«Dieses Gewurstel macht mich traurig»
Schon beim ersten Versuch, den Dialog nach dem Aus für das Rahmenabkommen wiederaufzunehmen, läuft die planlose Schweiz in Brüssel auf – und gerät unter Zeitdruck. Was jetzt? SP-Nationalrat Eric Nussbaumer sagt, wieso auch seine Partei europapolitisch versagt hat und welche Auswege er nun sieht.
Ein Interview von Priscilla Imboden (Text) und Pati Grabowicz (Bilder), 19.11.2021
Es hat eine ernste Stunde geschlagen, wenn sogar der letzte Europäer in Bern konsterniert ist über das, was er in Brüssel hört. Eric Nussbaumer, Baselbieter SP-Nationalrat und Mitglied der Aussenpolitischen Kommission, kennt die EU wie fast kein anderer im Schweizer Parlament. Und er hat viele Sympathien für die Union: Nussbaumer präsidiert die Europäische Bewegung Schweiz, die den Beitritt der Schweiz zur EU befürwortet.
Diese und letzte Woche war Nussbaumer in Brüssel. Und er war überrascht, wie wenig kompromissbereit sich die EU gegenüber der Schweiz zeigt. Im Gespräch mit der Republik analysiert er das vertrackte bilaterale Verhältnis, kritisiert die «üble Rolle» von FDP, Mitte und SP – und sagt, warum ein EU-Beitritt womöglich nicht in ganz so weiter Ferne liegt, wie es heute scheint.
Herr Nussbaumer, Aussenminister Ignazio Cassis ist am Montag ohne konkrete Pläne in Brüssel an einem Treffen mit dem EU-Kommissionsvizepräsidenten Maroš Šefčovič erschienen. War das ein Fehler?
Es war ein Wunschtraum, dass dies nur ein Kennenlernmeeting wird. Der Fehler war, dass Cassis glaubte, ein Kommissionsvize der Europäischen Union wolle einfach nur eine Stunde lang Kaffee trinken. Dabei war klar: Wenn der politische Dialog eröffnet wird, geht es um die Klärung der hängigen Punkte.
Was hat die Begegnung gebracht?
Die gute Nachricht ist: Die EU scheint gewillt zu sein, der Schweiz eine zweite Chance zu geben, ihr Verhältnis mit der Europäischen Union doch noch zu klären. Die schlechte Nachricht ist aber: Aussenminister Ignazio Cassis liess durchblicken, dass die Schweiz noch nicht bereit ist, so schnell wieder Fahrt aufzunehmen, wie EU-Kommissionsvize Maroš Šefčovič es vorgeschlagen hat. Das ist das Ernüchternde: Die Schweiz hat zwar die Tür aufgestossen zu einem politischen Dialog, aber sie weiss in diesem Dialog nicht, wie weiter.
Nach dem Treffen kommunizierten beide Seiten separat: Die Schweiz sprach von einem «strukturierten politischen Dialog» und davon, eine «gemeinsame Agenda» zu entwickeln. Die EU stellte hingegen klare Bedingungen: einen Zeitplan, dynamische Rechtsübernahme und einen Streitschlichtungsmechanismus sowie regelmässige Zahlungen für die Kohäsion der Union. Das sind sehr unterschiedliche Interpretationen.
So ist es. Man hat zeitweise den Eindruck, dass die beiden nicht im gleichen Raum waren. Die Schweiz spricht davon, dass man zusammen definieren werde, wie das gemeinsame Zusammenleben aussehen solle. Die EU sagt: Wir sind bereit zu einem politischen Dialog, aber die Schweiz muss relativ rasch ihre Position umreissen und erklären, wie sich die Gespräche in den kommenden Monaten entwickeln sollen. Die EU nennt das «Roadmap». Aber «gemeinsame Agenda» und «Roadmap» sind nicht das Gleiche. Und die Schweiz hat nur zwei Monate Zeit, um eine solche Roadmap zu präsentieren.
Eine sehr ehrgeizige Frist.
Es ist eigentlich unmöglich. Die Position der Schweiz reicht nicht aus für einen politischen Dialog und auch nicht für eine Roadmap. Die Position lautet ja: Wir verwerfen die institutionellen Fragen, wir haben gar keinen Bedarf, irgendetwas zu regeln mit der Europäischen Union, wir möchten einfach den statischen bilateralen Weg fortführen. Dies, obwohl es seit zehn Jahren klar ist, dass die Europäische Union das nicht mehr will.
Sie waren letzte und diese Woche mit der Aussenpolitischen Kommission des Nationalrats auf Tuchfühlung in Brüssel – inwiefern hat sich die Stimmung gegenüber der Schweiz im Vergleich zu früher verändert?
Das Vertrauen ist geschwunden und die Geduld ebenfalls. Unsere Gesprächspartner betonten, dass es die Schweiz war, die vom Verhandlungstisch weggelaufen ist. Das Unverständnis gegenüber der schweizerischen Nichtfindung einer Position wird immer grösser. Deshalb kommt der Vorschlag der Schweiz nicht sehr gut an, gemeinsam herauszufinden, wie der nächste Schritt aussehen könnte. In Brüssel wurde uns klar gesagt, dass die Schweiz nun am Ball ist und dass es in keinem Dossier weitergehen wird, wenn die Schweiz sich nicht bewegt und Vorschläge bringt, wie die hängigen Fragen gelöst werden können.
Diese harte Haltung der EU hat Sie überrascht. Sie sei sogar für Sie als bekennenden Beitrittsbefürworter zu ideologisch gewesen, sagten Sie letzte Woche. Weshalb?
Was mich stört: Die EU stellt nun laufend weitere Forderungen an die Schweiz. Nach dem Abbruch der Verhandlungen durch den Bundesrat hiess es, es brauche ein Zeichen der Deeskalation. Ich finde, das Schweizer Parlament hat ein starkes solches Signal ausgesendet, indem es seinen eigenen Beschluss – die Kohäsionsmilliarde zurückzubehalten, bis die EU keine Druckversuche mehr unternimmt – widerrufen und gesagt hat: Wir geben diese Mittel frei.
Was haben Sie sich dadurch erhofft?
Meine Hoffnung war, dass damit zumindest die Türen zu den Kooperationsprogrammen im Bereich Forschung und Bildung, Horizon 2022 und Erasmus, wieder aufgehen. Diese haben ja nichts zu tun mit dem Zugang zum EU-Binnenmarkt. Auf der europäischen Seite heisst es aber: Das ist nicht genug. Das empfinde ich als eine sehr ideologische Haltung: Nur weil es Probleme gibt in anderen Bereichen, reden wir hier auch nicht mit euch.
Ist es denn das erste Mal, dass die Schweiz in jeglichen Fragen mit der EU auf eine Wand der Ablehnung stösst?
Es ist das erste Mal, dass man nicht einmal mehr redet miteinander. Nun soll dieser politische Dialog wieder starten. Aber er hat diese Woche nicht die erhoffte Klärung gebracht im Bezug auf die Kooperationsprogramme. Jetzt gibt es ein Fenster von zwei Monaten. Bis dann will die EU Klarheit, damit sie die Tür wieder aufmacht zu den Kooperationsprogrammen. Man sieht: Die Europäische Union erhöht den Preis stetig. Das ist die Folge des einseitigen Verhandlungsabbruchs des Bundesrats: Es kommt nun einfach teurer.
Die Schweiz hatte bisher stets Verbündete in der EU, etwa EU-Parlaments-Mitglieder aus Österreich oder Deutschland, die sich für die Schweiz einsetzten. Wo sind die geblieben?
Es gibt sie schon noch. Aber es gibt immer weniger EU-Parlaments- und EU-Kommissions-Mitglieder, die den bilateralen Weg verstehen. Dieser ist entstanden, als die EU nur 15 Mitgliedsländer hatte. Die ganze Entstehungsgeschichte des bilateralen Weges ohne institutionelles Dach muss man erklären und verteidigen. Aber das tut der Bundesrat schon lange nicht mehr. Da darf man sich nicht wundern, wenn die neueren Mitgliedsländer im Osten Europas den bilateralen Weg nicht verstehen. Es gibt Schweizer Bundespräsidenten, die bemühen sich in ihrem Präsidialjahr nicht einmal um eine Reise nach Brüssel. Man stelle sich vor: Ein Land mitten in Europa bekundet kein Interesse für einen Freundlichkeitsbesuch auf höchster politischer Ebene bei der EU-Kommission. Das ist tragisch.
Und was bedeutet das für die Beziehungen – wie kann der bilaterale Weg weitergehen?
Der bilaterale Weg ist am Ende. Er hat ein Ende gefunden mit dem Entscheid des Bundesrats, die Fragen nicht mehr zu verhandeln, die seit mehr als zehn Jahren auf dem Tisch sind. Es ist unmöglich, dass dieser Weg mit statischen Verträgen im Kontext einer grossen europäischen Union eine Zukunft hat. Das spürt man jetzt: Die Verträge werden nicht mehr aufdatiert, so etwa bei der Medizinaltechnik, die Schweiz wird aus Kooperationsverträgen ausgeschlossen wie etwa in der Forschung. Aber der Bundesrat will dies nicht wahrhaben. Und die drei konstruktiven Bundesratsparteien FDP, Mitte und SP sind inzwischen sehr wirr geworden in dieser Frage, sie haben keine europapolitische Konzeption mehr.
Freut es Sie als Beitrittsbefürworter, dass der bilaterale Weg zu Ende ist?
Nein. Ich betrachte dieses Verhältnis Schweiz – EU stärker aus der Perspektive der Bürgerinnen und Bürger, der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer als aus meiner Perspektive. Es ist bedauerlich für die Menschen, die keine Forschungskooperation mehr eingehen können, es ist bedauerlich für die Jugendlichen, die nicht mehr in die EU studieren gehen können. Ansonsten bin ich für viele Wege offen, für mich ist eine gute Assoziierung mit dem EWR auch eine solide Lösung. Aber dieses Gewurstel, wie wir es heute praktizieren und von dem wir meinen, es sei noch ein bilateraler Weg: Das finde ich sehr bedauerlich, und es macht mich eher traurig.
Der «Tages-Anzeiger» hat Ihnen den Titel «der letzte Europäer» gegeben, Radio SRF beschrieb sie als einen der letzten «Euroturbos» in Bern. Im Bundeshaus sagt kaum jemand mehr laut, die Schweiz solle der EU beitreten. Die europapolitische Debatte in der Schweiz ist nationalistischer, introvertierter geworden. Was ist passiert?
Die proeuropäischen Kräfte haben sich in den letzten Jahren verrannt: Alle haben beim Rahmenabkommen mit Vorbehalten argumentiert, aus Angst vor der rechtspopulistischen SVP. Damit wurde ihre Position schwammig. Die CVP/Mitte hat gesagt: Wir sind schon für ein Abkommen, aber dieses und jenes darf nicht drinstehen. Die SP und die Gewerkschaften sprachen von einem notwendigen Zwischenschritt, aber er müsse anders aussehen. Die FDP verkündete, sie sei für ein «Ja aus Vernunft» – und dann brachte sie Vorbehalte an. Die Europa-Koalition der Bilateralen des letzten Jahrzehnts existiert nicht mehr. Somit versteht die Öffentlichkeit nicht mehr, was der bilaterale Weg ist.
Vielleicht war das mit der EU ausgehandelte Rahmenabkommen aber für die Schweiz wirklich nicht die beste Lösung.
Sie war die realistischste Lösung. Die Parteien verweigern nämlich die Tatsache, dass der weitere Weg nur über eine Assoziierung, also eine Dynamisierung der Verträge gehen kann. Dies haben alle drei Parteien nicht erfasst, und das macht es so schwierig.
Welche Verantwortung trägt Ihre Partei, die SP? Sie hat ja den EU-Beitritt im Parteiprogramm, spricht aber lieber nicht darüber und hat sich gegen das Rahmenabkommen gewendet.
Alle drei konstruktiven Regierungsparteien haben eine ganz üble Rolle gespielt. Ob die Sozialdemokraten und der Gewerkschaftsflügel dies ein bisschen mehr oder weniger taten, ist nicht entscheidend. Alle drei haben versagt, von dem Moment an, als das Rahmenabkommen abgeschlossen war, bis hin zum Übungsabbruch des Bundesrats – den die Regierungsparteien übrigens in den Von-Wattenwyl-Gesprächen unisono verlangt hatten.
Die proeuropäischen Kreise versuchen nun irgendwie zu mobilisieren. Die Operation Libero hat mit den Grünen eine «Europa-Initiative» angekündigt. Was halten Sie davon?
Die Initiative ist nur eine Option. Sie ist eine Ankündigung, bei der es darum geht, den Bundesrat und die Regierungsparteien unter Druck zu setzen.
Wurde die SP angefragt?
Vor der Ankündigung nicht, aber diese Initiative ist noch gar nicht parat, der Text steht noch gar nicht fest. Es ist unüblich, dass man Volksinitiativen ankündigt, bevor der Text bereinigt ist. Jetzt finden Gespräche statt, aber wenn man in der Ankündigung schon sagt, die anderen machen nichts, wird es doppelt schwer werden, Verbündete zu finden.
Haben die Initiantinnen da Fehler gemacht?
Grobe Fehler! Es ist ja auch die erste Initiative der Operation Libero. So macht man das nicht. Zuerst finden Gespräche im Hintergrund statt, man bereinigt den Text zu neunzig Prozent, und dann geht man an die Öffentlichkeit.
Welche anderen Auswege sehen Sie aus der europapolitischen Sackgasse, in der sich die Schweiz aktuell befindet?
Die drei genannten Regierungsparteien könnten auch sonst die Köpfe zusammenstecken. Es gab immer wieder Momente in der schweizerischen Politik, wo diese drei Parteien zusammen skizziert haben, wie es weitergeht.
Finden denn solche Gespräche statt?
Davon können Sie ausgehen. Wenn Sie sehen, wie FDP, SP und Mittepartei auf den Besuch in Brüssel reagiert haben, dann wird klar, dass sich inzwischen alle einig sind, dass der Abbruch der Verhandlungen keine gute Idee war.
Aber im Parlament sieht es nicht danach aus, als ob sich die Parteien zusammenraufen würden, um Druck auf den Bundesrat auszuüben: Zwar hat die Aussenpolitische Kommission des Nationalrats eine parlamentarische Initiative überwiesen, die ein Europa-Gesetz und damit einen Rahmen für die Beziehungen zur EU verlangt. Die ständerätliche Kommission hat sie aber abgelehnt.
Das stimmt – diese Initiative könnte dem Bundesrat den Rücken stärken in der Lösungsfindung. Das wäre nötig, denn der Bundesrat weiss gar nicht, wie er aus dieser Falle wieder rauskommt. Die parlamentarische Initiative kommt aber noch ins Parlament. Dann wird sich die Frage klären, ob die konstruktiven Kräfte in diesem Land miteinander das Europadossier beleben und gestalten wollen oder sich weiterhin aus der Verantwortung ziehen. Ich bin zuversichtlich, dass sie den ersten Weg wählen werden.
Die Wirtschaft war in der Vergangenheit stets eine treibende Kraft, um den bilateralen Weg zu fördern und zu sichern. Seither ist sie praktisch verschwunden in der öffentlichen Debatte. Was ist da passiert?
Die Wirtschaft war früher homogener in dieser Frage. Dieses Jahr sind neue EU-kritische Wirtschaftskomitees entstanden: Autonomiesuisse und Kompass/Europa. Sie reden aber nur für einen Teil der Wirtschaft. Das Hauptproblem ist jedoch, dass nicht regiert wird. Wenn der Bundesrat keine Spur legt, das Primat der Exekutive nicht mehr wahrnimmt und sich nur noch als Moderator versteht, dann geht es nicht vorwärts.
Die Situation ist für die Schweiz nicht ganz einfach. Nachdem die bisherige Lösung, das Rahmenabkommen, jahrelang von allen Parteien ausser der GLP und der damaligen BDP zerpflückt und dann vom Bundesrat abgelehnt wurde, sind wieder die gleichen Themen auf dem Tisch: institutioneller Rahmen, dynamische Entwicklung der Gesetze und dazu noch eine regelmässige Kohäsionsmilliarde.
Die Schweiz wird nicht darum herumkommen, ein institutionelles Dach über den Verträgen mit der EU zu errichten. Das allein gilt aber als absturzgefährdet in einer Volksabstimmung. Also muss man dieses institutionelle Abkommen mit weiteren Themen ergänzen, mit einem Stromabkommen etwa, damit es attraktiver wird. Man müsste also über eine Paketlösung nachdenken.
FDP-Präsident Thierry Burkart brachte noch eine dritte Variante ins Spiel: die Verträge einzeln dynamisieren und gewisse Bereiche ausnehmen, die in der Schweiz umstritten sind.
Das kann man versuchen, aber die europäische Seite wird dies kaum zulassen. Es sind 27 Mitgliedsländer und 3 EWR-Länder, also insgesamt 30 Länder in Europa, die sich vertraglich gebunden haben. Und das kleine Land Schweiz sagt: Wir möchten alle Vorteile des Binnenmarkts, wir tragen auch etwas dazu bei, aber wir wollen unser spezielles Modell genau so, wie wir es wollen. Ich glaube nicht, dass das klappen wird.
Sie sind Präsident der Europäischen Bewegung, die den Beitritt wünscht. Der ist ja mittlerweile von der Agenda gestrichen worden. Werden Sie noch einen EU-Beitritt erleben?
Ich dachte eigentlich, dass ich das nicht mehr erleben werde. Dann hat ein geschätzter SP-Kollege gemeint: Das kannst du nicht sagen. Schau nur das Frauenstimmrecht an: 1959 wurde das mit 67 Prozent abgelehnt, nur zwölf Jahre später, 1971, stimmten 65 Prozent dafür. In zwölf Jahren kann viel geschehen. Seit mir das vor Augen geführt wurde, habe ich wieder Hoffnung.