Das Pop-Matriarchat
Viele Frauen haben es im Showbusiness weit gebracht – nun ziehen sie den Männern in den Charts davon. Über Adele als profane Heilige und die letzte patriarchale Ironie vor Anbruch des weiblichen Zeitalters.
Von Tobi Müller, 27.11.2021
Vor zwanzig Jahren rochen die ersten drei Albumplätze der Schweizer Jahreshitparade nach Männerschweiss. Ganz oben stand die Tessiner Band Gotthard, deren «Haar-Rock» die Achtzigerjahre und Bands wie Whitesnake aufrief. Auf Platz zwei landete der bernische Büezermillionär Gölä, der als nach rechts abbiegender Springsteen den Soundtrack für die SVP lieferte. Bronze gab es für den französisch-baskischen Globalisierungskritiker Manu Chao und seine globalen Ohrwürmer.
Die energetischen Konzerte von Chao verströmten Testosteron von links, während die Inszenierung forcierter Männlichkeit bei Gotthard und Gölä – enge Jeans, lange Haare, Lederkluft und Motorräder – auch als unfreiwillige Schwulenparodie durchgehen konnte. Das war alles interessant, aber wie man es auch wendete, immer sehr männlich.
Die Frauen in den Schweizer Albumcharts auf Platz vier und sechs hiessen 2001 Dido und Enya, Musik zum Weinen, Schmusen und Räucherstäbcheninhalieren also. Erst dann folgten jene Sängerinnen, die nicht ganz jedes Geschlechterklischee erfüllten und tougher auftraten: Jennifer Lopez (J.Lo), Anastacia und die deutsche Girlgroup No Angels. Übersext waren allerdings gerade sie.
In der sogenannten zweiten Feminismuswelle galt es als das höchste Gut, auch als Feministin sexy sein zu dürfen. High Heels und Lippenstift, irgendwie links verstanden, aber in einem Penthouse in Manhattan. Was abermals darauf hinauslief, hot sein zu müssen. Im Fernsehen lief «Sex and the City», und selbst kluge Frauen feierten die Serie für ihre Errungenschaft, Frauen mit Ende 30 als selbstbestimmt und, ganz wichtig, dennoch begehrenswert zu zeigen. Nicht wenige hielten das für Fortschritt.
Das ist erst zwanzig Jahre her, genderpolitisch wirkt es aber wie eine halbe Ewigkeit.
Ein Produkt, was sonst
Schauen wir auf das Popjahr 2021 zurück, dominieren Frauen. Billie Eilish zog im Sommer alle Augen auf sich, jetzt ist es Adele. Und in den Jahresendlisten der Popkritik, die nicht auf Verkäufen basieren, wird die afrobritische Rapperin Little Simz überall weit vorne stehen. Natürlich gibt es auch Drake, Ed Sheeran, The Weeknd und sogar Justin Bieber. Doch während die Popfrauen ein Beben nach dem andern auslösen und die halbe Welt beschäftigen, machen die Männer einfach weiter.
Warum sind Adeles Pupillen so klein? Auf vielen Fotos hat sie auffallend winzige Knöpfe. Das schwarze Zentrum des Auges verschwindet schier, sodass die Iris das Bild bestimmt. Irisierend heisst: schillernd, mehrdeutig. Kulturgeschichtlich ist die Bedeutung eindeutiger. Grosse Pupillen standen einst für Schönheit, Verliebtheit, sogar Verfügbarkeit. Ein Extrakt aus den Blättern der schwarzen Tollkirsche bescherte den gehobenen Damen im 18. Jahrhundert diesen vergrössernden Effekt, die Tropfen hiessen Belladonna, heute nennen es die Augenärzte Atropin. Doch Adeles Pupillen schrumpfen.
Die Knöpfe sind vermutlich auch der Bildbearbeitung geschuldet. Adele ist ein Produkt, was sonst. Mainstreampop ist eine kapitalistische, auf Masse und Wachstum ausgerichtete Kunst, die nebst aller Augenwischerei niederschwelligen Zugang für viele ermöglicht. Doch dieses Produkt ist so einzigartig wie komplex. Nur schon ihr Gesicht ist eine (wunderschöne) Skulptur. Die kräftige Nase, das grosse, weich verlaufende Grübchen am Kinn, die Airbrush-Landschaften um die Augen, die Rahmung der Lippen mit Lipliner wie in den Achtzigern – ein Gemälde im Raum, das den letzten Strich digital erhält.
Denn wer sich mit Substanzen etwas auskennt, denkt beim Anblick der Nadelaugen auch: Scheisse – Heroin, Codein, Opioide. Das spielt auf der dunklen Seite der Glamour Avenue. Alle diese Stoffe verkleinern die Pupillen, es sind sogenannte Downers, sie wirken beruhigend oder schmerzlindernd.
Es sind die Drogen unserer Zeit, und sie führen zu Krisen in breiten Bevölkerungsschichten, nicht nur in den USA. Sie sind das Gegenteil von Ecstasy, Kokain und Konsorten, nach deren Konsum die Augen wie in japanischen Mangas aussehen: grotesk vergrössert, die Sinnestore weit offen. Ecstasy stellt alles auf sinnlichen Empfang, Kokain geht voll auf Sendung (und den meisten andern auf die Nerven). Es sind Drogen der intensiven Kommunikation. Uppers. Die Downers dämpfen die Sinne, ausser Cannabis vielleicht, denn wenn man Glück hat, geht beim Kiffen beides: tief zu fühlen und lustig zu labern.
Ich lege keinesfalls nahe, dass Adele Adkins aus Südlondon, aktuell Beverly Hills, irgendeine dieser gefährlichen Substanzen tatsächlich und regelmässig konsumiert. Es geht um das Zeichen, nicht um die Frau selbst, die alle paar Jahre, wenn sie ihre Pausen unterbricht, mit uns so clever spielt. Ich muss zudem gestehen: Im Unterschied zu manchen Kollegen, die den Eindruck erwecken, sie würden Adele persönlich kennen, habe ich sie noch nie gesehen. Ich weiss nicht, was Fake oder was echt ist an ihr, und ein Psychogramm traue ich mir erst recht nicht zu. Sorry! Aber ich kann versuchen, das Spiel zu lesen.
Und in diesen verrückt kleinen Pupillen ist die Anleitung zum Popstarspielen bereits enthalten: Zurückweisung bei gleichzeitiger Kommunion. Ich bin gerade bei den Sternen, und ich bin gleichzeitig ganz bei euch, zum Beispiel auf Downers. Da ihre Songs so viel von Schmerz erzählen, liegt das nahe. Das ist die Spannung, die jeder Popstar aufrechterhalten muss – gewöhnlich und aussergewöhnlich in einem zu sein. Niemand schafft es, diese Kippfigur gerade so gut darzustellen wie Adele. Allein schon mit den Augen. Mit allem andern allerdings auch. Sogar mit der Musik.
Das Sekret des Authentischen
Sie haben es vermutlich mitbekommen: Die Sängerin Adele hat Ende vergangener Woche ihr viertes Album veröffentlicht, es heisst «30» und wird angeschoben von einer Aufmerksamkeitslawine, wie es nur noch ganz wenige Stars unter 75 hinkriegen. Es ist ganz gut. Und es wächst mit dem Hören auf verschiedenen Geräten. Lohnend: Die Musik auch durch Lautsprecher im Raum zu hören, so wird das Wohnzimmer zur «Royal Albert Fucking Hall». «30» ist ein grower, wie Popisten sagen, wenn ein Album Zeit braucht, um auch Nichtfans zu umranken. Mit Sicherheit wissen wir das erst in ein paar Wochen. (Die Verkaufs- und Streamingzahlen haben damit nichts zu tun, sie werden sowieso durch die Decke gehen wie die letzten Alben von Adele auch: Niemand hat in diesem Jahrhundert mehr Musik an die Hörerin gebracht als sie.)
«30» wiederholt auf musikalischem Terrain, was die Pupillen schon erzählt haben: göttlich klingen mit Streichern, Flügeln und dieser Stimme wie eine Gewitterwolke, dabei aber auch etwas Sand auf den Stimmbändern haben, von den menschlichsten Dingen singen. Vom Scheitern der Liebe, konkret von der Scheidung von Simon Konecki, von der Scham vor ihrer Familie und ihrem Sohn Angelo, vom Alleinsein, vom Weinen und ein bisschen auch vom Trinken. Wer kennt das nicht. Aber bei niemandem auf der Welt klingen diese gewöhnlichen Gefühle so aussergewöhnlich gross, breit und dramatisch überhöht.
Das Album beginnt wie ein altes Musical. In «Strangers by Nature» ist Adele eine Art Stimmenimitatorin, zumindest soll es eine Hommage an Judy Garland sein. Oder vielmehr eine solidarisierende Anrufung an die tragische Musicalikone Garland: «Strangers by nature / No one knows what it’s like to be us». Frei übersetzt: Wir sind von Natur aus anders, niemand weiss, wie es sich anfühlt, ein Star zu sein. Adele hebt also schon im ersten Song in die Ewigkeit ab. In der schon vorab ausgekoppelten Single berichtet sie anschliessend aus dem Nachleben ihrer Beziehung, «Easy on Me» – sei nachsichtig mit mir, Baby – ist der grosse Tränendrücker. Sie lässt ihre Geschichte Revue passieren und gesteht Fehler ein. In den höchsten und kräftigsten Lagen des Refrains bricht ihre Stimme manchmal leicht, diese Göttin ist so zerrissen wie die Göttinnen der alten Griechen.
Das Video des frankokanadischen Wunderkinds Xavier Dolan verdeutlicht, dass Adele aus dem Jenseits auf ihr Leben blickt. Dolans Musikfilm schliesst direkt an den Überhit «Hello» von 2015 an. Schon da hatte sie keine Telefonverbindung mehr, als sie in das verlassene Haus einzog, ein Totenhaus auf der «other side». In «Easy on Me» verlässt sie dieses Haus am Anfang, aber, «oh for God’s sake», das alte Klapphandy baut wieder keine Verbindung auf. Im Video passiert das, bevor wir den ersten Ton hören. Dann schiebt sie im Auto eine Musikkassette ein, erneut rückt eine veraltete Technologie ins Bild, und Adele fährt mit dem Auto durch ihre Erinnerungen an die gescheiterte Beziehung.
Doch, zack, dreht Regisseur Dolan die Farbe in den Film, der bislang im schwarzweissen Trauerflor lief. Es folgt eine Rückkehr ins Leben. Ab jetzt erzählt das Album nicht nur von der Trauer, sondern vermehrt von ihrer Überwindung. Adele spielt die Therapeutin wie die Patientin. Mehr Empowerment geht nicht – oder mehr Hybris. Weiterhin imitiert sie Stimmen, und ist doch weit weg von einer Kopistin.
Nach «Easy on Me» klingen der easy Bassgroove, der jazzige Akkord und die hallgetränkten Chöre in «My Little Love» stark nach Marvin Gaye und seinem epochalen Protestalbum «What’s Going On». Es geht bei Adele allerdings nicht um Polizeigewalt oder Umweltkatastrophen wie bei Gaye vor fünfzig Jahren. Sondern darum, dass «mommy» oft «big feelings» hatte in letzter Zeit, wie sie tatsächlich ihrem neunjährigen Sohn in Sprachmemos erzählt, auf denen der kleine Angelo mit ein paar Fragen an Mommy zu hören ist.
Adele fühlt sich allein, ausserdem hat sie einen Hangover. Und sie weint. Die Träne ist das Sekret des Authentischen, um gegen den seltsamen Vorwurf, ein Produkt zu sein, den flüssigen Gegenbeweis zu erbringen.
Die totale Kontrolle über das Leben als Kunst
Als alter weisser Linker müsste ich jetzt vermutlich folgenden Text vortragen: Madame, das ist entpolitisierter und narzisstischer Kitsch! Die erste Gegenfrage wäre aber, ob Marvin Gaye mit seinen meistens unspezifischen Texten nicht ebenso unter Kitschverdacht stehen müsste, vom Kanon der Popgeschichte aber dennoch geadelt wird. Der zweite Konter: Hohe Emotionalität, öffentliches Weinen und das Thema der geistigen Gesundheit, im Pop als mental health verhandelt, sind längst politisierte Felder. Der private Breakdown, gerade in digitalen Kanälen, ist das Gegenstück zum Gelungenheitszwang auf Instagram und Co. Weinen gegen Zuckerberg, der das allerdings gerne nimmt: Das heisst Kapitalismus, Schatz.
Die Träne protestiert bei Adele gegen die eigene Perfektion. Doch ihre Träne will trocknen. Adele ist nun 33 Jahre alt, das Alter im Titel zeigt den Rückspiegel und die Überwindung bereits an. Somit ist «30» kein reines Schmerzensalbum. Nebst den vielen Powerballaden gibt es auch Songs, die dem weissen Soul wieder näherkommen, für den Adele berühmt wurde.
Etwa «Oh My God», mit ihrem langjährigen Produzenten Greg Kurstin geschrieben. Rhythmisch ist der Refrain anspruchsvoll, rollt aber federleicht. Keine Depressive könnte das Silbenmaterial so souverän gestalten.
Mit dem schwedischen Hitmonster Max Martin und seinem Meisterschüler Shellback produziert sie die lüpfigste Popnummer des Albums, «Can I Get It», darin geht es um One-Night-Stands (findet sie nicht mehr so gut).
Und der Londoner Inflo, der sonst die aktivistische Band Sault produziert, hat mit Adele langsame, böse Nummern entwickelt, die sie so noch nie gesungen hat. Etwa «Woman Like Me», in der Adeles Ex nur noch als Wurst mit Problemen übrig bleibt. Was eine trockene Akustikgitarre, ein leises Schlagzeug, etwas Geisterhall und ein fieser Text so alles anrichten können!
Wir fassen zusammen: «30» ist schwer in Ordnung. Adele schafft es, den orchestralen Glamour mit betont persönlichen Geschichten zu kontrastieren, das war schon immer ihr zentraler Trick: mit sehr langen Wimpern und Nägeln in der Royal Albert Hall in London stehen und in breitem Südlondoner Akzent ein bisschen fluchen und dann gackern, als stünde sie hinter einer Bar im Stadtteil Brixton, wo sie aufwuchs. Das war vor zehn Jahren genauso, als sie mit «21» an der Spitze von so gut wie allen Jahreshitparaden landete und dann die DVD aus der Albert Hall hinterherwarf.
Doch jetzt übernimmt sie mit dem Album, das nicht einfach den Schmerz, sondern seine gelungene Therapie besingt, die totale Kontrolle über ihr Leben als Kunst.
«30» ist der Triumph einer Popkünstlerin, sich nicht auf ein eindeutiges Projekt beschränken zu müssen, auch nicht auf ein Projekt als «Frau im Pop», die so oder anders zu sein hat. Adele wirkt hart und sie wirkt weich, sie sieht makellos aus und singt darüber, dass sie zu Hause wenig Make-up und am liebsten Trainerhosen trägt. Sie posiert mit dem Weissweinglas und etwas vulgär geöffnetem Mund, und sie erzählt davon, wie sie zweimal täglich ins Fitnessstudio ging, um sich besser zu fühlen.
Eine Frau an der Spitze der Popwelt nimmt sich heraus, was sie will, und kontert jedes eindeutige Bild wieder mit ihrem Gegenteil. Alle Männer über zwölf sind entweder Loser (ihr Ex) oder Servicekräfte (ihre Produzenten). Das ist mehr als Feminismus. Das ist der Beginn des Matriarchats. Vorerst nur im Pop.
Leistungssteigerung vom Business bis zum Bedroom
Wie viel weiter die anfangs belächelte Sängerin gekommen ist als ihre Vorgängerinnen, zeigt sich im historischen Vergleich. Pop dient als sehr scharfes Brennglas für gesellschaftliche Kräfteverhältnisse, weil lange beides gut funktioniert hat: sowohl die rückständigen Vorstellungen, wie Frauen sein müssen, bis hin zu krassem Sexismus, als auch der Fuck-you-Finger aller, die davon abwichen. Im Pop zählt auch der Widerspruch zur Ware.
Verwirrend ist, dass wir eine sehr lange Zeit hinter uns haben, die den allerbesten Performerinnen gleichzeitig den Widerspruch und den Pornolook abverlangt hat: Spitzenkörper waren Körper in Spitzen, der Feminismus von Madonna, Britney Spears und Beyoncé war hypersexualisiert, ihre Emanzipation machte kurz vor dem Regime der Selbstdisziplinierung halt. Beyoncé konnte erst dann komplex werden, als sie sich für Black Lives Matter einzusetzen begann und ihre Bildsprache darauf ausrichtete.
Aber im Prinzip blieben alle drei auf dem Stand des Second-Wave-Feminismus stehen, den die TV-Serie «Sex and the City» vor rund dreissig Jahren popkulturell verewigte: Hey, wir sind – eh klar: heterosexuelle – Feministinnen, total alt, nämlich schon Ende dreissig, und sehen trotzdem scharf aus, yeah! Es gibt ab dem 9. Dezember eine Fortsetzung der Serie, für alle, die noch einmal daran erinnert werden möchten, wie retro die frühen Nullerjahre waren.
Man muss das Kontinuum der Stars aus Stahl von Madonna bis Beyoncé allerdings vor dem Hintergrund von weichen Stimmen und passiven Frauenrollen sehen, in Europa vor Namen wie Enya oder Dido, siehe die Schweizer Albumhitparade vor zwanzig Jahren. Die in Neoliberalismus getränkten Figuren der Leistungssteigerung vom Business bis zum Bedroom erscheinen heute dennoch als historische Seltsamkeit. Denn ganz am Anfang der Achtzigerjahre gab es zwei Sängerinnen, die ihnen weit voraus waren: Grace Jones und Annie Lennox, Letztere von den Eurythmics.
Die schwarze Jones und die weisse Lennox trugen geometrische Kurzhaarfrisuren, der Look, die Schminke und auch die busenarme Inszenierung der Körper betonten das Androgyne. Beide sangen in einem streng klingenden Alt, tiefer als andere Popfrauen. Mit Sadomaso kokettierten Grace wie Lennox. Ob die Figur der Domina eine emanzipierte Figur darstellt oder nur eine männliche Fantasie, kann man lange diskutieren. Aber sie waren dennoch Pionierinnen, die im Pop eine nicht stereotype Weiblichkeit durchsetzten. (Super optimiert waren auch sie: In den USA und in Grossbritannien begann mit Reagan und Thatcher das Zeitalter des Neoliberalismus.)
Leider folgte auf Grace Jones und Annie Lennox gut dreissig Jahre lang keine Frau mehr, die jenseits herkömmlicher Frauenrollen das globale Pop-Parkett bestimmte. Schon gar nicht Madonna, Britney Spears oder Beyoncé, bei denen das Mieder zentrales Accessoire blieb, trotz gelegentlicher Ausflüge in die Bildwelten von SM oder einem – huch, hoppla – Kuss unter Frauen. Adele Adkins mit Übergewicht und Billie Eilish in Textilzelten änderten in kurzer Zeit, was jahrzehntelang unmöglich schien: Popstars ohne konventionellen Pornokram. Verrückt, das ging!
Sie bestimmen das Spiel selbst
Auch die Popgeschichte verläuft nicht linear, Fortschritt ist keine Konstante. Denn Adele und Eilish ähneln, in moderater Form, zwei viel älteren Stars, die beide in und an ihrer Zeit scheiterten.
Adele und Eilish rufen Aretha Franklin und Janis Joplin auf. Franklin aus Detroit, die mit 12 das erste und mit 14 das zweite Kind bekam, erinnert nicht nur körperlich, sondern auch stimmlich leicht an Adele, die es ebenso gern kratzen lässt. Mit dem Otis-Redding-Song «Respect» gelang Franklin 1967 eine Nummer eins, die sowohl im Kontext der schwarzen Bürgerrechtsbewegung wie der Gleichberechtigung von Frauen ikonisch wurde. «Respect» war Pop, doch in den Siebzigerjahren haben sich die Märkte wieder segregiert. Es gab weisse Musik und schwarzen Soul oder R&B. Den zweiten und den dritten Hit hatte Franklin erst fast zwanzig Jahre danach, in Duetten mit weissen Britinnen: 1985 mit, genau, Annie Lennox und den Eurythmics («Sisters Are Doin’ it for Themselves») und 1987 mit George Michael («I Knew You Were Waiting (for Me)».
Das Modell Aretha Franklin war im Mainstream zwischenzeitlich verschwunden, und als sie Mitte der Achtziger wieder auftauchte, galt sie mit 43 als alte Dame. Man kann sich diesen mit Rassismus gepaarten Sexismus kaum mehr ausdenken. Eine solche Erniedrigung blieb Janis Joplin erspart, weil die von Selbstzweifeln geplagte Alkoholikerin bereits 1970 im Alter von 27 Jahren starb (an einer Überdosis Heroin). Das Nuscheln und Murmeln von Joplin kehrt bei Eilish wieder, auch wenn Billie sonst kühler singt. Und auch die hängenden Kleider, die die Figur verhüllen, sind eine seltene Gemeinsamkeit im Pop-Olymp.
Doch selbst wenn Adele (und ein Stück weit Billie Eilish) in einigen Dingen an die berühmtesten Sängerinnen der späten Sechzigerjahre erinnern, stehen ihre Karrieren unter einem andern Stern. Sie haben nicht Erfolg, obwohl sie über ihre Schwächen singen, sondern weil sie es tun. Gleichberechtigung müssen sie gar nicht einfordern, sie bestimmen das Spiel selbst. Das Pop-Matriarchat ist bestens therapiert. Und Adele beherrscht zudem meisterhaft die Selbstinszenierung als Unsterbliche, und zwar ohne den Beweis mit der Zerstörung ihres Körpers antreten zu müssen.
Das beste Beispiel für diesen Schein des Ewigen ist das Gipfeltreffen zwischen Adele und Oprah Winfrey, der berühmtesten Sängerin und der reichsten Talkerin der Welt, um das neue Album erst recht in hohe Sphären steigen zu lassen. Die eine ist 33 und weiss, die andere 67 und schwarz, aber das spielt keine Rolle mehr da oben, man sieht eh kaum einen Unterschied im Bild. Beide tragen weisse Hosenanzüge, wenn sie im Rosengärtchen sitzen. Man muss wahrlich kein Pfarrer sein, um in diesem Bild mindestens zwei Engel zu erkennen. Weil es moderne Figuren sind, können sie auch über ihren Fall reden, ihren potenziellen Absturz. So sehen in Zukunft vermutlich moderne Unternehmen aus: weibliche Doppelspitze.
Oder doch nicht? Vielleicht steckt im Vormarsch der Popfrauen und ihrer bisweiligen Dominanz ein letzter patriarchaler Stachel. Vor zwanzig Jahren verdiente man im Popmarkt ganz andere Summen, vor allem verdienten mehr Künstler daran. Es war das Jahr 2001, als die Tonträgerindustrie wegen digitaler Tauschbörsen einbrach. Der Markt ist selbst zwanzig Jahre später noch nicht wieder auf dem Niveau von 2001, auch wenn Streaming seit fünf Jahren den Trend dreht, aber das lohnt sich nur für sehr wenige an der Spitze, wie Adele eben.
Man könnte somit vermuten, dass die Frauen die Popmusik erst ab dem Zeitpunkt beherrschen, als Pop an Gewicht verliert und als Stimmungsrauschen auf Streamingplattformen überlebt. Bei allem Fortschritt, der mit Adele aufscheint, muss man auch den Rückschritt in Erwägung ziehen, dass die Frauen nur deshalb an der Reihe sind, weil die Männer das Feld gerade weniger wichtig finden.
Eine aktuelle Parallele: Drei Frauen bekleiden neuerdings alle Spitzenämter der evangelischen Kirche in Deutschland, einer Institution, die jährlich 200’000 Mitglieder verliert.
Tobi Müller ist Kulturjournalist und Autor in Berlin. Er schreibt vor allem über Pop- und Theaterthemen. Im September ist sein Buch «Play Pause Repeat. Was Pop und seine Geräte über uns erzählen» bei Hanser Berlin erschienen. Für die Republik hat er zuletzt über den Einfluss des Streamings auf die Musik und unsere Hörgewohnheiten geschrieben.