Sorgt international für Aufregung: die Kunstsammlung von Nazi-Kanonenkönig Emil Bührle.

Bührle-Beben

In den Skandal um die umstrittene Bührle-Sammlung im Kunsthaus Zürich ist endlich Bewegung gekommen. Wie erklärt sich das? Und was muss nun geschehen?

Eine Einordnung von Daniel Binswanger (Text) und Elisabeth Real (Bild), 19.11.2021

Erst kommen die Dinge bloss ins Rutschen. Und dann donnert plötzlich eine Lawine ins Tal. Man könnte glauben, die Schweiz sei über Nacht in ein neues Zeitalter eingetreten – ein neues Zeitalter des Umgangs mit der umstrittenen Bührle-Sammlung, der erinnerungs­politischen Verantwortung.

Die jüngsten Entwicklungen nahmen ihren Lauf, nachdem sich am vorletzten Sonntag, einen Tag nach der Veröffentlichung von Teil 3 der Serie «Bührle-Connection», plötzlich ehemalige Mitglieder und Mitarbeiterinnen der Unabhängigen Experten­kommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg mit einer Stellungnahme zu Wort meldeten. Zwanzig Jahre lang haben sie nie mehr gemeinsam die Initiative ergriffen, nun aber stellten die früheren Mitglieder der Kommission zur Bewältigung der Bührle-Krise gezielte Forderungen in den Raum. Plötzlich sind deshalb jetzt auch die Stadt und der Kanton Zürich davon überzeugt, dass die interne Provenienz­forschung der Bührle-Stiftung von unabhängigen Experten überprüft werden müsse – obwohl sie fast ein Jahrzehnt lang alles Erdenkliche daransetzten, genau dies zu verhindern.

Und plötzlich ist auch eine Debatte darüber entbrannt, ob die Schweiz wie fast alle ihre Nachbar­länder eine Kommission für Restitutions­fragen ins Leben rufen muss – obwohl bereits die «Erklärung von Washington», welche die Schweiz 1998 unterzeichnet hat, die Staaten dazu aufforderte, eine solche Instanz einzuführen.

Sind wir damit an einem erinnerungs­politischen Wende­punkt? Eine solche Entwicklung wäre positiv und ohne Vorbehalt zu begrüssen. Lieber spät als nie. Doch was ist eigentlich genau geschehen?

Verkannte Brisanz

Zum einen wurde von Ex-Kunst­gesellschafts-Präsident Walter Kielholz, Stadt­präsidentin Corine Mauch, Kunsthaus­direktor Christoph Becker, Erbin Hortense Anda-Bührle und einigen weiteren Mitstreitern mit dem Chipperfield-Bau für die Bührle-Sammlung eine luxuriöse Vitrine an den Zürcher Heimplatz gestellt. Und siehe da: Damit ist sie jetzt tatsächlich ins Rampen­licht geraten.

Zur Veranstaltung

Schluss mit den Ausflüchten? Ein Podium zur Bührle-Sammlung im Zürcher Kunsthaus und zur Schweizer Erinnerungs­politik. Samstag, 20. November 2021, um 17 Uhr im Kulturhaus Kosmos in Zürich. Alle weiteren Informationen.

Die Verantwortungs­trägerinnen von Stadt und Kanton scheinen aus allen Wolken zu fallen, dass die Öffentlichkeit nun mit neuer Dringlichkeit Fragen stellt und Aufklärung will. Hatten sie für die Brisanz der kontaminierten Sammlung überhaupt je ein richtiges Verständnis? Nachdem der öffentliche – nationale und internationale – Druck nun massiv zugenommen hat, bleibt ihnen nur noch ein Ausweg: Die Politik muss sich mit überstürzter Hast zu den Abklärungen bekennen, die sie schon vor Jahren hätte treffen sollen.

Zum anderen hat der mediale Diskurs gedreht. Das Haupt­verdienst kommt dabei dem Historiker Erich Keller zu, der mit seinem Ende September veröffentlichten Essay «Das kontaminierte Museum» die entscheidenden Fragen aufwarf und den Skandal des Bührle-Umzugs ins Kunsthaus erinnerungs­politisch einordnete. Auch Guido Magnaguagno und Thomas Buomberger, die 2015 das «Schwarzbuch Bührle» heraus­brachten, gaben wichtige Anstösse zur Debatte. Schliesslich und endlich spielten einige wenige Schweizer Medien ihre Rolle: zunächst die «Wochenzeitung» und dann auch der «Beobachter», der diesen Sommer seine Enthüllungen über Zwangs­arbeit für Bührle-Betriebe in der Schweiz publizierte. In einer letzten Phase leistete auch die Republik ihren Beitrag. Es waren eher marginale Stimmen, die plötzlich zu einem mächtigen Chor geworden sind.

Die Drohung

Bei der Bührle-Stiftung hingegen scheint inzwischen eher die Panik vorzuherrschen. Stiftungs­direktor Lukas Gloor sagte vergangenes Wochenende in einem «SonntagsBlick»-Interview: «Wenn jetzt die Stadt Zürich dem Kunsthaus diktiert, wie die Sammlung Emil Bührle dem Publikum zu erklären ist, können wir nicht mehr mitmachen.»

Während die Steuerzahler den Betrieb des Kunst­hauses zum aller­grössten Teil finanzieren, verwahrt sich also der Direktor der Bührle-Stiftung, wie er es im Interview auch noch formuliert, gegen «den Übergriff der Stadt auf die Autonomie des Kunst­hauses». Deutlicher könnte man kaum zum Ausdruck bringen, dass die öffentlichen Geld­geber ja nicht auf die Idee kommen sollen, sich in Raubkunst­fragen einzumischen.

Es ist verblüffend: Nur einen Monat nach Einweihung eines 206-Millionen-Baus für die Sammlung des Nazi-Kanonen­königs droht Lukas Gloor allen Ernstes mit dem Abzug der Stiftungs­bilder. Nur einen Tag später rudert er allerdings in einem «Tages-Anzeiger»-Interview wieder zurück. Er gibt zu Protokoll, die Rede von einem Rückzug der Sammlung sei «eine Zuspitzung», die er «so nie autorisiert habe».

Doch es kommt noch schlimmer: Der Bührle-Stiftungs­direktor verwahrt sich explizit dagegen, dass «die Sammlung zu einer Gedenk­stätte für NS-Verfolgung» werde. Ist das wirklich seine grösste Sorge? Sollte ausgerechnet der Direktor der Bührle-Stiftung das Gedenken an NS-Verfolgung höhnisch von sich weisen? Solche Töne können nicht im Sinn des Kunst­hauses sein. Sind sie im Interesse der Stiftung?

Nicht nur bei der Stiftung selber, auch bei grossen Schweizer Medien breitet sich allmählich eine gereizte Konfusion aus. Die NZZ zum Beispiel schrieb, die Republik habe behauptet, «es gebe Vereinbarungen zwischen der Träger­schaft des Kunsthauses und der Bührle-Stiftung, gemäss denen einzelne Werke von weiteren Provenienz­untersuchungen ausgeschlossen seien». Das ist natürlich blanker Unsinn und wird von Lukas Gloor zu Recht als solcher bezeichnet – ganz einfach, weil das niemand behauptet hat.

Der Ton verschärft sich, und das mit gutem Grund. In einem luziden Kommentar bringt Yves Kugelmann, der Chefredaktor des jüdischen Wochen­magazins «Tachles», das Grund­problem auf den Begriff: «Der Nazi-Skandal um Emil Bührle zeigt auf, dass die Schweiz über 20 Jahre nach der Holocaust-Debatte immer noch Nachhilfe im Umgang mit Geschichte benötigt.» Er weist auch auf die ungewohnte partei­politische Konstellation hin: Die SP, die mit dem langjährigen National- und Ständerat Paul Rechsteiner und anderen «einst feder­führend bei der Aufarbeitung der Geschichte der Schweiz im Zweiten Weltkrieg» gewesen sei, verstricke sich nun in «Ungereimtheiten und die Mechanismen in Zürichs Establishment». Schon im Februar sind Zürcher Stadtrats- und Gemeinderats­wahlen. Kein Wunder, liegen die Nerven blank.

«Faire und gerechte Lösungen»

Die letzte Wende im öffentlichen Diskurs über die Bührle-Sammlung im Kunsthaus löste jedoch nicht eine Buch­publikation oder ein kritischer Medien­bericht aus, sondern die bereits erwähnte Stellung­nahme ehemaliger Mitglieder und Mitarbeiterinnen der Unabhängigen Experten­kommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg, der sogenannten Bergier-Kommission. Die Kommission untersuchte von 1996 bis Ende 2001 die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg unter vielfältigen Aspekten und publizierte bis im März 2002 die Ergebnisse in insgesamt 26 Bänden und weiteren Zusatz­berichten.

Es ist ein machtvolles Symbol der Dimensionen des Bührle-Skandals, dass die ehemaligen Bergier-Expertinnen aus der Reserve gekommen sind. Die Kommission wurde ursprünglich gegründet als Reaktion auf den massiven internationalen Druck, dem die Schweiz Mitte der Neunziger­jahre plötzlich ausgesetzt war. Aufgrund ihres liederlichen Umgangs mit sogenannt nachrichten­losen Guthaben von jüdischen Konto­inhabern gerieten Schweizer Banken ganz plötzlich in den Fokus der internationalen Aufmerksamkeit – und waren zunächst in keiner Weise darauf vorbereitet. Hatte man nicht immer alles richtig gemacht, so schien der Finanz­platz sich damals zu wundern. Hatte man nicht eine weisse Weste?

Mit derselben Mischung aus Selbst­gerechtigkeit und Ignoranz schlittert Zürich nun in den Skandal um die Bührle-Sammlung. Es stellt sich der ernüchternde Eindruck ein, das Land habe aus all den Anstrengungen der Neunziger­jahre, aus den Untersuchungs­berichten der Bergier-Kommission, im Grunde rein gar nichts gelernt. Kein Wunder, gehen zwanzig Jahre später die ehemaligen Experten von neuem auf die Barrikaden.

Was kann nun überhaupt getan werden? Die Ex-Mitglieder der unabhängigen Kommission stellen drei Forderungen auf:

  1. eine Überprüfung der hausinternen Provenienz­forschung der Bührle-Stiftung durch unabhängige Experten;

  2. die Ausgestaltung des Bührle-Dokumentations­raumes im neuen Kunsthaus durch externe und ebenfalls unabhängige Wissenschaft­lerinnen;

  3. die Einsetzung einer ständigen beratenden Kommission durch den Bund, die bei Rückgabe­forderungen zu Raub- und Fluchtkunst für «eine gerechte und faire Lösung» im Sinne der Erklärungen von Washington und Theresienstadt einstehen kann.

Alle diese Forderungen erscheinen berechtigt und sollten umgesetzt werden. Seltsam ist allerdings, dass auch diese Stellung­nahme der ehemaligen Experten­kommission (UEK) von argen Misstönen begleitet wird.

Sofort fällt auf, dass die Stellungnahme nicht von allen Ex-Mitarbeiterinnen unterzeichnet wurde. Es fehlt zum Beispiel die Unterschrift von Regula Ludi, Professorin für Geschichte an der Universität Zürich und Forschungs­rätin am Institut für Ethik und Menschen­rechte der Universität Freiburg.

Auf Nachfrage der Republik, weshalb sie die Erklärung nicht unterzeichnet hat, gibt Ludi folgende Antwort:

Erstens ist für mich der Zeitpunkt nicht einsichtig. Es hätte sich viel früher eine Erklärung zur Verteidigung der Forschungs­freiheit aufgedrängt, zum Beispiel als bekannt wurde, wie die Auftraggeber in den Untersuchungs­bericht Leimgruber eingegriffen hatten. Zweitens befürchte ich, dass die Fokussierung auf die Restitutionen einmal mehr eine breitere Diskussion über die geschäftliche Verwicklung der Schweiz in Menschheits­verbrechen abwürgt. Sie sagt nichts dazu, dass mit der Übernahme der «Emil G. Bührle Sammlung» durch das Kunsthaus der Name des Rüstungs­güter­produzenten und Waffen­lieferanten der Nazis reingewaschen wird. Drittens erwähnt die Erklärung den Bericht Leimgruber, ohne auf die Arbeiten und das Buch von Erich Keller zu verweisen. Sie nutzt das moralische Kapital der Bergier-Kommission, um in einer laufenden Debatte über die Forschungs­freiheit und deren Verteidigung implizit Stellung zu beziehen.

Die Stellungnahme von Regula Ludi legt den Finger auf den wunden Punkt.

Überraschenderweise enthält die Erklärung der ehemaligen Kommissions­mitglieder im Vorspann nämlich auch den folgenden Satz: «Der inhaltlich fundierte Bericht des Lehrstuhls Leimgruber bietet nun eine Übersicht über die Entwicklung des Rüstungs­unternehmens, der Waffen­exporte und der Kunst­sammlung Emil Bührle im historischen Kontext und liefert damit eine Grundlage für weitere Forschungen.»

Der Leimgruber-Bericht der Universität Zürich muss als sehr umstrittener Forschungs­beitrag gelten. Die Republik hat ausführlich dargelegt, weshalb er in seinen Grundlagen kompromittiert ist. Den ehemaligen Mitgliedern der Bergier-Kommission steht zu, das völlig anders zu beurteilen – drei der unterzeichnenden Mitglieder haben eine sehr unmittelbare persönliche Verbindung zu dem Bericht. Allerdings ist befremdlich, dass hier nicht der Anschluss an den Forschungs­stand bekräftigt wird, sondern ein einzelner, gewiss nicht unproblematischer Forschungs­beitrag ganz exklusiv gelobt wird. Geht es den Ex-UEK-Mitgliedern um den Stand der Wissenschaft oder um wissenschafts­politische Revierkämpfe?

Diese Frage ist umso bedeutender, als genau diejenigen politischen Kräfte, die sich bisher durch einen eher zweifelhaften Willen zu historischer Aufklärung hervorgetan haben und von denen man glauben würde, die Historiker wollten sie nun endlich zu konsequentem Handeln verpflichten, das Leimgruber-Lob der Ex-UEK mit Begeisterung als Persil­schein behandeln.

Die Zürcher Regierungsrätin Jacqueline Fehr wird im «Tages-Anzeiger» mit der Aussage zitiert, «dass es auf der Grundlage der Studie von Professor Leimgruber weitere Forschungs­arbeiten brauche, entspricht demnach unserer eigenen Position». Fehr ist recht zu geben: Wenn die Historiker den Leimgruber-Bericht zum verbindlichen Forschungs­stand erheben, haben sie nicht mehr den geringsten Grund, den Zürcher Verantwortungs­trägerinnen in Sachen Bührle-Sammlung Versäumnisse vorzuwerfen.

Auch das Kunsthaus ist vom Leimgruber-Bekenntnis der UEK äusserst angetan. Zur Kritik der ehemaligen Kommissions­mitglieder sagt Björn Quellenberg, der Kommunikations­beauftragte des Museums, in der NZZ: «Die Vorwürfe klingen, als gebe es den Bericht des Zürcher Historikers Matthieu Leimgruber nicht.» Die im Auftrag von Stadt und Kanton Zürich verfasste Untersuchung, heisst es weiter, habe genau die Fragen beantwortet, welche die UEK jetzt stelle. In der Tat: Der aktuelle Dokumentations­raum im Kunsthaus beruht offiziell auf dem Leimgruber-Bericht. Wie kann die UEK einerseits die Forderung aufstellen, den Dokumentations­raum völlig neu und unabhängig zu gestalten – und andererseits den Leimgruber-Bericht zum avanciertesten Forschungs­stand erheben?

Es kann unter diesen Bedingungen kaum verwundern, dass auch unter den Unter­zeichnern der UEK-Stellung­nahme die lobende Erwähnung des Leimgruber-Berichts gemäss Medien­berichten sehr umstritten gewesen ist. Das Wochenmagazin «Tachles» hat mit einer Schilderung darüber aufgewartet, wie «die Erwähnung der Bührle-Studie von Matthieu Leimgruber» zu «hitzigen Diskussionen» unter den ehemaligen UEK-Mitarbeitern geführt hat. Insbesondere seien viele Unter­zeichner darüber gestolpert, dass der umstrittene Bericht als «fundiert» bezeichnet worden sei. Auch der Republik wird aus mehreren Quellen zugetragen, es sei zu heftigen Auseinander­setzungen um den Bericht gekommen.

Warum aber ist trotzdem der «inhaltlich fundierte Bericht des Lehrstuhls Leimgruber» in der Stellung­nahme stehen geblieben? Haben da ein paar Kommissions­mitglieder wider jede Vernunft ihre Agenda durchgeboxt?

Auf Anfrage der Republik erklärt Jacques Picard, ehemaliger Professor an der Universität Basel: Ausgehend vom Forschungs­stand, der alle empirisch überprüfbaren Beiträge umfasse, werde die Forschung inter­disziplinär und transnational weitergehen müssen. Georg Kreis, ebenfalls Emeritus der Universität Basel, hält fest, er störe sich nicht an der exklusiven Würdigung des Leimgruber-Berichts. Es gehe aber primär darum, die Forschungen fortzuführen – durchaus auch im Anschluss an andere Arbeiten.

Saul Friedländer, der Doyen und die grosse Autorität der Holocaust-Historiografie sowie ebenfalls ehemaliges UEK-Mitglied, gibt auf Anfrage der Republik eine bemerkens­werte Antwort: Er ziehe es vor, zum Leimgruber-Bericht zu schweigen. Nur der renommierte Wirtschafts­historiker Harold James nimmt kein Blatt vor den Mund: «Ja natürlich, ich habe den Leimgruber-Bericht gar nicht gelesen», schreibt er in einer Mail aus Princeton. «Ich kann ihn ganz offensichtlich nicht unterstützen. Aber die drei Forderungen der UEK sind wichtig – insbesondere die Forderung nach einer beratenden Kommission.»

Diese Stellungnahme erscheint einleuchtend: Die drei Forderungen der UEK sind wichtig – und alles andere gehört zu den Intrigen, mit denen so schnell wie möglich Schluss sein sollte. Wie provinziell sind die Schweizer Historiker eigentlich, dass sie es nicht einmal schaffen, sich zusammen­zuraufen, ohne sich gleich selber zu sabotieren?

Es wäre jedenfalls wünschenswert, dass sogar die offizielle Schweizer Geschichts­wissenschaft einen zielführenden Beitrag leistet zur Bewältigung der Bührle-Krise. Primär gefordert ist nun jedoch die Politik.

Der Geheimvertrag

Die Bührle-Provenienz­forschung soll einer Prüfung durch unabhängige Experten unterzogen werden, so wollen es nun bekanntlich auch Stadt und Kanton Zürich. Die allgemeine Verpflichtung zu konsequenter Provenienz­forschung wird im Übrigen Teil des neuen Subventions­vertrages zwischen dem Kunsthaus und der Stadt Zürich.

Das ist ein vielversprechender Kurswechsel, aber der Teufel steckt im Detail: Wie sieht es heute, nach dem Aufhängen der Bührle-Stiftungs­sammlung in den Kunsthaus­sälen, mit dem genauen Recht zur Herkunfts­überprüfung aus? Behält sich die Stiftung Sonder­zuständigkeiten vor? Was würde geschehen, wenn das Museum ein Gemälde als problematisch oder gar restitutions­würdig anerkennen würde? Müsste die Stiftung im Minimum das Werk dann aus dem Kunsthaus abziehen? Oder hätte sie gar die Verpflichtung, sich der Restitutions­forderung in der einen oder anderen Weise zu stellen? Es gibt unzählige zu klärende Fragen. Die Antworten lassen sich jedoch gar nicht ermitteln, solange das Basis­dokument nicht bekannt ist: der Leihvertrag zwischen Bührle-Stiftung, Bührle-Familie und der Zürcher Kunstgesellschaft.

Das Vertrauen in die Regierungen von Stadt und Kanton Zürich sowie in die Leitung des Kunst­hauses hat gelitten. Es ist im Interesse aller Beteiligten, dass es so schnell wie möglich wieder hergestellt wird. Der Schlüssel dazu ist der Leihvertrag: Solange dieser Vertrag nicht offengelegt wird, so wie es vom ersten Tag an hätte geschehen müssen, sind alle gross­spurigen Bekenntnisse zu Aufarbeitung und historischer Verantwortung mit Vorsicht zu geniessen. Wer nicht einmal der Öffentlichkeit reinen Wein einschenken kann darüber, wie die Rechte, Verpflichtungen und Zuständigkeiten für die historische Aufarbeitung vertraglich geregelt worden sind, kann dieser Verantwortung unmöglich gerecht werden. Ohne Transparenz kein Vertrauen.

Die Stadt Zürich würde deshalb einen schweren Fehler begehen, wenn sie sich weiter hinter dem Argument versteckte, die Vertrags­partner des Leihvertrages seien die Kunst­gesellschaft, die Bührle-Familie und die Bührle-Stiftung und sie könne eine Offenlegung gar nicht verfügen. Aufgrund der Subventionen hat die Politik die finanziellen Hebel, um die Offenlegung durchzusetzen. Selbst juristisch erscheint zweifelhaft, ob eine dauerhafte Geheim­haltung überhaupt haltbar ist.

Wie der Republik aus mehreren Quellen zugetragen wurde, sollen sich jetzt auch Mitglieder der Geschäfts­prüfungs­kommission des Zürcher Gemeinderates mit dem Gedanken tragen, Einsicht zu verlangen. Auf der Basis des Öffentlichkeits­gesetzes erscheint sogar eine Klage aussichtsreich: Zwar ist die Kunst­gesellschaft ein privatrechtlich organisierter Verein, aber er lebt so weitgehend von öffentlichen Subventionen, dass die Bürgerinnen wissen sollten, in welchem rechtlichen Rahmen er agiert. Es wäre beschämend, wenn die Stadt­regierung nun auf jahrelange Verschleppungs­aktionen und juristische Verzögerungen setzen würde. Für ihre Glaub­würdigkeit wäre es verheerend.

Die Chance

Ganz ähnliche Fragen stellen sich auf personal­politischer Ebene. Die Neubesetzung der Präsidentschaft der Kunst­gesellschaft nach dem tragischen Tod der bisherigen Präsidentin Anne Keller Dubach, die nur ganz kurzzeitig im Amt war, ist von kapitaler Wichtigkeit. Die Wahl sollte möglichst zügig stattfinden. Für Stadt und Kanton wäre es eine Chance, eine unabhängige, couragierte Persönlichkeit zu portieren, die für einen Neuanfang steht.

Genauso unverzichtbar dürfte eine weitere Massnahme sein: Kunsthaus­direktor Christoph Becker muss zügig seinen Platz räumen. Am ersten Tag, an dem die neue, schon im letzten Sommer gewählte Direktorin Ann Demeester ihr Amt antritt, sollte ihr Vorgänger ihr nicht mehr im Wege stehen. Becker ist der Mann, der mehr als irgend­jemand sonst die ungesunde Interessen­kollusion zwischen der Stiftung und dem Kunsthaus symbolisiert. Er ist der Mann, der, wie Erich Keller in seinem Buch ausführt, bei Entscheidungen über Versicherungs­prämien nicht die finanziellen Interessen des Kunsthauses, sondern diejenigen der Bührle-Stiftung wahrzunehmen schien. Er ist der Mann, der gemäss den Recherchen der WOZ die Verantwortung trägt für die absurden Beschönigungen im heutigen Bührle-Dokumentations­raum. Die Bührle-Provenienzen sollen nun seriös untersucht werden, aber Christoph Becker ist immer noch der Herr im Haus? Die Stadt würde sich der Lächerlichkeit preisgeben.

Nach Auskunft des Kunsthauses wird Ann Demeester ihr Amt zwar erst im Sommer 2022 in Vollzeit antreten, in Teilzeit soll sie jedoch schon ab Februar 2022 in Zürich tätig sein. Der Vertrag von Becker läuft jedoch bis ins Frühjahr 2023, seine Unterschrifts­berechtigung soll er erst am 1. Januar 2023 abtreten.

Ann Demeester, eine hervorragend qualifizierte Fachfrau mit grossem Leistungs­ausweis, kommt vollkommen von aussen und ist ein Glücksfall für das Kunsthaus. Sie steht für einen Neubeginn. Ihre Ernennung ist das grosse Vermächtnis der kurzen Amtszeit von Anne Keller Dubach. Doch Demeester soll noch Monate nach ihrem Amtsantritt der kaum mehr tragbare Christoph Becker vor die Nase gesetzt werden? Will man die Frau, die theoretisch doch geholt wurde, damit sie das Ruder herumreisst, zuerst einmal nach Kräften gängeln? An jedem normalen Kunst­museum dieser Welt wäre eine sofortige Stabübergabe eine Selbst­verständlichkeit. Sie muss nun auch am Zürcher Kunsthaus erfolgen. Es wäre ein erster Schritt zu einer Normalisierung.

Viel zu lange haben die Verantwortungs­träger nicht gehandelt, viel Vertrauen wurde zerstört. Der bisherige Bührle-Forschungs­stand ist ungenügend. Der bisherige Umgang mit jüdischen Erben, die Restitutions­forderungen stellen, erscheint unwürdig und muss sich ändern, auch auf Bundes­ebene. Aber es wurden keine Fehler gemacht, die irreversibel sind. Es könnte nun endlich ein minimaler Konsens gefunden werden, es könnte eine neue Bereitschaft entstehen zu gemeinsamem Handeln. Das ist auch eine Chance. Wir dürfen sie auf keinen Fall ein weiteres Mal verspielen.