Nadelstiche
China stärkt seinen Einfluss in Lateinamerika. Besonders in Chile. Und füllt dort ein Vakuum, das der Westen hinterlassen hat. Erst mit Impfstoffen – und danach?
Von Malte Seiwerth (Text) und Paz Olivares-Droguett (Bilder), 29.11.2021
Stolz steht der chilenische Gesundheitsminister Enrique Paris am 4. August dieses Jahres auf dem Campus der katholischen Universität in Santiago. Er ist gekommen, um zu verkünden, dass Chile künftig wieder selber Impfstoff produzieren wird. Erstmals nach zwanzig Jahren Unterbruch, in denen das Land von Importen abhängig war. Und seine Vergangenheit als erfolgreicher Pharmastandort für den lateinamerikanischen Kontinent nach und nach verblasste.
In der Hauptstadt Santiago de Chile und in der nördlichen Stadt Antofagasta sollen ab dem kommenden Jahr Vakzine entwickelt, hergestellt und von da aus dann wieder nach ganz Lateinamerika geliefert werden. Möglich macht diesen Neustart das chinesische Unternehmen Sinovac. Eine Delegation aus China drängelt sich bei der Ankündigung deshalb direkt hinter den Minister.
Coronavac, der Impfstoff von Sinovac, ist heute der am meisten verwendete Impfstoff weltweit: Fast jede zweite verimpfte Dosis wird vom chinesischen Aktienkonzern produziert. Dank Sinovac konnte Chile eine der weltweit schnellsten Impfkampagnen gegen Covid-19 durchführen, während bei der Bekämpfung der Pandemie aus der westlichen Welt lange so gut wie keine Unterstützung für Lateinamerika kam.
Ganz im Gegenteil. Allen voran die USA haben mit ihrer aggressiven «America first»-Politik bei der Beschaffung von medizinischem Material – Beatmungsgeräte, Impfstoffe und Masken – viel Kredit verspielt. Jetzt wenden sich viele Länder auf dem Kontinent mehr und mehr China zu.
Ganz zuvorderst: Chile.
Impfweltmeister, made by China
Es ist Januar 2021, die ganze Welt redet vom Impfen. Doch nur die reichen Staaten können ernsthaft damit beginnen, während viele Länder des Südens noch keine einzige Spritze verabreicht haben. Zumindest in Chile sollte sich das bald ändern. Am 22. Januar um 21.30 Uhr – zur Primetime – wendet sich der chilenische Staatspräsident Sebastián Piñera mit einer Ansprache an die Nation, übertragen auf allen TV-Sendern des Landes.
In seiner Rede läutet er das scheinbare Ende der Pandemie ein. Nachdem wochenlang – mit einigen wenigen tausend Dosen Pfizer/Biontech – gerade mal ein Teil des Krankenhauspersonals geimpft werden konnte, ist plötzlich Impfstoff in rauen Mengen verfügbar. Nur Stunden zuvor hat das Institut für öffentliche Gesundheit eine Notfallzulassung für Coronavac erteilt. Noch vor Ende Januar sollen über 4 Millionen Dosen aus China eintreffen. «Das ermöglicht uns, die massive Phase der Impfung einzuläuten», sagt Piñera.
In den folgenden Monaten erlebt Chile eine der am besten organisierten Impfkampagnen der Welt. Es wird schnell geimpft, es wird unbürokratisch geimpft, und vor allem: Es werden alle geimpft, die geimpft werden wollen. An guten Tagen bekommen über 400’000 Personen eine Spritze gesetzt, bei einer Einwohnerzahl von knapp 20 Millionen. Das ist nur möglich dank den Impfdosen, die aus China geliefert werden. Knapp zwei Drittel der eingesetzten Vakzine, rund 20 Millionen Dosen, kommen vom Sinovac-Konzern.
Doch so schnell die Impfkampagne läuft, so schnell kommt auch Kritik auf. Es fehle an wissenschaftlichen Daten. Die Ergebnisse zweier Wirksamkeitsstudien aus Brasilien und der Türkei sind zu diesem Zeitpunkt noch nicht bei einer wissenschaftlichen Zeitschrift eingereicht. Die Behörden verschiedener Länder nennen unterschiedliche Zahlen, wie gut Coronavac wirklich gegen symptomatische Erkrankungen schützt. Internationale Medien berichten über innerchinesische Kritik an der Wirksamkeit des staatlichen Impfstoffs.
Medizinisches Neuland
Von chilenischen Wissenschaftlerinnen wird Kritik zurückgewiesen. «Der Einsatz des Impfstoffs ist sicher», sagt etwa Izkia Siches, die Präsidentin der Ärztekammer Colmed. Coronavac abzulehnen, damit würde man Monate Verspätung und Tausende Menschenleben riskieren. Auch Eduardo Undurruga verteidigt das Vakzin im Gespräch mit der Republik. Der Ingenieur tritt seit Beginn der Impfkampagne in zahlreichen Fernsehsendungen auf. Er arbeitet an der katholischen Universität und ist Teil eines Forschungsteams, das den Einsatz von Coronavac in Chile überwacht.
Im März beauftragt die Regierung ein Forschungsteam, bei dem auch Undurraga mitarbeitet, die Schutzwirkung von Coronavac in der Praxis zu messen. Dieses analysiert die Daten des öffentlichen Gesundheitssystems: wann eine Person geimpft wurde, ob die Person später getestet wurde, ob sie ins Spital kam, auf der Intensivstation war – oder an Covid-19 starb. Auf der Basis dieser Daten veröffentlicht die Regierung am 16. April ihre Zahlen zur Wirksamkeit von Coronavac. Im Vergleich zur nicht geimpften Bevölkerung sei die Gefahr, am Coronavirus zu erkranken und Symptome zu entwickeln, um 67 Prozent tiefer. Die Hospitalisierungsrate sinke um 88 Prozent, die Rate bei den Einlieferungen in die Intensivstation gar um 90 Prozent. Und auch die Todesrate ist um 86 Prozent geringer als bei den Ungeimpften.
Im Juni 2021 erteilt die Weltgesundheitsorganisation Coronavac schliesslich eine Notfallzulassung und hält fest: Der Impfstoff erfüllt höchste Qualitätsstandards. Und: «Die Welt braucht dringend eine Vielzahl von Impfstoffen, um die global ungerechte Verteilung zu bekämpfen.»
Anfang Juli veröffentlicht das Team um Eduardo Undurraga seinen wissenschaftlich begutachteten Artikel über die Wirksamkeit von Coronavac – im «New England Journal of Medicine». Kurz darauf publiziert ein türkisches Forschungsteam ähnliche Daten in «The Lancet».
Chile habe im Einsatz von Coronavac medizinisches Neuland begangen, sagt Undurraga. Bis dahin orientierte sich das chilenische Institut für öffentliche Gesundheit für seine Zulassung von Medikamenten auf dem chilenischen Markt an den Empfehlungen der amerikanischen Zulassungsbehörde FDA oder der europäischen EMA. Bei Coronavac sei man nun vorangegangen, habe selber entschieden, ob die wissenschaftliche Evidenz für den Einsatz eines Impfstoffs solide genug sei. Das habe den chilenischen Behörden mehr Autonomie verschafft – oder genauer: zurückverschafft.
Denn Chile bildete bei der Erforschung und Herstellung medizinischer Produkte lange ein Zentrum in Lateinamerika. Vor allem dank europäischen Wissenschaftlern, die an chilenische Universitäten geholt wurden. Und wegen deutscher Pharmafirmen, die «das Bayer Lateinamerikas gründen wollten», wie der Medizinhistoriker Marcelo Sánchez im Gespräch mit der Republik sagt, und dafür ihre Produktionsstätten für Südamerika in Chile installierten.
Das westliche Vakuum
Die chilenische Impfstoffproduktion war lange ein Erfolg. Bereits seit den 1890er-Jahren kümmerte sich der Staat um die Verteilung und die Produktion von Vakzinen. 1938 wurde in Chile sogar eine Tollwutimpfung für Mensch und Tier entwickelt – eine enorme Leistung für ein Land, das Jahre zuvor mehrere tausend Tote in einer Typhusepidemie beklagen musste.
Mit den neoliberalen Reformen, die Ende der 1970er-Jahre begannen, ging diese Eigenständigkeit nach und nach verloren. In den 1990er-Jahren entschied das staatliche Institut für öffentliche Gesundheit, das Heilmittel nicht nur kontrolliert, sondern auch selber herstellt, künftig auf den Import von Impfstoffen zu setzen. 2002 wurde die letzte Tollwutimpfung in Chile hergestellt. Zwar arbeiteten chilenische Forscherinnen an Universitäten weiter an der Entwicklung neuer Impfstoffe – allerdings ohne grossen Erfolg.
Bis im Mai 2021 die katholische Universität in der Hauptstadt verkündet, dass sie mit Sinovac «im Gespräch» über die Produktion von Impfstoffen sei.
Gitte Cullmann wirkt angespannt, während sie spricht, antwortet in kurzen Sätzen, macht Pausen, wählt vorsichtig jedes Wort. Sie leitet das Büro der Heinrich-Böll-Stiftung in Santiago de Chile. Die Stiftung, die der Grünen Partei in Deutschland nahesteht, untersucht gemeinsam mit ihren Partnerorganisationen den Einfluss von China in Lateinamerika – und insbesondere in Chile. «Europa und die USA haben zunächst nur an sich selbst gedacht, bevor sie gemerkt haben, dass eine weltweite Pandemie nur gemeinsam gelöst werden kann», sagt sie. Während der Pandemie habe China seinen Einfluss sichtbar ausgebaut. Cullmann sagt, «die westlichen Staaten haben ein Vakuum hinterlassen, dieses wurde von China gefüllt».
Nachdem sich westliche Konzerne im globalen Süden über Jahrzehnte kaum um Menschenrechte oder Umweltschutz gekümmert hätten, würden nun internationale Verträge – vorangetrieben unter anderem von der EU – und das europäische Lieferkettengesetz die Situation verändern. Es bestehe jetzt allerdings die Gefahr, dass andere Staaten in die Lücke sprängen, Staaten, die weniger auf Menschenrechts- und Umweltstandards achten würden.
Meint sie damit China? «Ja, unter anderem», antwortet Cullmann.
China verfolgt mit seinen Corona-Nadelstichen geopolitische Interessen. Es gehe in erster Linie darum, Lateinamerika aus dem exklusiven Einfluss der USA zu lösen, hält ein Bericht der Heinrich-Böll-Stiftung in Peking im Oktober 2021 fest. Und in zweiter Linie gehe es um «die Errichtung einer ‹China-Latin America community of shared destiny›» – also einer Gemeinschaft, in der sich die lateinamerikanischen Staaten zusammen mit China als Teil eines sich entwickelnden globalen Südens verstehen.
Seinem ersten Ziel ist China mit seinen Impfstofflieferungen ein gutes Stück nähergekommen. In ganz Lateinamerika ist China mittlerweile präsent. In Uruguay wurde etwas mehr als die Hälfte der Bevölkerung mit Coronavac geimpft. Und auch Peru, Brasilien oder Argentinien setzen zumindest teilweise auf Impfstoffe aus China. Neben Sinovac sind auch der private Konzern CanSino Biologics und die staatliche Sinopharm in Lateinamerika präsent.
Ist Chinas Impfdiplomatie also eine Erfolgsgeschichte?
Eisernes Schweigen
In Chile hält die Euphorie nur wenige Monate. Schnell verdichten sich die Hinweise, dass der Schutz der Coronavac-Impfung schnell schwächer wird. Es mehren sich die Forderungen aus der Wissenschaft, dass alle eine dritte Dosis bekommen sollen – und zwar mit einem anderen Impfstoff.
Im August sind in Chile über 70 Prozent aller Einwohnerinnen doppelt geimpft. Deutlich mehr als in der Schweiz. Trotzdem steigen die Fallzahlen.
Noch im selben Monat beginnt die Regierung mit der Booster-Kampagne. Priorität haben alle, die Coronavac bekommen haben. Als Booster wird eine Dosis von Astra Zeneca oder Pfizer/Biontech verabreicht. Doch die Kampagne verläuft schleppend, auch weil im Land nicht genügend Dosen der Alternativ-Impfstoffe verfügbar sind. Noch im November bilden sich jeden Morgen vor den Impfzentren lange Schlangen, da die täglichen Dosen nicht für alle ausreichen. Die Regierung sagt, es sei genügend Impfstoff bestellt worden – und zelebriert jede eingetroffene Lieferung mit einer Medienkonferenz am Flughafen, etwa als ein Flug der DHL mit 400’000 Dosen von Pfizer/Biontech in der chilenischen Hauptstadt landet.
An der angekündigten Partnerschaft zwischen Sinovac und dem chilenischen Staat haben diese Turbulenzen bisher nicht gerüttelt. Derzeit forscht die katholische Universität an der Möglichkeit, auch die Booster-Impfungen mit Coronavac durchzuführen. Und in Kooperation mit dem Institut und dem chilenischen Staat entsteht am Rande der Hauptstadt Santiago, im Industriegebiet von Quilicura, gerade eine Produktionsanlage – zunächst nur zum Abfüllen von angelieferten Produktionen.
Der Rest soll später folgen. Doch wer Genaueres zur Impfstoffproduktion von Sinovac in Chile wissen will, stösst vor allem auf: Schweigen.
Trotz mehrmaliger Nachfrage, trotz Kontaktaufnahme über verschiedene Wege, war weder das zuständige Institut in der katholischen Uni noch das Gesundheitsministerium noch die staatliche Förderstelle für Auslandinvestitionen bereit zu einem Gespräch mit der Republik. Die Suche nach einem Pressekontakt zu Sinovac führte einzig zur Auskunft von der Förderstelle für Auslandinvestitionen, das chinesische Unternehmen habe in Chile keine Pressestelle. Und nein, man dürfe keine Kontakte weitergeben.
Bis heute gibt es auch keine genauen Zahlen zu den Investitionen in den Aufbau der Impfstoffproduktion in Chile. Man spricht einzig von öffentlich-privaten Ausgaben von um die 60 Millionen Dollar. Was kommt vom Staat, was von Sinovac oder der katholischen Universität? Keine Angabe.
All you can eat
Verschwiegenheit: Das war auch das, worauf Santiago Rosselot von der gewerkschaftsnahen Stiftung Fundación Sol gestossen ist. Der Thinktank studiert im Auftrag der Heinrich-Böll-Stiftung den wirtschaftlichen Einfluss von China im Cono Sur, also im Grossraum Argentinien, Uruguay, Paraguay und Chile. Rosselot sitzt im Konferenzraum der Fundación, das Büro, eine ehemalige Wohnung im Zentrum der Hauptstadt, ist verwaist. Das ganze Team arbeitet im Homeoffice, nur Rosselot ist da – extra für das Interview.
Chile und China verbinde eigentlich schon seit Jahren eine enge Beziehung, sagt Rosselot. Das Land sei für China ein «Türöffner», denn die neoliberale chilenische Wirtschaftspolitik schaffe die idealen Voraussetzungen für ausländische Investitionen und enge Wirtschaftsbeziehungen. Chile sei eines der Länder mit den meisten Freihandelsabkommen weltweit und eigne sich daher ideal als Hub für den Rest des Kontinents.
Tatsächlich verhängt Chile kaum Zölle, und es schützt ausländisches Kapital besonders gut. Rund die Hälfte der jährlichen Kupferexporte, das Hauptexportprodukt des Landes, gehen direkt nach China. Im Gegenzug investiert China. Der Ökonom Rosselot sagt, dass in den letzten Jahren chinesische Direktinvestitionen jene aus allen anderen Ländern bei weitem übertroffen hätten: «China geht dabei sehr gezielt vor, es werden grosse Anteile in gewissen Sektoren gekauft.» Invest Chile, eine staatliche Förderstelle für Investments aus dem Ausland, listet 30 Projekte auf die China finanziert, darunter Lachsfarmen, Minenprojekte und Staudämme. Volumen: mehr als 5,5 Milliarden Dollar.
Mittlerweile ist der staatliche Energiekonzern State Grid Corporation of China in der Produktion, der Verteilung und dem Verkauf von Energie an chilenische Endabnehmer aktiv. In der Verteilung besitzt der Konzern 45 Prozent Marktanteil. Andere Konzerne aus China bauen umstrittene Staudammprojekte oder sind beteiligt am Lithiumabbau. Eine derartige ausländische Machtkonzentration wie im Energiesektor habe es zuvor noch nicht gegeben, sagt Rosselot.
Nun sei es wichtig, bei den Arbeitsbedingungen in den Firmen unter chinesischer Eigentümerschaft genau hinzuschauen. Bislang stehen wichtige Verhandlungen mit den Gewerkschaften noch aus. «Die Investitionen haben erst seit kurzem stattgefunden, in den meisten Fällen ist es zu früh, um zu sehen, welche Auswirkungen die Eigentümerwechsel haben», sagt er. Doch etwas beunruhigt ihn jetzt schon: Eine chinesische Lachszucht im Süden des Landes hat vorgeschlagen, Strafgefangene in der Produktion anzustellen.
Internationale Verträge, die Chile an Menschenrechtsstandards binden, hätten bisher kaum zu Verbesserungen geführt. «Dutzende internationaler Organisationen klagen über Menschenrechtsverletzungen in Chile, und nichts passiert», sagt Rosselot. Diese Probleme müssten gelöst werden, und dabei helfe wohl vor allem Druck im Land selbst und weniger von aussen.
Was all das chinesische Kapital, das nun ins Land fliesse, für Chile bedeute? Rosselot sieht die Situation im Grossen und Ganzen ziemlich entspannt: «Wir haben gerade ein Jahrhundert US-amerikanischer Dominanz hinter uns, und das Resultat sind Militärputsche, eine brutale neoliberale Politik und massive Menschenrechtsverletzungen.»
Viel schlimmer, sagt er, könne es gar nicht kommen.
Der deutsche Journalist und Historiker Malte Seiwerth hat in Santiago Geschichte studiert und lebt heute in Zürich, wo er unter anderem für das Onlinemagazin «Das Lamm» schreibt. Er recherchiert insbesondere zu den Beziehungen zwischen der Schweizer Rüstungsindustrie und dem chilenischen Staat, worüber er aktuell auch seine Masterarbeit an der Uni Bern schreibt.