Ruhestörung
Ein paraguayisch-schweizerischer Dokfilm im Oscar-Rennen erzählt von der bedrohten indigenen Volksgruppe der Ayoreo. Man könne als Fremde nicht verhindern, Eindringling zu sein, sagt die Regisseurin. Ein Glück, hat sie es gar nicht versucht.
Von Theresa Hein, 26.11.2021
Ein paar Fragen:
Was braucht es, um zwei Menschen, die sich lieben, zu trennen?
Wie lange dauert es?
Und wann sehen sich die beiden wieder?
Und ein paar Antworten:
Unbekannte Menschen auf Pferden.
Ein paar Sekunden.
Nie.
Tune Picanerai erzählt von dem Moment, in dem er seine Frau verloren hat, schon vor Jahrzehnten. Sie seien gerade einen Weg am Waldrand entlanggegangen, als sie die Weissen auf Pferden heranpreschen sahen. Panik habe sie ergriffen, dann seien sie in den Wald hineingelaufen, so schnell sie konnten. «Erst nach einer Weile habe ich begriffen, dass wir in unterschiedliche Richtungen gerannt sind», erzählt er. Er habe seine Frau nie wieder gesehen.
Ihm gegenüber sitzt ein älterer Mann mit einem Oakley-Käppi und einem Kassettenrekorder, der nichts sagt und die Erzählung aufzeichnet. Sein Name ist Mateo Sobode Chiqueno, er ist Angehöriger der indigenen Volksgruppe der Ayoreo in Paraguay, wie Tune Picanerai auch.
Und beide werden sie gefilmt.
Der Mann mit dem altmodischen Kassettenrekorder will genau wissen, wie es für die anderen war, als sie aus dem Wald vertrieben wurden, dabei war es bei den meisten nicht anders als bei ihm selbst: Eltern wurden von ihren Kindern getrennt, Menschen entführt und in Häfen zur Schau gestellt, andere starben auf dem Weg in die Gebiete, in denen sie fortan leben sollten.
Ist das nicht «victim porn»?
Manchmal hört sich Mateo Sobode Chiqueno den ganzen Tag diese Geschichten an. Er sucht Angehörige der Ayoreo überall in Paraguay auf, damit sie ihm genau das erzählen. Oft sind es keine spontanen Erzählungen, sondern einstudierte Gesänge, in denen die Menschen das Erlebte verarbeitet haben; manchmal auch einfach Lieder oder Rituale, von denen Mateo Sobode Chiqueno fürchtet, dass sie vergessen werden könnten. Die paraguayische Filmemacherin Arami Ullón hat Mateo Sobode Chiqueno jahrelang bei seiner Arbeit begleitet, das Ergebnis ist der Dokumentarfilm «Apenas el sol».
Spätestens jetzt ist es Zeit, nochmals ein paar Fragen zu stellen.
Kann ein Dokumentarfilm überhaupt funktionieren, wenn er sich darauf konzentriert, dokumentarische Arbeit abzufilmen? Kann eine nicht indigene Regisseurin einen gelungenen Eindruck davon geben, was die Umsiedlung und Vertreibung der Ayoreo seit Ende der Siebzigerjahre in Paraguay für die indigene Volksgruppe bis heute bedeutet?
Und muss man diese Erzählungen der tragischen Einzelschicksale erstens immer wieder und zweitens in der geballten Masse wiederholen? Ist das nicht das, was man victim porn nennt, diese Erzählung des armen Indigenen in der Opferrolle, der vom bösen Weissen vertrieben wird?
Die Frage, ob man die emotionalen Geschichten wiederholen muss, ist vielleicht die, die sich am einfachsten beantworten lässt: Man muss unterscheiden zwischen dem kurzfristigen, herablassenden, pathetischen Fragment, nach dem diejenigen, die die Sache betrifft, nichts zu sagen haben. Und der tiefer gehenden Adressierung dessen, was uns als Menschen emotional anspricht, um langfristig ein Bewusstsein für die Problematik zu schaffen; etwa durch die Schilderung einer auseinandergerissenen Familie.
Ullón tut Letzteres. «Die Schilderung dieses Mannes hat mich wahnsinnig getroffen», erzählt die Regisseurin der Republik. «Sie fasst für mich den Kern des Films zusammen, diese Panik, die es unmöglich macht, nach links und rechts zu schauen. Ich habe seine Erzählung während der Jahre, die ich an dem Film gearbeitet habe, bei mir behalten wie einen Anker.»
Die Filmemacherin, in der paraguayischen Hauptstadt Asunción geboren, lebt seit acht Jahren in der Schweiz. Aus purem Zufall, erzählt sie, habe sie im Jahr 2012 in der Zeitung von den Ayoreo im Gran Chaco gelesen, einem Waldgebiet in ihrer Heimat, in dem immer noch Menschen ohne jeglichen Kontakt zur Aussenwelt lebten. Sie habe sich geschämt, weil sie nichts davon wusste: «Ich fand mich so ignorant.»
Ullón reiste in ihr Heimatland und nahm Kontakt zum Schweizer Ethnologen Benno Glauser auf, der seit den Siebzigerjahren in Paraguay lebt und eine NGO zum Schutz der stark bedrohten indigenen Volksgruppe mitbegründet hat. Durch ihn kam sie in Kontakt mit Mateo Sobode Chiqueno, dem Geschichten- und Erinnerungssammler. Dann begann sie mit ihrer Arbeit, die ab dem 25. November in Deutschschweizer Kinos zu sehen ist. Der Film steht mittlerweile nicht mehr nur auf einer, sondern auf zwei Listen für die Oscar-Vorauswahlen, die Ende Dezember bekannt gegeben werden: bester internationaler Film und bester Dokumentarfilm.
Existenz beweisen, Kontakt vermeiden
Mit seinen Aufnahmen will der Ayoreo Mateo Sobode Chiqueno zugleich die Traditionen seines Volkes für die Nachwelt sichern und die Familien, die noch abgeschnitten von der Aussenwelt als Nomaden im Gran Chaco leben, vor eben jener Aussenwelt bewahren. Schwierig ist das deshalb, weil die Region zu den am schnellsten abgeholzten Waldgebieten der Erde gehört; der Lebensraum der Ayoreo wird durch Viehzüchter und Landbesitzer bedroht, der Wald, in dem sich die Familien verstecken, immer kleiner.
Nun muss man jedoch, um der Regierung klarzumachen, dass es noch unberührt lebende Ayoreo im Wald gibt, die zu schützen sind, beweisen, dass sie existieren. Von einigen sogenannt «isolierten Völkern» gibt es Drohnenfotos aus der Luft; wer sie sieht, fragt sich allerdings, ob das sein muss.
Dieses Paradox – die Existenz der Indigenen für Aussenstehende erfahrbar machen, um die Erfahrung des Kontakts zu verhindern – ist Mateo Sobode Chiquenos Lebensaufgabe. Arami Ullón hat ihm dabei zugeschaut. Trotzdem ist der Weg, den die Filmemacherin mit ihrer Dokumentation geht, nur vermeintlich ein einfacher.
Ullón entscheidet sich bewusst gegen beliebte Schemata berühmter Dokumentarfilme. Weder geht sie den bevormundenden Weg, den Regisseure von Kassenschlager-Dokumentationen wie Michael Moore geprägt haben: hier gut, hier böse, hier kannst du dich empören. Noch hat sie sich mit Politikerinnen und Aktivisten unterhalten, wie es etwa in der fein angelegten Rassismus-Dokumentation «13th» von Ava DuVernay der Fall ist. Ullón geht voll in die Beobachterrolle, in Film und Fernsehen nennt man dieses Prinzip fly on the wall.
Die Regisseurin bricht diesen Blick der Fliege an der Wand, indem sie den Protagonisten bei seiner eigenen Dokumentation zeigt, der die Menschen zur Inszenierung auffordert und sie zu sprechen bittet: «Du kannst beginnen», hören wir ihn vor seinen Interviews sagen. Oder: «Kannst du ein Ritual an mir durchführen?»
Noch herausfordernder wird es für die Zuschauerinnen dadurch, dass beinahe das Einzige, was die Ayoreo im Film tun, erzählen ist.
Das Actionreichste sind die Glühwürmchen
Irgendwann habe sie die Sorge über Bord werfen müssen, dass das der unorthodoxe Weg sei, dass man es langweilig finden könnte, sagt Ullón: «Jedes Thema verlangt nach seiner eigenen Form. Die Tradition der Ayoreo ist eine ausschliesslich mündliche. Also haben wir uns für die Mündlichkeit entschieden.»
Behutsam passt sich die Technik des Films dem Modus des Zuhörens an. Die Kamera filmt meist seitlich oder über die Schulter. Um die Zuschauer näher bei den Sprechenden zu verorten, hat man sich für anamorphotische Linsen entschieden. Das heisst: Der fokussierte Bereich des Bildes ist sehr klein, Unschärfe an den Rändern. Das Publikum hat gar keine Wahl, als sich auf die Mimik und die Gestik der Sprechenden zu konzentrieren, allenfalls noch die Farben. Glutrot, wüstenbraun. Zwischendurch sorgt ein Schwarm Glühwürmchen für Action, das wars dann aber auch schon.
Insgesamt ist der Film eine Glanzleistung; wegen jener intimen Erzählungen wie der von Tune Picanerai, der seine Frau verlor, oder der konfrontativeren Gespräche, die Mateo Sobode Chiqueno führt. Eines davon mit einem Mann namens José Iquebi, der noch ein Kind war, als ihn die Weissen in den Siebzigerjahren mit einem Seil einfingen und entführten. Weil sie die Spuren der Ayoreo nicht finden konnten, bezahlten sie den Gefangenen José, der sie verriet:
José: «Mein grösster Wunsch war, meine Mutter wiederzufinden. Die Weissen sagten, gehen wir ins Ayoreo-Gebiet. Sie sagten auch, du wirst dafür bezahlt. (...) Ich glaube, ich bekam sieben Cent dafür.»
Mateo: «Das war der Preis, um uns zu finden?»
José: «Ja, so viel zahlten die Mennoniten. Ich war sehr froh, wieder Ayoreo zu sehen.»
Nach dieser Begegnung starben allerdings viele Ayoreo (zum Beispiel an Masern, mit denen sie sich bei den Fremden ansteckten), darunter die Mutter des Fragestellers Mateo. Und das Gespräch wird ziemlich unangenehm.
Nur die Sonne hat kein Preisschild
45 Stunden Material hatten die Regisseurin und ihr Team am Ende beisammen, auf 75 Minuten hat Ullón den Film kondensiert, in denen sich die Sprechenden nun die grossen Fragen stellen:
Sollen die alten Ayoreo an ihren Traditionen noch festhalten? Oder sorgt das nur für unnötige Zwietracht zwischen den Generationen?
Kann man von «Zusammenleben» mit den Weissen sprechen?
Und ist das Leben mit den Weissen nun besser als vorher oder schlechter?
Die letzte Frage beantwortet zumindest Mateo Sobode Chiqueno ziemlich eindeutig, auch wenn ihm andere im Film widersprechen. Arami Ullón unterstreicht seine Worte mit Bildern von der sengenden Wüste, den beinahe unbewohnbaren Fleckchen Erde, die den Ayoreo zugewiesen wurden: «Ursprünglich versorgte uns die Natur mit allem. Jetzt muss sogar das Wasser bezahlt werden, obwohl es unter unseren Füssen fliesst.» Die Sonne, erzählt Mateo Sobode Chiqueno, sei das Einzige, was die Weissen noch nicht für sich beansprucht hätten.
Vor diesem Konflikt stehen indigene Völker auf der ganzen Welt. Die Gemeinschaften waren, bevor ihr Lebensraum bedroht und ihre Lebensweise von der jeweiligen Landesregierung infrage gestellt wurde (oder sie missioniert wurden) nicht arm; auch wenn sie nicht materiell reich waren. Arbeit gestaltet sich heute für die Indigenen häufig schwierig: Die Jagd wird ihnen verboten, das Land, auf dem sie leben, ist meist unfruchtbar, in den Gemeinden der Weissen sind sie nicht gern gesehen.
In «Apenas el sol» hat Arami Ullón sich spürbar um Augenhöhe bemüht und auf einer gleichberechtigten Zusammenarbeit mit ihrem Protagonisten bestanden – womit wir wieder bei der schwierigen Aussenseiter-Frage vom Anfang sind: Darf die das überhaupt?
Wer ist schon die «richtige» Person?
Die Regisseurin sagt, es sei pervers zu denken, man sei kein Eindringling. Ein Glück, hat sie nicht um jeden Preis versucht, kein Eindringling sein zu wollen; es wäre vermutlich ein unehrlicher Film daraus geworden. «Was man versuchen kann, ist, den Einfluss zu minimieren», sagt sie. Maximal drei Tage am Stück hätten sie und das Team jeweils in einer Community gedreht, nicht bei den Familien übernachtet, versucht, ihnen zu ermöglichen, nach dem Besuch wieder ihr normales Leben fortzusetzen. «Ich sage nicht, dass das ideal ist», gibt Ullón zu. «Aber jede Filmemacherin dringt in den Raum der Menschen ein, die sie filmt.»
Oft habe sie sich gefragt, ob sie überhaupt die richtige Person sei, ob sie es schaffe, die Komplexität dieser Geschichten zu erzählen. (Wenn man die Regisseurin besser kennen würde, man würde ihr gerne sagen, dass es gerade die Menschen sind, die sich diese Fragen stellen, die oft die beste Arbeit machen. Aber so muss man sie einfach weiterreden lassen.) Mateo Sobode Chiqueno sei unter denen gewesen, die sie bestärkt hätten.
«Bei einem der letzten Screenings in Paraguay hat ein Journalist gefragt, wie Mateo auf mich reagiert habe.» Die Frage, sagt Ullón, habe einen komischen Beigeschmack gehabt, so als hätte Mateo Sobode Chiqueno nicht gewusst, was eine Kamera ist. «Mateo, der lange eine Radioshow hatte und seit Jahrzehnten über das Schicksal seines Volkes spricht, wusste genau, was er tut. Er wollte schon lange, dass jemand seine Arbeit filmt», erzählt Ullón. Er habe sich gefreut, dass sie Paraguayerin sei.
Was Mateo Sobode Chiqueno antreibt, die bestehenden Familien der Ayoreo, die als Nomaden im Wald leben, zu schützen, drückt er einmal so aus: «Ich will nicht, dass sie hier wie wir jeden Tag leiden müssen.» Obwohl es ihn, auch das sagt er laut, beinahe zerreisst, mit ihnen zu sprechen, ihnen zu sagen, wie sehr ihm das «frühere» Leben fehlt. Was es heisst, heimatlos zwischen Zäunen eingepfercht zu sein, die andere für ihn errichtet haben.
Gegen Ende des Films begleitet Ullón ihren Protagonisten noch auf einer Reise, die er für sich selbst unternimmt: Er bittet eine der letzten Schamaninnen um ein Segnungsritual, damit er wenigstens nach seinem Tod wieder in die unberührte Gemeinschaft seiner Ahnen aufgenommen werden kann.
Neben einem eindrücklichen Film über eine indigene Volksgruppe hat die Regisseurin Arami Ullón also das intime Porträt eines sich aufopfernden Menschen gedreht. Dass dieser Mensch zugibt, wie sehr ihn diese Selbstlosigkeit schmerzt und wie schwer sie ihm manchmal fällt; dass Ullón ihn so lange begleiten konnte, bis er es offen ausspricht, das alles ist der jahrelangen gemeinsamen Vertrauensarbeit zwischen der Regisseurin und dem Protagonisten zu verdanken.
Nimm das, Hollywood.
Arami Ullón (Regie und Buch): «Apenas el sol». Dokumentarfilm, Schweiz/Paraguay, 2020. 75 Minuten. Mit Mateo Sobode Chiqueno u. a., Kinostart in der Deutschschweiz am 25. November 2021.