resultierende Trümmer könnten einen Schneeballeffekt auslösen und die Satelliten zerstören, von denen wir abhängig sind. Im Fall einer umfassenden Zerstörung könnten Hurrikanvorhersagen, Lokalisierungsgeräte von Such- und Rettungsteams, Finanzgeschäfte und Notfallmeldungen allesamt stillgelegt werden. Die wichtigsten Satelliten, etwa jene, die Anweisungen an das Militär übermitteln, sind mithilfe von Schutzschilden und speziellen Steuerungsmöglichkeiten weitestgehend vor Angriffen geschützt und werden durch andere Satelliten abgesichert. «Ein einzelner Satellit lässt sich recht leicht ausser Gefecht setzen», sagt der US-Raumfahrtexperte Loverro, «eine ganze Mission hingegen nicht.» Zur Stilllegung des GPS-Systems etwa wären fünfzehn bis zwanzig erfolgreiche Schläge notwendig.
Doch jeder einzelne Satellit ist angreifbar. McDowell, der Astrophysiker der Universität Harvard, formuliert es so: «Wenn man bei Orbitalgeschwindigkeit von einem grossen Trümmerteil getroffen wird – tja, dagegen gibt es keinen wirklichen Schutz.» Dies trifft sogar auf Satelliten des nuklearen Gefechtsstands zu. Loverro sagt, dass sich diese zwar in der von weitaus weniger Flugkörpern besiedelten, weiter entfernten geosynchronen Umlaufbahn befinden und dass in ihre Netzwerke einige Redundanzen eingebaut sind. Doch ihr stärkster Schutz beruht auf Abschreckung: «Wir wissen – und auch die Russen, die Chinesen und andere Gegner wissen es –, dass vermutlich ein Atomkrieg ausbricht, wenn einer dieser Satelliten angegriffen wird.»
Joan Johnson-Freese, Autorin des Sachbuchs «Space Warfare in the 21st Century» und Professorin für nationale Sicherheit am Naval War College, erinnert an das Ethos des use it or lose it, das für alle militärischen Assets gilt. Zu Beginn eines Konflikts gelten alle Posten als gefährdet: Waffen müssen genutzt werden, bevor der Gegner sie unschädlich macht. «Das Militär ist darauf trainiert, vom Schlimmsten auszugehen und entsprechend zu reagieren», sagt sie. «Da Weltraumposten so weit entfernt liegen, sind Lageeinschätzungen unsicher. Deswegen wird das Risiko- und Bedrohungslevel als hoch angenommen.» Man bezeichnet diesen Umstand als «Tyrannei der Distanz». Wenn keine eindeutigen Regeln gelten, gilt eine Situation als «exponentiell» gefährlicher, ob in Friedenszeiten oder im Krieg.
Es ist bekannt, dass der Weltraum die Achillesferse der USA ist. «Wenn die Dinge sich zum Schlechten wenden, auf welche Weise auch immer – ob nun zwischen den USA und China, zwischen den USA, China und Russland oder zwischen wem auch immer –, und ein grösserer Konflikt ausbricht, dann wird mit allen verfügbaren Mitteln gekämpft werden. Denn die USA haben am meisten zu verlieren.»
Klare Regeln gesucht
«Verschiedene Länder fragen sich allmählich, wann und ob sie sich ins Gefecht begeben sollten», sagt die Astrophysikerin Laura Grego. «Wenn jemand meinem Satelliten zu nahe kommt, ab welcher Entfernung darf ich mich verteidigen? Wie nah ist zu nah, was gilt als Einschüchterung, was als Bedrohung, was nicht?» Langsam begännen die Länder, sagte sie, «ihre eigenen Antworten auf diese Fragen festzulegen».
Grego beteiligt sich als Fachexpertin am Projekt Woomera Manual, in dessen Rahmen ein unabhängiges, internationales Team von Regierungsvertreterinnen, Wissenschaftlern und anderen Weltraum- und Rechtsexpertinnen ein Regelwerk für militärische Operationen im Weltraum erarbeitet, das auch in Kriegszeiten gelten soll. Das Dokument soll klären, wie Weltraumvertrag und Völkerrecht aufeinander abgestimmt werden können. Damit will das Team klare Kriegsregeln für den Weltraum festlegen und ein Regelwerk definieren, was die Verhältnismässigkeit von Aktion und Reaktion sicherstellt, sodass Konflikte erst gar nicht eskalieren.
Eine Art Schwesterorganisation, das Milamos-Projekt, erarbeitet derzeit einen Rechtsrahmen für die friedliche Nutzung des Weltraums. (2016 hatten Milamos und Woomera gemeinsam begonnen, Letzteres spaltete sich 2018 ab.)
Keines der beiden Dokumente ist ein Vertrag – sie werden weder ratifiziert noch offiziell verabschiedet, sondern als gemeinsame Referenzwerke genutzt werden. Die Mitglieder des Woomera-Gremiums kommen aus Australien, den USA, Grossbritannien, Kanada, Frankreich, Israel, den Niederlanden, Schweden und China. Dass kein russisches Mitglied beteiligt ist, hat einem meiner Gesprächspartner zufolge bloss logistische Gründe.
Die momentane Undurchsichtigkeit der Weltraumgesetzgebung führe zu gefährlichen Missverständnissen und gebe «Staaten, die feindselige Weltraumeinsätze durchführen wollen, die Möglichkeit, dies in einer rechtlichen Grauzone zu tun», heisst es in der Leitlinie des Projekts. Dies wiederum verkompliziere die Reaktionen anderer Staaten. «Nicht nur der Wildwest-Aspekt und der Mangel an Gesetzen» seien für diese Unsicherheit verantwortlich, erklärt Grego. «Es fehlen auch bestimmte Praxiserfahrungen.» Im Weltraum, so die Astrophysikerin Grego, «können Krisen verschärft werden», weil man nicht wissen könne, wie verschiedene Staaten auf unterschiedliche Verhaltensweisen reagieren. Aus diesem Grund wollen sowohl das Woomera- als auch das Milamos-Projekt die vergleichsweise wenigen bisherigen internationalen Gefechte im Weltraum im Detail untersuchen. Diese sollen dann als Präzedenzfälle für die Anwendung bereits bestehender Gesetze genutzt werden, um damit das Verhalten der Länder in einem neuen Regelwerk festzuschreiben.
Letztlich bedeutet diese Vorgehensweise, dass das Woomera-Gremium bestimmten Entscheidungen eine gewisse Autorität zuschreibt, die vermutlich unter extremem Druck gefällt wurden und vielfach historische Erstfälle darstellten. Das Regelwerk wird also auch auf der Grundlage von Verhaltensmustern entwickelt, die den spezifischen Machtdynamiken der vergangenen sechzig Jahre geschuldet sind. Dieses Vorgehen erscheint den Verfassern, die auf den Beitritt einzelner Staaten zu ihrer Initiative hoffen, als der aussichtsreichste Weg.
Geblendete Satelliten, Sprühmittel, Hackerangriffe
Jack Beard, Rechtsprofessor und ehemaliger Anwalt des US-Verteidigungsministeriums, fungiert als Chefredaktor des Woomera-Projekts. Er sagt, dass die Bedingungen einiger Militäroperationen im Weltraum eindeutig umrissen seien. Die Rechtslage und historische Präzedenzen seien hinreichend klar. Manche Satelliten seien «der Schlüssel zur Existenz auf der Erde». Es sei allgemein bekannt, dass jedwede Bedrohung des nuklearen Gefechtsstands nicht hingenommen werden würde. Doch der Artikel 9 des Weltraumvertrags führe das schwammige Konzept «geeignete internationale Konsultationen» ein, die von einem Staat eingeleitet werden sollten, wenn seine Aktion eine «schädliche Beeinträchtigung» von Tätigkeiten anderer Staaten bei der friedlichen Erforschung des Weltraums verursachen könnte. Was ist eine «schädliche Beeinträchtigung»? Auf diese Frage eine Antwort zu finden, ist laut Beard Teil der Aufgabe von Woomera.
Bedrohungen der Satelliten des nuklearen Gefechtsstands sind so gravierend, dass sie als unbedingt unzulässig aufgefasst werden müssen. Am anderen Ende der Bewertungsskala liegt die gewöhnliche Signalstörung: ein unerwünschtes, aber häufiges und folgenloses Vorkommnis. Beard geht nicht so weit, Signalstörungen als akzeptabel einzustufen, doch er nennt sie «Routine». Zwischen diesen Polen – Eingriffe in nukleare Satelliten auf der einen, Signalstörungen auf der anderen Seite – liegt ein weiter, undurchsichtiger Mittelbereich: die «Blendung» von Satelliten (vorübergehende Beeinträchtigung mittels Laser), «Mikrowellen, die Manipulation robotischer Arme, chemische Sprühmittel, Hackerangriffe, all das ist möglich».
Dale Stephens, Professor für Recht mit Spezialisierung auf den Weltraum und einer der leitenden Mitarbeitenden des Woomera-Projekts, formuliert es so: «Was geschieht, wenn ich einen fremden Satelliten steuere? Ich zerstöre nichts – ich hacke ihn und lasse ihn in Richtung Sonne fliegen, bringe ihn von dem ab, was er eigentlich machen sollte. Wie bewertet man das? Als Gewaltanwendung?»
Sobald das Regelwerk vollständig ausgearbeitet ist, voraussichtlich 2022, werden alle interessierten Länder Vertreterinnen entsenden können – eine Mischung aus Diplomaten, Militärs und Repräsentantinnen nationaler Programme für private Raumfahrt –, um es in der niederländischen Stadt Den Haag zu begutachten und zu diskutieren. Astrophysikerin Grego hofft, dass danach auf jedem Schreibtisch «aller Wehrdisziplinaranwältinnen in jedem Land» ein Exemplar des Regelwerks zu finden sein wird.
Jeder Experte für Weltraumsicherheit, mit dem für diesen Artikel gesprochen wurde, ist der Ansicht, dass sowohl Woomera als auch Milamos breite Anwendung finden würden. «Die Regelwerke werden sehr nützlich sein», sagte Loverro. «Aber es wird nicht so ablaufen, dass man sie aufschlägt und sagt: ‹Folgendes sollten wir in dieser Situation tun.›» Jede einzelne Entscheidung, die ein Militärkommandant trifft, werde mit Anwältinnen, Politikberatern und anderen ausgehandelt und mit «einigen Regalmetern an Büchern» abgestimmt werden müssen, darunter auch mit den von jedem Militär selbst bestimmten Einsatzregeln für bestimmte Konflikte.
Wem gehört der Mond?
Auf einer kleinen Bühne im Pentagon, umgeben von dicken, marineblauen Vorhängen, wandte sich General Raymond Mitte September 2020 an Mitglieder der Air Force. «Unsere Gegner bewegen sich schnell und gezielt, um unseren Vorteil zu mindern», sagte er. «Ich glaube kaum, dass wir in einem modernen Konflikt ohne Weltraumstreitkräfte gewinnen oder überhaupt antreten können. Und auf keinen Fall will ich erst einen Krieg verlieren, um mir darüber klar zu werden.»
An diesem Tag versetzte er feierlich 300 Pilotinnen in die Space Force. Ausserdem führte er offiziell in die neue, mit «Spacepower» betitelte Militärdoktrin für diesen Teil der Streitkräfte ein, die im August desselben Jahres für die Öffentlichkeit freigegeben worden war. Die neue «Kriegsführungsarchitektur» der Welt, sagte Raymond vor den Zuschauern, erfordere eine «Neugestaltung», und das US-Militär müsse «Bedrohungen etwas entgegensetzen können und seine Verletzlichkeit durch Erstschläge reduzieren». Die USA bräuchten «die Fähigkeit zurückzuschlagen».
Die neue Doktrin definiert den Weltraum erstmals als eigenständigen Kriegsschauplatz, und die «Weltraumstreitmacht» als eine Militärstreitmacht eigenen Rechts. Zu den Zielen der Space Force gehört, feindliche Bedrohungen im Weltraum «zu zerstören, zu neutralisieren oder zu minimieren», insbesondere mittels Abschreckung durch die Demonstration der eigenen Stärke. Die Doktrin, die sich pflichtbewusst und ehrerbietig an Weltraumvertrag und Völkerrecht orientiert, schreibt fest, dass «Weltraumstreitkräfte jedwede Anstrengung verfolgen sollen, um verantwortungsbewusste Verhaltensnormen zu begünstigen, die den Weltraum als sichere und offene Umgebung bewahren».
In ihrem Kern jedoch stellt sich die Doktrin gegen das grundlegende Ziel des Weltraumvertrags, den Weltraum als friedlichen Ort zu definieren und zu bewahren. Sie widerspricht explizit den Versprechungen des Vertrags von 1967: «Historisch betrachtet war kein Gebiet, in dem Menschen unterschiedliche politische Ziele durchsetzen wollten, jemals frei von der Möglichkeit eines Krieges.» Wie eine unscheinbare Klausel festlegt, müssten die USA «anerkennen», dass der Weltraum «für friedliche Zwecke» da sei, gleichzeitig aber darauf vorbereitet sein, ihn zu verteidigen. Nicht gegen jene, die diesen Frieden stören, sondern gegen jene, die «unsere Ziele im Weltraum untergraben wollen». Zu den «Eckpfeilern der Verantwortung» der Space Force zählen laut der Doktrin die «Wahrung der Handlungsfreiheit» und die «Ermöglichung streitkräfteübergreifender Letalität und Effizienz».
Im August fragte ich Major Brian Green, Rechtsanwalt der Space Force, wie die Unstimmigkeiten zwischen der Spacepower-Doktrin und dem Weltraumvertrag aufzulösen seien. Er beantwortete die Frage nicht direkt. Aber er sagte, dass die neue Doktrin «sicherlich nicht rechtlich bindend» sei. Über den Weltraumvertrag sollte sie sich also nicht hinwegsetzen können.
Kriegsspiele
Green zufolge wurden einige Prinzipien des Vertrags «recht schnell» akzeptiert, etwa die Freiheit zur Erforschung des Weltraums und das Prinzip der Nichtaneignung. Es werde heute aber immer schwieriger festzulegen, wie diese «sehr eindeutigen Bestimmungen» auf den Mond und andere Himmelskörper anzuwenden seien. Er merkte an, dass in Artikel 2 des Weltraumvertrags festgeschrieben ist, dass solche Himmelskörper «keiner nationalen Aneignung durch Beanspruchung der Hoheitsgewalt (…) oder durch andere Mittel» unterliegen. «Allerdings», fuhr er fort, «sind die USA der Ansicht, dass Ressourcengewinnung und -nutzung auf dem Mond und anderen Himmelskörpern dem Prinzip der Nichtaneignung nicht zuwiderläuft.» Die USA verträten die Position, dass solche Ressourcen nicht als «Eigentum der Völkergemeinschaft angesehen werden sollten. Oder von sonst irgendwem.»
Mit Blick auf das Woomera-Regelwerk sagte Major Green, dies würde schon einen Nutzen haben und «wirklich kluge Leute» hätten dazu beigetragen. Aber «letztlich werden Regierungsvertreterinnen ihre eigenen Entscheidungen über die Regeln treffen müssen».
In einer Reihe weltraumbezogener militärischer Planspiele, die der amerikanische Thinktank CSIS im Herbst 2020 veranstaltete, versammelten sich etwa vierzig Experten für Raumfahrt und nationale Sicherheit via Zoom und führten Simulationen potenzieller Konflikte durch. In einem Szenario trieb ein russischer Satellit in die Nähe eines Nato-Flugkörpers des nuklearen Gefechtsstands und blockierte hin und wieder dessen Signale. Russland behauptete, schlicht die Kontrolle über den Satelliten verloren zu haben. Während sich die Spannungen verschärften, wurde ein amerikanischer GPS-Satellit durch eine Explosion beschädigt. Russland beharrte darauf, dass diese auf einen defekten Treibstofftank zurückzuführen sei; die Amerikaner vermuteten dahinter eine russische Weltraummine, eine kleine Explosionswaffe, zu klein, als dass man sie ohne weiteres von der Erde aus hätte orten können.
Sollte es sich tatsächlich um eine Mine gehandelt haben, so stand diese nicht im Uno-Register der in den Weltraum gestarteten Gegenstände. Die Teilnehmerinnen zogen eine Reihe von Reaktionen in Betracht, von einer offiziellen Verwarnung Russlands über die Störung der Uplinks des russischen Minennetzwerks bis hin zur Zerstörung eines Satelliten des russischen Navigationssystem GLONASS durch eine kinetische Waffe.
Als man die Mitwirkenden später fragte, welche Mittel sie gern zur Verfügung gehabt hätten, lautete die Antwort: ein besseres Verständnis des Weltraums und klare, international anerkannte Regeln.
Böse sind immer nur die anderen
Für Atomwaffen und gegen sie gerichtete Operationen gelten weiterhin ganz eigene Gesetze. Die Spannung zwischen der Spacepower-Doktrin und dem Weltraumvertrag verdeutlicht, dass die Autorität des Vertrags allmählich bröckelt. Wie im Kalten Krieg sind die USA heute wieder in einen «Wettbewerb der Grossmächte» verwickelt; verschiedene Staaten weiten ihre Militärmacht in vielen Bereichen aus. Allerdings waren die Risiken für einen Atomkrieg in den 1960er-Jahren gleichmässiger zwischen den USA und der Sowjetunion verteilt, wie Oriana Skylar Mastro erklärt, sie ist Fellow im Bereich Internationale Beziehungen an der Stanford University und am American Enterprise Institute. «Inzwischen besteht eine enorme Asymmetrie der Verwundbarkeit», sagt sie. Chinas Macht wachse, während die USA immer anfälliger für einen Angriff würden.
Experten, die sich mit dem Frieden oder zumindest der Sicherheit im Weltraum befassen, sehen nun zwei Lösungsmöglichkeiten: entweder mehr diplomatische Bemühungen und Rüstungskontrolle oder eine neuerliche Behauptung militärischer Dominanz. Doch viele Experten sehen wenige Ansatzpunkte für neue internationale Verträge. «Es mangelt an Bereitschaft, das eigene Arsenal einzuschränken, um auf stärkere globale Stabilität hinzuarbeiten», sagte Kaitlyn Johnson vom Thinktank CSIS. «Es besteht auch einfach ein Vertrauensmangel, ein Mangel an gutem Willen.» Jeder Staat schätze die Handlungen der anderen als im höchsten Masse bedrohlich ein, beschreibe aber seine eigenen – wie kriegstreiberisch auch immer sie sein mögen – mit unschuldigen Worten.
Auf einem Panel der Secure World Foundation im Mai 2019 nutzte ein indischer Diplomat eine Fragerunde, um ein Referat über die defensive, verantwortungsvolle Art zu halten, in der Indien ASAT-Tests durchführe. Als sich 2017 der russische Flugkörper Luch-Olymp («Strahl des Olympus») dem französisch-italienischen Kommunikationssatelliten Athena-Fidus («treue Athene») näherte, fasste Frankreich dies als Provokation auf, und die französische Verteidigungsministerin Florence Parly warf Russland vor, «ein kleines ‹Star Wars›-Manöver» durchgeführt zu haben. Als Frankreich dann im Juli 2019 verkündete, ein neues Weltraumkommando aufzubauen und ausserdem seine Satelliten mit Maschinengewehren auszustatten, betonten Parlys Sprecher, dass sich das Land nicht auf ein Wettrüsten im Weltraum gefasst mache, sondern nur eine «vernunftbasierte Militarisierung» durchführe.
«Ich will da immer die Frage stellen», sagt Sicherheitsexpertin und Buchautorin Johnson-Freese: «Könnte China überhaupt irgendetwas im Weltraum tun, was die USA nicht als Bedrohung auffassen würden? Die Antwort lautet: Nein.» China sagte seinerseits, dass bereits die Gründung der US Space Force eine «ernsthafte Verletzung des internationalen Konsenses über die friedliche Nutzung des Weltraums» darstelle, und russische Funktionärinnen betonten, die Schaffung dieses US-Weltraumkommandos sei womöglich der erste Schritt hin zu einer Aufkündigung des Weltraumvertrags. Beide Länder beschreiben ihre eigenen Weltraumkommandos als verteidigungspolitische Notwendigkeiten.
Ein neuer Vertrag steht in den Sternen
Sowohl China als auch Russland haben Vorschläge zu einem Rüstungskontrollvertrag im Weltraum gemacht, bekannt als PPWT (Treaty on the Prevention of the Placement of Weapons in Outer Space and of the Threat or Use of Force Against Outer Space Objects). Theoretisch würde ein solcher Vertrag jegliche Art von Waffen im Weltraum verbieten. Ein amerikanischer Diplomat beurteilte beide Versionen als «von grundlegenden Mängeln durchzogen» und nannte als Begründung das Fehlen von Überprüfungsmöglichkeiten und die implizite Erlaubnis von Antisatelliten- beziehungsweise DA-ASAT-Waffen.
Tom Ayres, ehemaliger Justitiar der Air Force, der die Ausgestaltung der Rechtsordnung der Space Force leitete, sagt, dass solche Verträge die USA benachteiligen würden. «Die USA halten sich an geltendes Recht. Aber es gibt Staaten, die nur allzu gern diese sehr strengen Regeln für den Weltraum beschliessen würden, um sie dann zu unterlaufen – so wie sie es mit internationalen Gesetzen zum Schutz des geistigen Eigentums oder dem Seerecht tun.»
Der Uno-Ausschuss für die friedliche Nutzung des Weltraums konzentriert sich derzeit auf die Erarbeitung von Richtlinien zur Reduzierung von Weltraumschrott. Niklas Hedman, Generalsekretär des Ausschusses, sagt, im aktuellen weltpolitischen Klima sei jedwede Form eines bindenden Vertrags schlicht «nicht möglich». Green, Rechtsanwalt der Space Force, sagt zur Möglichkeit neuer Verträge: «Ich halte das derzeit für unwahrscheinlich.» Mike Hoversten, leitender Rechtsberater für Weltraum-, Völker- und Militärrecht bei Space Operations Command, sagt, es werde seiner Meinung nach «leider irgendein einschneidender Vorfall notwendig sein», bevor die Völkergemeinschaft einen neuen Vertrag akzeptiere.
Der Raumfahrtexperte Doug Loverro hat Sorge, dass diese Unmöglichkeitsbehauptungen zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung werden. «Wenn man von vornherein feststellt, es könne keine Übereinkunft geben, dann wird es auch nicht zu einer Übereinkunft kommen», sagt er. Er denkt, dass ein neuer, kinetische Waffen verbietender Vertrag «unbedingt im nationalen Interesse der USA» liegt und dass «wir niemals vergessen sollten, dass wir das Recht haben – es sogar notwendig ist –, Verträge auszuhandeln, die unserem eigenen Interesse entsprechen. Egal, wie schwer das sein mag.»
In seiner Rede im Pentagon im September 2020 sagte General Raymond den frisch in die Space Force berufenen Streitkräften:
Wenn die Abschreckung misslingt, wird ein Krieg, der im Weltraum ausbricht oder sich dorthin ausweitet, über grosse Entfernungen und mit extremen Geschwindigkeiten geführt werden. (…) Direkt aufsteigende Antisatellitenwaffen können die niedrige Erdumlaufbahn innerhalb weniger Minuten erreichen. Elektronische Angriffe und Laserwaffen bewegen sich mit Lichtgeschwindigkeit, und Ressourcen auf der Erdumlaufbahn bewegen sich mit über 28’000 Kilometern pro Stunde. Um bei diesen Geschwindigkeiten und Entfernungen Kriegseinsätze planen zu können, müssen wir flexibel, agil und schnell sein.
Es war klar, was er mit diesen Warnungen eigentlich ausdrücken wollte. Ein Jahr zuvor hatte er sich in einer ähnlichen Ansprache weniger formell geäussert: «Wir wollen diesen Kampf gewonnen haben, bevor er überhaupt beginnt. Wenn eine Schlacht erst einmal im Weltraum ausbricht oder sich dorthin ausweitet, dann kann sie niemand mehr gewinnen.»
Die amerikanische Journalistin Rachel Riederer schreibt über Wissenschaft, Kultur und Umweltthemen. Sie arbeitet im Webteam des «New Yorker» und war zwei Jahre lang Chefredaktorin von «Guernica», einem Magazin für globale Kunst und Politik. Dieser Beitrag erschien im November 2021 unter dem Titel «Ad Astra» im «Harper’s Magazine».