Sprachnotiz von Nicoletta Cimmino
#1: Scheitern
Alle zwei Wochen schickt Nicoletta Cimmino eine Audio-Sprachnotiz an das Republik-Publikum. Heute: Wie man Schläge kassiert – und trotzdem weitermacht.
Von Nicoletta Cimmino, 23.11.2021
Meine erste Sprachnotiz, liebe Hörerinnen und Leser der Republik, handelt vom Scheitern.
Sie kennen bestimmt Harvey Keitel.
Ja, der aus «Taxi Driver». «The Piano». «Pulp Fiction».
Der, der im Roadmovie «Thelma & Louise» diesen netten Polizisten spielt. Detective Hal Slocumb, der den beiden fliehenden Frauen in der letzten Szene hinterherrennt, als sie mit ihrem Thunderbird Jahrgang 66 über die Klippe in die ewige Freiheit rasen.
Harvey Keitel gehört zweifellos zu den grossen Stars in Hollywood.
Aber auch ein Harvey Keitel ist (mindestens!) einmal gescheitert.
Das habe ich kürzlich erfahren, als ich den Dokumentarfilm «Hearts of Darkness» gesehen habe.
«Hearts of Darkness» ist von Eleanor Coppola, das ist die Frau von Francis Ford Coppola. Der Film handelt von den Dreharbeiten zu «Apocalypse Now», dem Meisterwerk ihres Mannes.
Eleanor Coppola hat mit einer Handkamera den ganzen Wahnsinn dieser Dreharbeiten Mitte der Siebzigerjahre festgehalten, und man kann dabei zuschauen, wie ihr Mann bisweilen fast den Verstand verliert. Das ist alles längst bekannt.
Was ich aber nicht wusste – Sie vielleicht auch nicht? – und was in «Hearts of Darkness» nur kurz angetönt wird: Eigentlich hatte Harvey Keitel die Hauptrolle.
Er hätte Captain Willard spielen sollen. Also die Rolle, mit der dann Martin Sheen seinen Durchbruch hatte. Der Rest ist – was Martin Sheen angeht – Kinogeschichte.
Mich hat das neugierig gemacht, dieser Personalwechsel. Was ich herausgefunden habe, ist Folgendes: Harvey Keitel wurde bei «Apocalypse Now» ersetzt, weil Coppola beim Sichten der ersten Drehtage merkte, dass er auf den falschen Mann gesetzt hatte. Irgendeinmal nach zwei Wochen sei der Regisseur aus seinem stickigen Büro gekommen, im Dschungel auf den Philippinen. Und habe gesagt: Keitel ist nicht der Richtige. Das funktioniert nicht.
Harvey Keitel musste abreisen. Alles Material, in dem er zu sehen war, wurde vernichtet und nachgedreht. Ausser offenbar einer ganz kleinen Szene in der Totalen, die aber so rasch vorbei ist, dass man ihn kaum erkennt.
Nun habe ich mich natürlich gefragt: Wie war das für den Schauspieler, vom grossen Coppola heimgeschickt zu werden? War er wütend? Oder traurig? Hat er sich geschämt, weil er es offenbar nicht gebracht hat?
Wir wissen es nicht. Keitel redet nicht gerne darüber. Francis Ford Coppola hat darüber geredet. Aber eben: Eine Geschichte hat immer zwei Seiten … und hier kennen wir fast nur die eine.
Wenn ich mir jetzt ausgerechnet das Scheitern als Thema ausgesucht habe für meine allererste Sprachnotiz – dann vielleicht, weil in jedem Beginn die Möglichkeit des Scheiterns steckt.
Das ist im Beruf so und in der Liebe. Manchmal ist die Idee schlecht, manchmal stimmt die Chemie nicht. Manchmal ist man die falsche Person im richtigen Projekt. Oder man ist die richtige Person im falschen Leben und so weiter, Sie wissen schon.
Dann macht man es am besten wie Harvey Keitel. Man kassiert den Schlag, steht wieder auf. Und geht weiter auf seinem Weg.
Es wäre schade gewesen, hätte Keitel 1976 seine Karriere beendet. Es wäre schade, hätte er die Rolle des netten Polizisten in «Thelma & Louise» nie angenommen deswegen. Diese letzte Szene, die hätte es so nie gegeben. Wer weiss, ob sie mit einem anderen so berührt hätte.
Und mit diesem tröstlichen Gedanken verabschiede ich mich von Ihnen. Harvey Keitel war vielleicht nicht Captain Willard. Aber Harvey Keitel war sehr bestimmt Detective Hal Slocumb.
Mögen Sie gelassen scheitern. Und dann wieder aufstehen. Wir hören uns in zwei Wochen wieder.