Europa im Bummelzug
Mit dem Zug reisen ist gut fürs Klima. Doch die europäischen Staaten sabotieren den grenzüberschreitenden Bahnverkehr.
Eine Recherche von Philipp Albrecht, Nico Schmidt (Investigate Europe), Felix Michel (Visualisierung) und Alexander Glandien (Illustration), 23.11.2021
Für Greta Thunberg ist es selbstverständlich, dass sie nicht mit dem Flugzeug reist. Anfang November fuhr sie mit dem Zug an den Klimagipfel in Glasgow. Auch ans World Economic Forum reiste Thunberg vor rund drei Jahren auf der Schiene. «Es ist ein langer Weg von Stockholm nach Davos, rund 32 Stunden», sagte sie kurz vor dem Ziel in eine TV-Kamera: «Es ist die Mühe wert.»
Thunberg gehört zu einer Minderheit. Nur 11 Prozent der Menschen reisen in Europa mit dem Zug. 64 Prozent bevorzugen das Auto, 17 Prozent das Flugzeug. Gerade wenn die Reise länger dauert, setzen viele auf den Flieger.
Die beliebtesten Destinationen ab Zürich-Kloten und Basel-Mulhouse sind London, Berlin und Amsterdam. Sie sind im Zug nicht in unter 6,5 Stunden zu erreichen. Im Flieger sind es rund 3 Stunden, inklusive Wartezeiten. Doch eine Flugreise von Zürich nach London belastet die Atmosphäre mit 140 Kilogramm CO2. Mit dem Zug sind es pro Passagierin nur rund 20 Kilogramm CO2.
Ob von Zürich nach London, von Marseille nach Mailand oder von Lissabon nach Madrid – es ist überall in Europa dasselbe: Bahnfahrten dauern ewig. Und als wäre das nicht genug, sind sie schlecht organisiert. Wer mit dem Zug ins Ausland fährt, läuft Gefahr, am komplizierten Ticketkauf zu verzweifeln.
Für den Klimaschutz ist das eine Katastrophe. Denn Züge sind auf sämtlichen Strecken sauberer als das Flugzeug – selbst dann, wenn sie in Ländern wie Deutschland unterwegs sind, wo sie teilweise noch mit Kohlestrom fahren.
Woher kommt dieses Missverhältnis? Warum können Passagiere in Europa nicht einfach online ein Ticket von Berlin nach Barcelona kaufen? Warum sind viele Nachtzüge verschwunden, mit denen sich Flüge ersetzen liessen? Und wer profitiert davon, dass das europäische Schienennetz so schlecht ist?
Diesen Fragen ist die Republik in Zusammenarbeit mit dem Rechercheteam «Investigate Europe» nachgegangen.
Die Ergebnisse sind ernüchternd:
Noch immer wird in Europa deutlich mehr Geld in die Strasse investiert. Parallel dazu wird die Schiene vernachlässigt: In den vergangenen 20 Jahren wurden 6000 Kilometer Gleise stillgelegt.
Die EU-Staaten verzögern systematisch den Bau eines einheitlichen Signalsystems. Zentrale Schieneninfrastrukturprojekte sind um Jahrzehnte verspätet, weil Deutschland internationale Absprachen bricht.
Die grossen nationalen Bahnkonzerne kooperieren zu wenig und schliessen «Nichtangriffspakte». Und die deutsche Regierung blockiert gemeinsam mit Frankreich Vergleichswebsites für Zugtickets.
«Investigate Europe» ist ein Team von Investigativjournalistinnen aus 11 Ländern, das Themen von europaweiter Relevanz recherchiert und die Ergebnisse in Medien in ganz Europa veröffentlicht. Zu den Medienpartnern dieser Publikation gehören neben der Republik unter anderem: «Trends» (Belgien), «Tagesspiegel» (Deutschland), «EfSyn» (Griechenland), «Il Fatto Quotidiano» (Italien), BBC World Service (UK), «Gazeta Wyborcza» (Polen), «Público» (Portugal), «InfoLibre» (Spanien), «Telex» (Ungarn).
An dieser Recherche waren neben den zwei aufgeführten Autoren beteiligt: Laure Brillaud, Lorenzo Buzzoni, Wojciech Cieśla, Ana Ćurić, Ingeborg Eliassen, Juliet Ferguson, Attila Kálmán, Nikolas Leontopoulos, Maria Maggiore, Sigrid Melchior, Leïla Miñano, Paulo Pena, Harald Schumann, Elisa Simantke sowie Eurydice Bersi («Reporters United») und Manuel Rico («InfoLibre»).
«Investigate Europe» wird unterstützt von seinen Leserinnen, durch Spender sowie durch die Schöpflin Stiftung, die Rudolf Augstein Stiftung, die Fritt Ord Stiftung, die Open Society Initiative for Europe, die Adessium Stiftung, die Reva und David Logan Stiftung, die TAZ Panter Stiftung und die Cariplo Stiftung.
Die Spurensuche dazu, was im europäischen Bahnverkehr schiefläuft, beginnt in einem Bahnhof im Brüsseler Vorort Schaerbeek.
1. Es wurde privatisiert statt investiert
An einem dunklen Oktobertag steht hier ein einsamer Sonderzug. Die EU-Kommission hat das «Jahr der Schiene» ausgerufen und ihn dafür aus Waggons der grossen europäischen Bahnkonzerne zusammensetzen lassen. Das Weiss der Deutschen Bahn und das Silber der französischen SNCF liess sie einheitlich in Königsblau streichen. Im Innern der Waggons hängen Wimpel und Fähnchen der Mitgliedsstaaten.
Mit einer Fahrt durch hundert Städte sollte der «Europa Express» für eine neue Ära im europäischen Bahnverkehr werben. «Die Bahn ist die Zukunft Europas, unser Weg zur Eindämmung des Klimawandels und zum Aufbau eines kohlenstoffneutralen Verkehrssektors», sagte Adina Vălean, EU-Kommissarin für Verkehrspolitik, zum Start der Tournee in Lissabon.
Doch das ging gründlich schief. Die Fahrt des Werbezuges, dessen Name angelehnt ist an den Trans-Europ-Express, der von 1957 bis 1988 in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, in Österreich und in der Schweiz verkehrte, geriet zu einer Demonstration des Versagens. Für die Fahrt durch 26 EU-Mitgliedsländer bedurfte es nicht weniger als 55 unterschiedlicher Lokomotiven, weil einfach nichts zusammenpasst auf Europas Schienen.
«Wir müssen Kurzstreckenflüge einschränken und Reisen unter 500 Kilometer klimaneutral stellen», fordert Frans Timmermans, der Klimachef der EU-Kommission. «Das bedeutet mehr Züge und sauberere öffentliche Verkehrsmittel.» Tatsächlich aber ist Europas Bahnnetz «ein ineffektives Flickwerk», urteilte der Europäische Rechnungshof und bescheinigte den Verantwortlichen einen flächendeckenden Mangel an Koordination.
Fehlenden Willen kann man Brüssel in dieser Sache nicht vorwerfen. Die EU machte sich schon vor 30 Jahren für ein zusammenhängendes europäisches Bahnnetz stark. Doch in den Mitgliedsstaaten galt die Bahn stets als Nationalstolz – stark verbunden mit ihrer Blütezeit, als sie nur sicherstellen musste, dass Passagierinnen problemlos von A nach B reisen können, und als die Versorgung noch im Vordergrund stand und Gewinne sekundär waren.
In den Neunzigerjahren änderte sich das. Getragen vom Glauben, dass private Unternehmen effizienter sind als der Staat, verpflichteten sich die Mitgliedsstaaten, ihren Staatsbahnen eine privatwirtschaftliche Form zu geben sowie den Schienen- vom Zugbetrieb zu trennen.
So fusionierten in Deutschland 1994 die westdeutsche Bundesbahn und die ostdeutsche Reichsbahn zur Deutschen Bahn AG. Und in der Schweiz wurden 1999 die SBB aus der Bundesverwaltung abgekoppelt und zu einer Aktiengesellschaft umgewandelt, die dem Bund gehört. Obwohl nicht Teil der EU, musste die Schweiz wegen der bilateralen Verträge hier mitziehen.
In der Folge kam es in Europa zwar zu mehr Wettbewerb. Doch mit dem neuen Fokus auf Profite wurden viele weniger rentable Strecken eingestellt, darunter auch grenzüberschreitende Angebote. Laut der Uno-Wirtschaftskommission für Europa, UNECE, fielen in den vergangenen 20 Jahren mehr als 6000 Schienenkilometer dem Sparzwang zum Opfer, 4000 davon allein in Frankreich. Dort investierte der Staat zwar massiv in den Fernverkehr zwischen den grossen Städten, vernachlässigte aber das übrige Land, weil das Geld dafür fehlte. Bahnkonzerne wie die SNCF, die SBB und die Deutsche Bahn strichen in den 2010er-Jahren zudem mehrere Nachtzüge ersatzlos.
Einst konnten Passagiere zwischen Italien und Frankreich zwei durchgehende Fernverkehrsverbindungen nutzen, um vom einen Land in das andere zu reisen. Doch inzwischen wurden die Verbindungen eingestellt. Statt mit einem Zug von Mailand nach Marseille durchzufahren, müssen Passagiere nun 3 Züge und 3 Tickets nutzen. Statt 5 Stunden sind sie nun 8 Stunden unterwegs.
«Ein Resultat des Wettbewerbs war, dass in den Ländern massive Widerstände wuchsen, weil die Angst vor Verlust viel grösser war als die möglichen Chancen», sagt der Transport- und Logistikberater Philipp Morf. «Die Bahnunternehmen konnten sich nie sicher sein: Würden sie mit Verbindungen in einem anderen Land mehr Umsatz machen, als sie verlieren würden, wenn ein ausländischer Konkurrent in ihr Land käme?»
Auch in der Schweiz hat der «Europa Express» bereits haltgemacht. Bundesrätin Simonetta Sommaruga und SBB-Chef Vincent Ducrot fuhren damit von Zürich nach Bern, um für klimafreundliche Mobilität zu werben.
Doch nun steht der Sonderzug in Brüssel am Bahnhof – und wartet darauf, dass Europa in der Bahnpolitik einen Kurswechsel vollzieht. Doch dafür müssen Europas Verkehrsministerinnen eine ganze Reihe von Problemen bewältigen, die ihnen ihre Vorgänger über die Jahre eingebrockt haben.
2. Jedes Land hat eigene Standards
Josef Doppelbauer, Chef der Europäischen Eisenbahnagentur ERA, kann davon viel berichten. Es beginnt schon mit den technischen Vorschriften. 2016 liess er seine Agentur mit Sitz im nordfranzösischen Valenciennes eine Inventur aller nationalen Regeln für den europäischen Bahnverkehr aufstellen. Heraus kam ein Katalog mit sage und schreibe 14’312 Einträgen.
Dieser Wildwuchs ist Programm – und Doppelbauers Behörde musste dabei lange hilflos zuschauen. Das änderte sich erst mit dem sogenannten vierten Eisenbahnpaket der EU im Jahr 2016. Dieses gibt der Eisenbahnagentur die Möglichkeit, Mitgliedsstaaten zu sanktionieren, die sich gegen die Vereinheitlichung des Bahnverkehrs stellen. «Vor dem Bahnpaket hatten wir keine Zähne», so Doppelbauer. «Jetzt haben wir zumindest Milchzähne.»
Deshalb gibt es jetzt nur noch 868 Regeln. Aber auch darunter seien noch «viele, die wir nicht akzeptieren», sagt Doppelbauer. «Unser Ziel ist es, dass der finale Katalog möglichst wenig nationale Regeln enthält.»
Durchsetzungskraft brauchen die EU-Beamtinnen auch bei dem vielleicht wichtigsten Projekt auf dem Weg zu einem europäischen Bahnmarkt: der Harmonisierung der unterschiedlichen nationalen Signal- und Leitsysteme.
Seit 2007 hat die EU den Aufbau des gemeinsamen Systems ERTMS mit fast 4 Milliarden Euro finanziert. Die Kommission nennt es «das Rückgrat der künftigen digitalen Schiene». Wenn Züge und Leitsysteme überall die gleiche Sprache sprechen, soll das den grenzüberschreitenden Verkehr erleichtern. Zudem erlaubt das System laut der internationalen Ingenieurgesellschaft Arup eine um 40 Prozent dichtere Zugfolge.
Doch das Projekt stockt. Ein Eurostar-Zug, der von London nach Amsterdam fährt, benötigt noch immer 9 unterschiedliche Sicherungssysteme, die die Geschwindigkeit kontrollieren und bei Überschreitungen Bremsungen einleiten. Viele Länder haben zudem unterschiedliche ERTMS-Versionen installiert. Die ERA hat mehr als 50 sogenannte Dialekte festgestellt, die oft nicht kompatibel sind. Im schlimmsten Fall drohe eine Zugkollision, warnt Doppelbauer und schiebt nach: «Wir sind auch hier dabei, uns durch den Dschungel zu schlagen.» Dazu sei es gekommen, weil den Staaten jahrelang der politische Wille gefehlt habe. «Jeder hat sein Süppchen gekocht», sagt er.
Griechenland ist praktisch abgeschnitten vom europäischen Bahnverkehr. Wer von dort in andere EU-Destinationen – etwa nach Budapest – reisen will, muss sich durch ein Wirrwarr von Bahnverbindungen kämpfen und 3 bis 4 Tage einrechnen. In Nordmazedonien verkehren nur zwei Züge, einer morgens und einer nachmittags. In Serbien benötigen die Züge für eine 200 Kilometer lange Strecke mehr als 5 Stunden. Die Grenze zur EU müssen Reisende zu Fuss, mit dem Bus oder einem Taxi überqueren. Eine Bahnverbindung gibt es derzeit nicht.
Eine Vorreiterrolle in der Umsetzung von EU-Vorgaben hat ausgerechnet die Schweiz eingenommen. Seit 2014 dürfen die SBB nur noch Fernverkehrszüge bestellen, die mit dem System kompatibel sind und somit in alle Nachbarländer fahren können. «Die Schweiz ist das einzige Land, das genug Geld in die Hand genommen hat, um das System konsequent umzusetzen», sagt Bahnberater Philipp Morf. «In vielen Ländern hat das keine Priorität.»
Zurzeit rüsten die SBB den bereits etwas älteren Astoro-Neigezug mit dem neuen System aus, um auf der Linie von Zürich nach München eine halbe Stunde Fahrzeit zu gewinnen. Jetzt muss der SBB-Lokführer den Zug in St. Margrethen an eine ÖBB-Kollegin übergeben, die ihn 27 Minuten später in Lindau wiederum einem DB-Kollegen überlässt. Noch kämpft Astoro-Hersteller Alstom bei der Umrüstung allerdings mit Schwierigkeiten.
Hürden gibt es nicht nur bei der Technik, sondern auch bei der Sprache. Dies erzählt Lokomotivführer Guido Maass. Seit zwei Jahren fährt er Güterzüge vom deutschen Oberhausen ins niederländische Rotterdam. Aber für den grenzüberschreitenden Verkehr musste er nochmals die Schulbank drücken. Anders als im Flugverkehr gibt es im Bahnsektor keine einheitliche Sprache. Stattdessen verlangen viele EU-Staaten, dass Lokführerinnen die Landessprache beherrschen – mindestens auf dem Sprachniveau B1. «Wie wichtig das ist, lass ich mal dahingestellt», so Lokomotivführer Maass.
Dass Lokführer eine langwierige Ausbildung in einzelnen Landessprachen machen müssten, sei «vollkommen irrsinnig», sagt Klaus-Peter Schölzke, Vorstand der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer. Er fordert: «Die EU muss die englische Sprache als Standard für den europäischen Güterverkehr festlegen, das heisst, für die Lokomotivführer im Nah-, Fern- und im Güterverkehr sowie für die Fahrdienstleiter in den Mitgliedsstaaten.»
Auch in der Verwaltung der Bahnen herrschen babylonische Zustände. Mehrfach hat die ERA versucht, sich mit den Mitgliedsstaaten auf eine Referenzsprache zu einigen. Doch die französische Regierung blockierte jeden Vorstoss. «Die Sprachproblematik zu knacken, ist sehr schwierig», sagt ERA-Chef Josef Doppelbauer. Bis heute muss die Europäische Eisenbahnagentur technische Texte in 24 Sprachen bearbeiten.
3. Die Strasse geniesst den Vorzug
Dass der europäische Bahnverkehr lahmt, liegt auch an der fehlenden Infrastruktur. Jahrzehntelang investierten die EU-Regierungen mehr Geld in die Strasse als in die Schiene. Selbst noch 2018 flossen nach Angaben der OECD in den EU-Staaten sowie in Grossbritannien, Norwegen und der Schweiz mehr als 71 Milliarden Euro in den Strassenbau, während für die Schieneninfrastruktur nur 47,5 Milliarden Euro investiert wurden.
Im Ländervergleich zeigt sich, dass die Schweiz in den letzten 20 Jahren gemessen am Bruttoinlandprodukt die höchsten Investitionen getätigt hat. Doch auch hier wurde mehr Geld in die Strasse als in die Schiene gesteckt.
Und selbst dort, wo Europa in die Schiene investiert, geht es nur schleppend voran. 2013 legte die EU ihr Programm für ein transeuropäisches Verkehrsnetz (TEN-T) vor. Neun riesige Bahnkorridore sollten unter anderem Helsinki mit Neapel verbinden und Amsterdam mit Marseille. «Diese Projekte werden Europa auch auf dem Weg in eine nachhaltigere Zukunft unterstützen», schwärmte damals EU-Verkehrskommissar Siim Kallas.
Sieben Jahre später legte der Europäische Rechnungshof einen Bericht vor. Darin steht: «Verzögerungen beim Bau und bei der Inbetriebnahme gefährden das effektive Funktionieren von fünf der neun TEN-T-Korridore.»
Wie es dazu kommt, weiss der Ingenieur Giorgio Malucelli. An einem sonnigen Oktobertag betrachtet er prüfend, wie seine Arbeiter Schutt auf einen Lastwagen laden. Es ist das Urgestein der Alpen, das sie wegschaffen müssen. Malucelli und sein Team bohren den Brenner-Basistunnel. Er soll dereinst den Gotthard-Basistunnel als längsten Bahntunnel der Welt ablösen. Auf einer Strecke von 64 Kilometern soll er das italienische Dorf Franzensfeste mit der Stadt Innsbruck in Österreich verbinden.
Doch wenn die riesigen Bohrmaschinen bald die italienische Grenze erreichen, ist erst mal Pause. Auf der österreichischen Seite ruhten die Arbeiten lange wegen eines Rechtsstreits. Und italienische Arbeiter dürfen nicht helfen. «Der Bohrer muss an der Grenze stoppen», sagt Malucelli, weil unterschiedliche Sicherheitsregeln gelten.
Seit Jahren schieben die Verantwortlichen das Eröffnungsdatum des Brenner-Basistunnels immer weiter in die Zukunft. Nun gehen die Betreiber davon aus, dass erst ab 2032 Züge durch den Tunnel fahren werden.
Bis dahin wird das Projekt fast 10 Milliarden Euro kosten. Die EU zahlt davon 1,2 Milliarden. Entsprechend hoch sind die Erwartungen: Der Tunnel soll endlich den überfüllten Brennerpass von der Lkw-Fracht entlasten, und Passagierinnen sollen in wenigen Stunden von München nach Verona reisen.
Doch vermutlich wird daraus nichts, wie ein Prüfer des EU-Rechnungshofs sagt. Grund dafür sei, dass Zulaufstrecken in Deutschland und Italien noch nicht einmal im Bau seien. Die Verbindung von München zur österreichischen Grenze ist noch immer in Planung und soll erst 2040 fertiggestellt werden. «Für Deutschland hat das keine Priorität», sagt der Rechnungsprüfer. «Sie wollten eine Verbindung von München nach Salzburg, aber keine Verbindung nach Innsbruck.» Schuld sei aber auch die Verfassung der EU: «Der Kommission fehlt die Macht, um solche Bauarbeiten durchzusetzen.»
Fehlende deutsche Zulaufstrecken für einen Alpentunnel? Damit hat auch die Schweiz schon eine schmerzhafte Erfahrung gemacht.
Denn die Rheintalbahn zwischen Karlsruhe und Basel befindet sich immer noch im Ausbau. Erst ein Drittel der Erweiterung von zwei auf vier Spuren ist geschafft. Die Schweiz hat ihre Neat-Tunnels derweil längst eröffnet. Ein Vertrag, den der damalige Bundesrat Moritz Leuenberger 1996 zusammen mit dem deutschen Bundesminister für Verkehr, Matthias Wissmann, in Lugano unterschrieben hatte, wonach die Rheintalbahn bis spätestens Ende 2020 hätte ausgebaut sein müssen, wurde von deutscher Seite nicht erfüllt.
Die Bundesregierung erklärt die Verzögerung mit Einsprachen, Klagen und Bürgerprotesten. Doch in Wahrheit habe das CSU-geführte Verkehrsministerium einfach kein Interesse gehabt, sagt Michael Cramer, der frühere Vorsitzende des Verkehrsausschusses im Europäischen Parlament. Im Haushalt seien lediglich 19 Millionen Euro pro Jahr für das Projekt veranschlagt, obwohl es mindestens 2 Milliarden koste. «So wird das 20 Jahre dauern», sagt Cramer. Deutschland breche einfach den Vertrag.
Die Schweiz bleibt unterdessen auf hohen Kapazitäten im Schienenverkehr sitzen. Die Verlagerung des Güterverkehrs von der Strasse auf die Schiene gelang nur im Ansatz. «Wir haben bei jeder Gelegenheit moniert, dass der Ausbau nicht vorwärtsgeht», sagt Moritz Leuenberger heute. «Aber wir konnten nichts machen: Juristisch gesehen sind solche internationalen Verträge nur Absichtserklärungen.» Die Nationalrätin und Verkehrsexpertin Edith Graf-Litscher (SP) sagt es noch deutlicher: «In Deutschland ist die Strasse eben wichtiger, es ist kein Bahnland wie die Schweiz.»
Leuenbergers deutscher Amtskollege, Matthias Wissmann, wurde nach seiner Zeit als Politiker übrigens Lobbyist für die Automobilindustrie.
Im August haben die beiden Länder wieder einen Vertrag unterschrieben. Darin stellt Deutschland ein neues Ziel für den Abschluss der Arbeiten in Aussicht: 2040.
4. Jedes Land verteidigt sein Revier
Doch nicht nur die Staaten, auch die grossen Bahnkonzerne verweigern die Vernetzung. Nach Angaben des italienischen Recherchezentrums «Osservatorio Balcani e Caucaso Transeuropa» gibt es zwischen den EU-Staaten überhaupt nur 125 Fernverkehrsverbindungen. Ein Grund dafür sind Abwehrreaktionen der Bahnen. «Es gab eine Re-Nationalisierung, was zur Folge hatte, dass der internationale Zugverkehr zeitweise wegbrach», sagt Berater Philipp Morf.
Bahnen, die trotzdem versuchten, in einem anderen Land Fuss zu fassen, wurden freundlich abgeblockt.
Belegt ist das etwa im Fall der Deutschen Bahn und der französischen SNCF. 2009 habe die Deutsche Bahn versucht, die Zulassung für Trassen zwischen Frankreich und Deutschland zu bekommen, auf denen bis dahin Züge der SNCF-Unternehmen TGV und Thalys verkehrten, sagt der Bahnexperte Hans Leister, der damals Manager bei der deutschen SNCF-Tochtergesellschaft Keolis war. «Daraufhin haben wir einen Angriffsbefehl bekommen», erzählt er. «Wir sollten ein Fernverkehrsangebot als Konkurrenz zur Deutschen Bahn entwickeln.» SNCF-Züge wären dann von Salzburg nach Hamburg oder von Köln nach Berlin gefahren.
Doch dazu kam es nie. «Der damalige SNCF-Chef, Guillaume Pepy, und Bahnchef Rüdiger Grube trafen sich und schlossen wieder Frieden», sagt Leister. Die Absprache der Konzerne habe gelautet: «Wir greifen uns nicht auf dem Heimatmarkt an.»
Mit den SBB hat sich die SNCF vor 40 Jahren auf eine enge Kooperation geeinigt. Die gemeinsame Tochterfirma heisst heute TGV Lyria und ist für die Paris-Verbindungen aus Zürich, Basel, Lausanne und Genf verantwortlich. Innerhalb dieses Joint Ventures teilen sich die beiden Bahnkonzerne die Instandhaltungs- und Betriebskosten.
Eine rein vertragliche Zusammenarbeit gibt es mit Deutschland, Österreich und Italien. «Es ist eine Kooperation auf Augenhöhe», sagt Armin Weber, Leiter internationaler Personenverkehr der SBB. «Jedes Land ist für Betrieb und Kosten innerhalb der eigenen Grenzen verantwortlich und behält die Erträge.» Das gelte auch für die Nachtzuglinien, die man gemeinsam mit den ÖBB betreibt. Mit dem Vorteil für die Österreicher, dass die SBB einen Teil der Instandhaltungskosten in diesem Verlustgeschäft übernehmen.
Die Hauptstädte Portugals und Spaniens liegen nur 600 Kilometer voneinander entfernt. Doch statt einer schnellen und komfortablen Bahnreise durch das portugiesische Hinterland erwartet Passagiere eine Odyssee in wackeligen dieselbetriebenen Waggons. Für die Fahrt von Lissabon nach Madrid muss man dreimal umsteigen, und man ist insgesamt 11 Stunden unterwegs. Ein Nachtzug wurde 2020 wegen hoher Verluste (offiziell wegen Corona) wieder eingestellt.
Geht es nach dem Bundesrat, soll es bei diesem Modell der Kooperation mit den Nachbarländern bleiben. Er befürchtet einen Qualitätseinbruch, wenn ausländische Züge ohne Zusammenarbeit auf Schweizer Schienen unterwegs wären. Sprich: Die europaweit höchste Pünktlichkeit wäre gefährdet.
Eine nachvollziehbare Haltung, findet Philipp Morf. «Die Sicht des Bundesrats ist die: Egal aus welchem Land sie kommen, wir haben mit ausländischen Zügen keine bessere Erfahrung gemacht als mit unseren eigenen. Und es ist dem Volk gegenüber nicht einfach zu erklären, warum eine österreichische Westbahn oder eine Trenitalia die bessere Qualität bringen sollte.»
5. Züge buchen ist kompliziert
Doch auch das gelobte Kooperationsmodell stösst an seine Grenzen. Und das erst noch bei einer so selbstverständlichen Sache wie dem Ticketverkauf.
Wer für eine Direktverbindung aus der Schweiz nach Paris, Mailand oder Wien ein Billett auf der SBB-App lösen will, wird auf einen holprigen Webshop verwiesen. Und selbst dort können Kundinnen nicht alle direkten Auslandsverbindungen buchen; sie werden stattdessen auf eine Hotline oder an den Bahnhofsschalter verwiesen.
Bahnreisenden ist das nicht entgangen. «Die Buchung für eine internationale Reise ist das reinste Fiasko», schreibt etwa Republik-Leser Joël Müller in einer Debatte im Vorfeld dieser Recherche. Müller ist einmal pro Jahr auf einer grösseren Zugreise durch Europa unterwegs und hat sich in der Zwischenzeit einige Tricks angeeignet, um einfacher an Tickets zu kommen. «Ich bin aber überzeugt: Bereits beim Buchen wendet sich der Gelegenheitsfahrgast wieder von der Schiene ab. Das nimmt einem gleich wieder die Lust auf weitere Erlebnisse auf der Schiene.»
Der Bundesrat sieht das genauso: «Der Kauf eines Bahntickets im internationalen Verkehr über mehrere Länder hinweg ist heute für die Kunden zu kompliziert», schrieb er vor einem Jahr in einer Antwort auf eine Interpellation im Nationalrat. Nebenbei erwähnt er, dass 17 europäische Eisenbahnunternehmen (darunter die SBB) und Fahrkartenverkäufer seit längerer Zeit daran seien, eine technische Lösung zu entwickeln und so den Ticketkauf zu vereinfachen. Am Willen fehle es nicht, sagt Armin Weber von den SBB. Dafür an Geld: «Die verschiedenen Länder haben unterschiedliche Vertriebssysteme mit unterschiedlichen Logiken. Eine Vereinheitlichung bedarf hoher Investitionen und dauert entsprechend länger.»
Das EU-Parlament hatte 2018 mit einer Gesetzesänderung versucht, die Sache zu beschleunigen. Bahnkonzerne sollten gezwungen werden, den Zugriff auf ihre Verbindungs- und Ticketdaten offen zugänglich zu machen und Durchgangstickets zu verkaufen. Die Hoffnung: So könnten – ähnlich wie im Flugverkehr – Vergleichswebsites entstehen, die Buchungen vereinfachen und den Wettbewerb fördern.
Doch die Regierungen einiger grosser Länder blockierten die Reform. Im Frühjahr 2019 stimmten «Deutschland, Frankreich und Spanien gegen die vorgeschlagene bedingungslose Verpflichtung, durchgehende Tickets anzubieten», vermerkt das Protokoll eines der beteiligten Diplomaten.
Und so fehlte, als im April dieses Jahres die neue EU-Verordnung zu Fahrgastrechten vorgestellt wurde, der Passus. Der spanische Abgeordnete José Ramon Bauzá, der für die Liberalen an den Verhandlungen mit dem Europäischen Rat beteiligt war, erinnert sich: «Der Rat hat durchgehende Fahrkarten unter keinen Umständen akzeptiert. Es war eine rote Linie für ihn.» So bleibt einer der grössten Engpässe bestehen: Passagierinnen können nur umständlich erfahren, welche Verbindungen es gibt und wie sie diese buchen können.
Die 17 Eisenbahnunternehmen und Fahrkartenverkäufer rechnen mit einer einheitlichen Ticketlösung zwischen 2025 und 2030. Den SBB dauert das zu lange. Sie wollen angesichts der vielen Kundenbeschwerden schon früher eine eigene Lösung präsentieren. Doch das Projekt mit dem Codenamen «Aruba» hat bereits mehrfache Verzögerungen hinter sich.
Wie lange dauert es, um von Zürich oder Basel nach Paris, Prag oder Venedig zu reisen? Wie teuer ist die Zugfahrt im Vergleich zum Flugzeug? Und wie viel CO2 wird dabei freigesetzt? Wählen Sie eine von 13 europäischen Destinationen aus, um die jeweiligen Angaben Reisedauer, Preis und CO2-Emissionen anzuzeigen.
Und die Bahn bewegt sich doch
So dramatisch die Situation ist: Die EU hat das Problem offenbar erkannt und will handeln. Mit ihrem «Green Deal» verspricht sie Milliardeninvestitionen.
Bis die ersten Schienen fertig verlegt seien, werde es zwar noch Jahre dauern, sagt Alberto Mazzola, Chef des Verbandes der europäischen Eisenbahn- und Infrastrukturbetreiber CER, aber: «Wir sehen, dass nun deutlich mehr in die Schiene investiert wird. Eisenbahn hat eine höhere Priorität.»
Im vergangenen Jahr präsentierte die deutsche Regierung im Rahmen ihrer EU-Ratspräsidentschaft ein neues Konzept für europäische Hochgeschwindigkeits- und Nachtzüge. Der «Transeuropexpress 2.0» soll Europas Metropolen miteinander verbinden.
Wie viele Passagiere tatsächlich die Strecken von Paris nach Warschau oder von Barcelona nach Amsterdam fahren würden, hat das deutsche Bundesverkehrsministerium zwar noch nicht erhoben. Aber es gehe auch um die Signalwirkung, sagt der zuständige Ministeriumsbeamte Florian Böhm. «Europa wächst zusammen. Wir wollen zeigen, dass man auf diesen Strecken nicht nur fliegen, sondern auch mit der Bahn fahren kann.» 2025 soll es losgehen.
Auch die ÖBB haben das teilweise stillgelegte Nachtzuggeschäft unterdessen wieder aufleben lassen. Dafür übernahm der Konzern einen Teil des Angebots der Deutschen Bahn. Zusammen mit den SBB baut er die Nachtverbindungen aus der Schweiz auf 10 Linien mit 25 Destinationen aus. Ab dem Fahrplanwechsel im Dezember wird die Strecke nach Amsterdam (Fahrzeit: 11,5 Stunden) wieder eingeführt. Später sollen Rom, Barcelona und Prag folgen.
Für die Europäische Eisenbahnagentur tüftelt Josef Doppelbauer weiter an einem europäischen Bahnnetz. Der ERA-Chef hofft, dass dies mithilfe der EU-Kommission bald Realität werden könnte. Denn dort überlegt man sich derzeit, die Frist zur Ausstattung wichtiger Streckenabschnitte mit dem einheitlichen europäischen Sicherungssystem ERTMS drastisch vorzuverlegen. Statt 2050 müssten die EU-Staaten ihre Gleise schon 2040 ausgerüstet haben. «Ein realistisches Ziel», sagt Doppelbauer.
Vielleicht fährt er doch noch ab, der Europa-Express.
Zur Methodik beim Vergleichsrechner
Ausgangspunkt ist die einfache Reise einer erwachsenen Person von Bahnhof zu Bahnhof respektive von Flughafen zu Flughafen am 26. November 2021. Bei Zugreisen wurde die Strecke mit den wenigsten Umsteigebahnhöfen gewählt; es sei denn, der Zeitgewinn mit einmal mehr umsteigen ist mehr als eine halbe Stunde. Mit Ausnahme der Strecke Basel–Venedig sind sämtliche Flüge Direktverbindungen. Die Flugzeiten sind inklusive durchschnittlicher Wartezeiten an den Flughäfen. Bei den Nachtzügen wurde jeweils der Preis des günstigsten Betts im 4er- oder 6er-Abteil gewählt. Die Nachtzugstrecke Zürich–Amsterdam wurde noch nicht berücksichtigt, da sie erst ab Fahrplanwechsel am 12. Dezember 2021 angeboten wird. Die Preise wurden am 11. November 2021 auf Thetrainline.com, Omio.com und SBB.ch abgefragt (inklusive Spartarifen) und teilweise von Euro in Franken nach dem aktuellen Kurs umgerechnet. Der Preis für den Nachtzug Zürich–Budapest musste per Telefon bei den SBB nachgefragt werden. Die Angaben für den CO2-Ausstoss stammen von Ecopassenger.org und Myclimate. Die Bäume symbolisieren den Kompensationsaufwand: Ein ausgewachsener Baum kann pro Jahr durchschnittlich 12,5 Kilogramm CO2 aus der Atmosphäre entziehen.
Hinweis: In einer früheren Version hiess es, London, Berlin und Amsterdam seien von Zürich-Kloten und Basel-Mulhouse aus im Zug nicht in unter 8 Stunden zu erreichen. Das ist nicht richtig, schrieb uns ein Leser, von Basel aus sei man in 6 Stunden und 35 Minuten in Amsterdam. Er hat recht, wir haben die Stelle entsprechend korrigiert.