Wie reiche Staaten die Entwicklungsländer (mit tiefem Bedauern) im Stich lassen
Immerhin wird jetzt versprochen, ein altes Versprechen auch zu halten. 100 Milliarden Dollar sollten eigentlich schon lange die Folgen der Klimaerwärmung lindern. Doch auch nach Glasgow wird weiter geknausert – auch von der Schweiz.
Von Elia Blülle, 18.11.2021
Donnerstagabend, vergangene Woche in Glasgow. Die Minister und Delegierten sehen nach 12 Tagen Klimakonferenz aus wie Partygänger, die in der Früh nach Hause torkeln: Augenringe, zerknitterte Hemden, zerzaustes Haar.
Die Spuren von zähen Verhandlungen. Und noch ist es nicht vorbei. Eine weitere Nachtschicht steht an. In den nächsten Stunden entscheidet sich, ob Glasgow als Erfolg in die Geschichte eingeht – oder als eine weitere gescheiterte Klimakonferenz. Die Devise der britischen Organisatoren: Nur mit klaren Bekenntnissen ist die Begrenzung der durchschnittlichen Erderwärmung auf 1,5 Grad Celsius noch möglich.
Einen Tag vor dem offiziellen Ende der Klimakonferenz sind noch keine klaren Bekenntnisse in Sicht. Bundesrätin Simonetta Sommaruga, die für das Schweizer Klimadossier verantwortlich ist, lädt trotzdem noch einmal zur Medienkonferenz – und sagt wieder ab, zwei Stunden nachdem die Einladungen raus sind. Der Verhandlungsplan sei zu dicht.
Kein Wunder. In einer ganzen Reihe Fragen sind sich die an der Klimakonferenz beteiligten Parteien uneinig. Besonders gross sind die Differenzen in einer wesentlichen Frage: der Frage der Klimafinanzierung. Sie lautet: Wie viel Geld sollen die entwickelten Volkswirtschaften künftig an arme Länder bezahlen, damit sie die Klimakrise bewältigen und entstandene Klimaschäden kompensieren können?
Die Uneinigkeit ist so gross, dass die Konferenz, die am Freitag hätte enden sollen, in die Verlängerung geht. Am Samstag, es ist bereits spät am Nachmittag, bilden sich grosse Menschentrauben im Plenum – US-Klimaminister John Kerry und der chinesische Chefdiplomat Xie Zhenhua feilschen, Maske an Maske, um die letzten Details.
Der ganze Deal droht abzustürzen. China und Indien wollen den Beschluss zum Kohleausstieg verwässern; Europa und die USA wehren sich gegen neue Finanzierungsinstrumente für Entwicklungsländer.
Am Ende des Showdowns der beiden Weltmachtsvertreter im Glasgower Stadtteil Finnieston stehen zwei Kompromisse:
Das Zugeständnis an die Superemittenten im Osten: Das neue Abkommen verspricht, die bereits zuvor von den reichen Ländern zugesicherten 100 Milliarden Dollar pro Jahr zu bezahlen und die Gelder für Klimaadaption ab 2025 zu verdoppeln. Anstatt vom schrittweisen Ausstieg (phase-out) aus der Kohle ist dafür nun vom schrittweisen Abbau (phase-down) die Rede.
Das Zugeständnis an die reichen Länder im Westen: Ein eigenständiger Fonds für die Finanzierung von Klimaschäden, wie ihn 138 Entwicklungsländer vorgeschlagen hatten, ist vom Tisch. Statt dass bare Münze fliesst, soll «ein Dialog» eingeleitet werden. Wie schon in den Jahren zuvor.
Vor Glasgow ist also nach Glasgow – zumindest in diesem Punkt.
Entsprechend gross ist am Ende der COP26 die Frustration. Sie seien «äusserst enttäuscht», sagt der Vertreter von Guinea im Plenum. Und der Kenianer Mohamed Adow von der Denkfabrik Power Shift Africa meint: «In Glasgow wurden die Bedürfnisse der ärmsten Menschen auf dem Altar des Egoismus geopfert.»
Die Enttäuschung ist nachvollziehbar. Wortwörtlich, denn die aktuellen Debatten zur Klimafinanzierung gehen auf ein altes, uneingelöstes Versprechen zurück.
Hässliche Kaninchen und ein Hoffnungsschimmer
Schon 12 Jahre bevor sich die Minister der Welt in Glasgow trafen, versuchten die USA und die EU, die Entwicklungs- und Schwellenländer mit Geld für mehr Klimaschutz zu ködern. Das war am Klimagipfel 2009 in Kopenhagen.
Der damals vorgeschlagene Deal: Die Schwellen- und Entwicklungsländer sollen ihre Treibhausgasemissionen transparent ausweisen, senken, und im Gegenzug erhalten sie von den Industrienationen künftig Hunderte Milliarden für mehr Klimaschutz und Anpassungsmassnahmen.
Doch die Klimakonferenz in Kopenhagen verlief desaströs. Wie verfahren die Verhandlungen waren, veranschaulicht insbesondere eine Episode.
Die Rahmenhandlung: China blockierte. Genauer: China blockierte alles.
Obwohl das Land längst zur Industriemacht aufgestiegen ist und am Tisch nicht fehlen durfte, blieb der damalige Premier Wen Jiabao den wichtigen Verhandlungen fern. Er war unauffindbar – soll sich laut Gerüchten in seinem Hotelzimmer verbunkert haben – und verweigerte sich allen bilateralen Gesprächen mit den USA.
Dann die Überraschung: An einem der letzten Verhandlungstage tauchte Premier Wen doch noch auf. Für eine informelle Sitzung mit Brasilien, Indien und Südafrika, die ein neues Abkommen ebenfalls torpedieren.
Sie besprachen gerade ihre neue Taktik, als US-Präsident Barack Obama wutentbrannt in das konspirative Meeting platzte. «Herr Premier», schnauzte er den Chinesen an. «Sind Sie jetzt bereit, mit mir zu reden?»
Diplomatie mit der Brechstange – respektive mit dem grossen Megafon. So beschreibt der ehemalige US-Präsident die Episode in seinen 2020 veröffentlichten Memoiren. Darin erzählt er, wie er den widerspenstigen Ländern drohte:
«Wenn ich diesen Raum ohne eine Einigung verlasse, dann renne ich als Erstes nach unten, wo die gesamte internationale Presse auf Neuigkeiten wartet.» Und weiter: «Ich werde sagen, dass ich bereit war, mich zu einer grossen Reduktion unserer Treibhausgase und zu Milliarden an neuer Unterstützung zu verpflichten. Und das werde ich dann auch den armen Ländern sagen und allen Menschen in Ihren Ländern, die am meisten unter dem Klimawandel leiden.»
Daraufhin legte Obama gemäss seinen eigenen Schilderungen den anwesenden Ministern einen Vertragsentwurf vor, den sie während 30 Minuten überarbeiteten und letztlich auch akzeptierten.
Später im Flugzeug zurück nach Washington habe er sich gut gefühlt, schreibt Obama: «Auf der grössten aller Bühnen, bei einem wichtigen Thema und mit tickender Uhr, hatte ich ein Kaninchen aus dem Hut gezogen.»
Ein Kaninchen, so mickrig – jedes Publikum würde entsetzt die Vorstellung verlassen.
Denn China und die USA formulierten die «Übereinkunft von Kopenhagen» schwammig und unter Ausschluss aller anderen Parteien. Der Minimalkompromiss ist dermassen unbeliebt, dass ihn die Konferenz letztlich nur «zur Kenntnis» nahm. Das ist diplomatisch für: fuck off.
Der einzige Hoffnungsschimmer aus Kopenhagen: Die Industrieländer verpflichteten sich 2009, jährlich Gelder zu sprechen, um die Klimakrise zu bekämpfen und sich an sie anzupassen. Geldbeträge, die laufend erhöht werden sollen – bis spätestens 2020 auf insgesamt 100 Milliarden Dollar pro Jahr.
Eine gigantische Summe. Aber eine Summe, die auch ankommt?
Die Zechpreller aus dem Westen
Die Klimafinanzierung ist eines der zentralsten Themen der Klimapolitik. Auch deshalb, weil sie die viel zitierte Forderung nach Klimagerechtigkeit direkt erfüllt und die historische Verantwortung der reichen westlichen Länder adressiert.
Die 23 reichsten Länder verantworten die eine Hälfte aller historischen Treibhausgasemissionen. Alle restlichen Staaten – über 150 – die andere.
Das Pariser Klimaabkommen von 2015 spricht deshalb von der «differenzierten Differenzierung». Das heisst, es berücksichtigt bei der Bekämpfung der Klimakrise die jeweilige ökonomische Situation der beteiligten Parteien.
Industrienationen müssen demnach ihre Klimaneutralität viel schneller erreichen und weniger wohlhabende Staaten unterstützen. Einerseits bei der Mitigation, also der Senkung von Emissionen. Andererseits aber auch bei der Anpassung an die Folgen der ungebremsten Klimaerwärmung.
Zum Beispiel soll das Unterstützungsgeld auf Karibikinseln die Errichtung von stabilen Schutzbauten finanzieren, damit die Bevölkerung in ihren Holzhütten den immer häufiger auftretenden Extremwettern nicht schutzlos ausgeliefert ist.
Bald wird aber klar: Die reichen Länder halten ihr 100-Milliarden-Versprechen von Kopenhagen nicht ein.
Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) stellte jüngst fest, dass die Industrieländer 2019 nur rund 80 Milliarden in die internationale Klimafinanzierung steckten – zwei Drittel davon als Darlehen, die irgendwann wieder zurückbezahlt werden müssen und die Entwicklungsländer weiter in bereits hohen Schulden ertränken.
2019 fehlten mehr als 20 Milliarden zum versprochenen Finanzierungsziel. Um das in eine Relation zu stellen: Mit diesem Betrag könnte die Schweiz beinahe nochmals zwei Basistunnel durch das Gotthardmassiv bohren.
Die OECD geht zudem davon aus, dass zwischen 2016 und 2018 ein Grossteil der Finanzmittel – rund 70 Prozent – an Schwellenländer wie China, Brasilien, Indien oder Südafrika floss. Die am wenigsten entwickelten Staaten, mehrheitlich afrikanische Länder, erhielten gerade einmal 14 Prozent des Kuchens. Sie aber hätten das Geld am bittersten nötig.
Wie drastisch die Situation bereits heute ist, machte in Glasgow die erste weibliche Premierministerin von Barbados, Mia Amor Mottley, in ihrer Eröffnungsrede klar:
«Meine Freunde», sagte sie, «das Versagen, diese kritischen Finanzmittel zu stellen (…), kostet in unseren Gemeinschaften Leben und Existenzen. Das ist unmoralisch. Und es ist ungerecht.»
Mia Amor Mottley ist eine Frau, die eigentlich immer lacht, breit und mit Zahnlücke. Ausser sie spricht über die Klimakrise, dann weicht alle Freude aus ihrem weichen Gesicht. Überflutung, Zyklone, Küstenerosion, heftige Niederschläge, Dürren, häufigere und intensivere tropische Wirbelstürme bedrohen Barbados, den kleinen Inselstaat in der Karibik.
Im Juli 2021 streifte ein tobender Hurrikan die Insel. Er beschädigte über 1300 Häuser, sorgte für flächendeckende Stromausfälle und riss Hunderte Bäume aus.
Barbados kam aber verhältnismässig glimpflich davon. Andere hatten weniger Glück. Als der Tropensturm Erika 2015 über die Karibikinsel Dominica hinwegfegte, zerstörte er innert vier Stunden 90 Prozent ihres Bruttoinlandprodukts und stürzte den Inselstaat in eine tiefe Krise.
Besonders heftig traf es in den letzten Jahren auch einige Regionen in Afrika.
Im Herbst 2020 traten in der Sahelzone die Flüsse Niger und Nil über die Ufer. Die braunen Fluten verschlangen Häuser, Felder, Tiere. Noch nie in der jüngeren Geschichte erlebten die Menschen in diesen Gebieten so extreme Überschwemmungen. Hunderte starben; Hunderttausende mussten fliehen.
Der afrikanische Kontinent erwärmt sich deutlich schneller als der globale Durchschnitt. Im Süden von Madagaskar geht gerade wegen einer Dürre Tausenden Menschen die Nahrung aus. Die Uno spricht – nicht unumstritten – von der ersten Hungersnot, die durch die Klimaerwärmung verursacht worden sei.
«Sind wir so verblendet und verhärtet, dass wir die Schreie der Menschen nicht mehr hören?», fragte Premierministerin Mottley ihre Amtskollegen an der Klimakonferenz.
Eidgenössisches Knausern
Alle Geberländer gestanden in Glasgow «mit tiefem Bedauern» ein, dass sie die versprochene Klimafinanzierung verpasst haben.
Damit hörten dann aber die Zugeständnisse auf.
Wie die 100 Milliarden verteilt und bezahlt werden sollen, ist weiter unklar. Es besteht keine Einigkeit darüber, wie sichergestellt werden kann, dass die Gelder effektiv eingesetzt werden. Und die Länder streiten sich auch immer noch darüber, welche Entwicklungshilfe überhaupt zur Klimafinanzierung gezählt werden darf.
Die Konsequenz ist ein grässliches Chaos. Ein Beispiel: die helvetische Eidgenossenschaft.
Die Schweiz muss pro Jahr 450 bis 600 Millionen US-Dollar an die internationale Klimafinanzierung bezahlen. Wobei «müssen» etwas übertrieben ist, denn entschieden hat das nicht die Uno-Konferenz, sondern der Bundesrat selbst (mit dem Segen von National- und Ständerat).
Jedes Land kann selbstständig bestimmen und berechnen, wie hoch sein Beitrag an die Klimafinanzierung sein soll. Das ist ein wenig so, als würde die Gemeinde einem die Steuerrechnung schicken mit der Aufforderung: Zahle doch bitte, was du für richtig hältst. Eine Bankrotterklärung in Raten.
Für die Berechnung des Schweizer Anteils hat die Regierung die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit sowie die von der Schweiz verursachten Treibhausgasemissionen berücksichtigt. Nur: Auch diese Rechnung bildet die Spitze des Eisbergs ab. Der fette Teil darunter – also alle Emissionen, die etwa durch Nahrungsmittelimporte entstehen – entfällt. Und die vor 1990 getätigten Emissionen spielen in der Rechnung ebenfalls keine Rolle.
Im Jahr 2018 bezahlte die Schweiz nach eigenen Angaben rund 550 Millionen Dollar für ausländische Klimaprojekte an multilaterale Organisationen wie etwa die Weltbank oder direkt über bilaterale Partnerschaften. Der Bundesrat gab vor einem Jahr bekannt, die hiesige Klimafinanzierung sei auf Kurs.
Ganz anders sehen das die Schweizer Umwelt- und Entwicklungsorganisationen.
Angesichts ihres Fussabdrucks im Ausland und der Wirtschaftskraft müsste die Schweiz ihren Beitrag mindestens auf eine Milliarde Dollar erhöhen, sagt etwa Stefan Salzmann vom katholischen Hilfswerk Fastenopfer und Co-Präsident der Klima-Allianz Schweiz am Rande der Klimakonferenz.
Florian Egli forscht an der ETH zum Thema Klimafinanzierung, und auch er meint, die Schweiz befinde sich im internationalen Vergleich am unteren Ende mit ihrem Beitrag. Vor allem müsse man aber in der internationalen Klimafinanzierung eine Sache immer sehr kritisch anschauen:
Wie viel Geld hat der Bund zusätzlich zur bereits gesprochenen Entwicklungshilfe bezahlt?
Eine 2020 veröffentlichte Studie, die der entwicklungspolitische Thinktank Alliance Sud in Auftrag gegeben hatte, kommt zum Schluss, dass der Anstieg der Schweizer Klimafinanzierung von 2011 bis 2018 weniger auf zusätzliche Gelder, sondern auf die Veränderungen in der Anrechnungspraxis zurückzuführen ist.
Kurz: Die Schweiz hat ihre Beiträge zwar nominell erhöht, aber deswegen nicht wirklich viel mehr Geld ausgegeben.
Die Mittel für die Klimafinanzierung fliessen aus den gedeckelten Rahmenkrediten für die Entwicklungshilfe. Die Gefahr besteht, dass dabei Gelder aus anderen, nicht direkt klimarelevanten Bereichen wie allgemeine Schulbildung abgezogen werden.
Ein gutes Zeugnis stellt die Alliance-Sud-Studie der Schweiz dafür in anderen Punkten aus. So hat sie, im Gegensatz zu vielen anderen Ländern, einen beträchtlichen Teil ihrer Finanzhilfe auch in die Adaption gesteckt – etwa in Frühwarnsysteme für Erdrutsche und Gletscherseeausbrüche im Himalaja – und fast das ganze Geld als A-fonds-perdu-Beiträge gesprochen.
Anders als etwa Frankreich und Japan, die beinahe ihre gesamte Klimafinanzierung über Darlehen abwickeln und die Entwicklungsstaaten so zusätzlich verschulden.
ETH-Forscher Egli betont, die Schweizer Klimafinanzierung habe eine grosse Legitimität und Durchsetzungskraft, weil sie die Bundesversammlung abgesegnet habe – anders als in anderen Ländern, in denen Regierungen solche Gelder ausgeben, ohne dafür vorher das Parlament zu konsultieren.
Ausserdem bewerte und evaluiere die Schweiz im internationalen Vergleich ihre bilateralen Projekte sehr seriös, sagt Egli: «Andere Länder wie Japan haben ihre Entwicklungszusammenarbeit lange sehr grosszügig als klimarelevant eingestuft»
Ein Bunker auf der falschen Seite des Flusses
Doch es hapert international nicht nur bei der Mobilisierung der Gelder, sondern auch bei der Implementierung. Umfassende Daten dazu, wie effektiv die bilateralen und multilateralen Klimaprojekte sind, gibt es nicht wirklich.
Zudem besteht bei Entwicklungshilfe immer die Gefahr, dass die Gelder wegen Korruption versickern. Die Weltbank geht davon aus, dass korrupte Eliten in wenig entwickelten Ländern 7,5 Prozent aller Entwicklungshilfe abschöpfen.
Bei einer Untersuchung hätten sie in Bangladesh bei einem Drittel aller Klimaprojekte Anzeichen von Korruption entdeckt, sagt Brice Böhmer, der sich für die Anti-Korruptions-NGO Transparency International mit der Klimafinanzierung beschäftigt.
So soll ein Lokalpolitiker den für die Bevölkerung bestimmten Sturmbunker in seinem eigenen Hinterhof gebaut haben. Die Gemeinde aber, die darin Schutz finden soll, liegt auf der anderen Flussseite. Im Notfall wäre der Bunker also nutzlos.
«Es braucht dringend ausgebaute Standards, damit die Gelder auch wirklich in klimarelevante Projekte fliessen», fordert Böhmer und sagt, die Schweiz könnte dabei als Vorbild dienen. Sie habe viele ihrer Anti-Korruptions-Empfehlungen in die Entwicklungshilfe integriert.
Dennoch, betont Böhmer, seien die Korruptionsgefahr und die mangelnde Implementierung keine Gründe, die Klimafinanzierung zu vernachlässigen. Um das in Glasgow erneut versprochene 100-Milliarden-Ziel zu erreichen, müssten fast alle Länder noch einmal in die Taschen greifen.
Das Overseas Development Institute, eine britische Denkfabrik, schreibt in einem Arbeitspapier vom September, die Schweiz würde mit ihrer momentanen Klimafinanzierung auch künftig ihren fairen Anteil nicht erfüllen. Als genügend wertet die Analyse einzig die Beiträge von Deutschland, Schweden und Norwegen. Die Norweger bezahlen neu 1,6 Milliarden Dollar, obwohl ihre Wirtschaftsleistung im Vergleich zur Schweiz um ein Drittel geringer ist.
Das Abkommen von Glasgow, das die Schweiz unterschrieben hat, fordert nun die entwickelten Vertragsparteien «nachdrücklich» dazu auf, das 100-Milliarden-Dollar-Ziel unverzüglich und vollständig zu erreichen.
Doch wird die Schweiz nun mehr Geld in die Hand nehmen? Ihre Beiträge erhöhen?
Die Falschen profitieren
Bundesrätin Simonetta Sommaruga sagt an der Konferenz in Glasgow, die Geldgeber seien in der Pflicht, die 100 Milliarden aufzutreiben. Sie sieht die Schuld für das verpasste Ziel aber nicht bei der Schweiz. «Bei der Klimafinanzierung haben wir unseren Beitrag geleistet. Die Schweiz hat seit 2010 ihren Anteil immer bezahlt, und wir werden das auch weiterhin tun.»
Andere Staaten hingegen hätten sich nicht immer an ihre Versprechen gehalten, sagt Sommaruga und nennt unter anderem die USA.
Die Vereinigten Staaten haben das ursprüngliche 100-Milliarden-Dollar-Ziel selbst formuliert und verantworten historisch ein Viertel aller Treibhausgasemissionen. Trotzdem kündigte der ehemalige US-Präsident Trump 2019 das Pariser Klimaabkommen auf und stellte die Klimafinanzierung fast gänzlich ein.
Die Bundesrätin sieht nun jene Staaten in der Pflicht, die deutlich zu wenig bezahlt haben. Aber auch solche, die unter dem Klimaabkommen noch als Entwicklungsländer gelten, jedoch längst zu blühenden Volkswirtschaften aufgestiegen sind. Etwa China, Saudiarabien oder Singapur.
Mit dieser Position hat die Schweiz bereits im Vorfeld der Konferenz für Aufsehen gesorgt.
In Kommentaren zum neuesten Bericht des Weltklimarates (IPCC), die der Republik vorliegen, bat die Schweiz um Abschwächungen von Formulierungen, in denen Wissenschaftler für eine ausgebaute Klimafinanzierung plädierten. Die Schweizer Kommentare zielten darauf ab, den Eindruck zu verhindern, die Entwicklungsländer könnten ihre Emissionen nur dann senken, wenn sie auch ausreichend Geld erhielten.
Auf kritische Nachfrage der BBC ergänzte das Bundesamt für Umwelt, dass alle Vertragsparteien des Pariser Abkommens, die dazu in der Lage sind, diejenigen unterstützen sollten, die finanzielle Unterstützung benötigten.
Florian Egli von der ETH Zürich hat Verständnis für diese Position: «Einige Entwicklungs- und Schwellenländer mit sehr grosser Wirtschaftskraft behaupten immer noch, sie könnten nur ambitionierte Klimaziele ergreifen, wenn sie Geld bekommen. Das stimmt aber definitiv nicht mehr.»
2019 haben China und Indien, die längst Grossmachtansprüche für sich reklamieren, am meisten Mittel aus der bilateralen Klimafinanzierung erhalten – insgesamt 8 Milliarden Dollar für jene zwei Länder, die in Glasgow den Kohleausstieg sabotierten.
Eine Ungerechtigkeit, von der man sich als Land auf der Geberseite entmutigen lassen kann.
Oder man kann es handhaben wie die Premierministerin von Schottland und sagen: jetzt erst recht.
Der Widerstand wächst
Die Schweiz hat an der Konferenz in Glasgow zusätzliche Beiträge im Umfang von über 50 Millionen Franken für diverse Klimafonds gesprochen.
Das entspricht 238 Metern Gotthard-Basistunnel – womit die Schweiz immer noch kilometerweise davon entfernt ist, einen fairen Anteil an die Klimafinanzierung zu entrichten.
Andere Länder gingen in Glasgow bedeutend weiter: Italien, Japan, Dänemark, Grossbritannien oder Norwegen haben ihre Klimafinanzierung massiv aufgestockt.
Auch US-Präsident Joe Biden hat bereits im September angekündigt, die US-Beiträge bis 2024 auf 11,4 Milliarden Dollar zu verdoppeln. Das ist immer noch zu wenig angesichts ihrer Vergangenheit – die USA verantworten ein Viertel aller historischen Treibhausgasemissionen –, aber besser als die vorherige Position.
Diese Ankündigungen werden letztlich wohl reichen, das überfällige Versprechen verspätet einzuhalten. Indessen wehren sich die USA, die Europäische Union, aber auch die Schweiz immer noch vehement gegen einen neuen Fonds, der explizit für Klimaschäden eingesetzt werden soll.
Bundesrätin Sommaruga sagte direkt nach der Klimakonferenz vor den Medien: «Für die Schweiz ist absolut klar, dass man die ärmsten Länder bei Klimaschäden unterstützen muss. Aber wir wollen nicht noch einmal einen zusätzlichen Fonds schaffen, sondern stattdessen die bestehenden Instrumente – etwa die Katastrophenhilfe – weiter ausbauen.»
Umweltorganisationen hingegen sagen, die reichen Nationen würden die ausgebaute Finanzierung von Klimaschäden aus anderen Gründen so resolut verwerfen. Sie wollten um jeden Preis einen Haftungsmechanismus verhindern, mit dem die ärmsten, von Klimaschäden betroffenen Länder früher oder später vor Gerichten auf Reparationszahlungen klagen könnten.
Denn dann würde es richtig teuer. Studien prognostizieren ab 2030 jährliche Kosten durch Klimaschäden von 290 bis 580 Milliarden Dollar – allein in Entwicklungsländern. Für das Jahr 2050 rechnen die Forscherinnen bereits mit Schäden in Höhe von bis zu 1,8 Billionen Dollar – das ist eine Zahl mit 11 Nullen und entspricht ungefähr der gesamten jährlichen Wirtschaftskraft von Italien.
Schreitet die Klimaerwärmung ungebremst voran, droht ungeschützten Ländern mit tiefem Einkommen das Wegbrechen eines beträchtlichen Teils ihrer Wirtschaftsleistung. Eine 2020 veröffentlichte Studie des Internationalen Roten Kreuzes schätzt ausserdem, dass durch Extremwetter und Klimakatastrophen allein im letzten Jahrzehnt 410’000 Menschen gestorben sind – die meisten davon in sehr armen Weltregionen.
Um die am wenigsten entwickelten Länder nicht komplett alleinzulassen, will das Abkommen von Glasgow nun das 2019 gegründete «Santiago-Netzwerk» operationalisieren und fordert die Industrienationen auf, dafür weitere Gelder zu sprechen.
Bisher war dieses Netzwerk nicht viel mehr als eine Website.
Nun soll es aber Ressourcen zur Bewältigung von Klimaschäden aufbauen, um betroffenen Ländern «technisch» zu assistieren – indem es sie etwa dabei unterstützt, von Überflutungen bedrohte Gemeinden und Menschen, die an Küsten leben, umzusiedeln und an sicherere Orte zu bringen.
Ferner leitet die Konferenz in Glasgow einen «Dialog zu Klimaschäden» ein. Was das konkret bedeutet und wie der Dialog aussehen soll, weiss niemand so genau.
Ähnliche «Dialoge» versickerten in der Vergangenheit meistens in der Bedeutungslosigkeit.
Die reichen Nationen feierten diese Beschlüsse als Erfolg. Einzig die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon störte mit ihrem «Jetzt erst recht» die selige Einigkeit unter den europäischen und amerikanischen Verbündeten.
In Glasgow offerierte sie einer Stiftung umgerechnet 1,2 Millionen Schweizer Franken, explizit mit dem Auftrag, damit «Klimaschäden» zu reparieren. Ein Tabubruch, eine gezielte Provokation. Letzte Woche stockte sie die Summe noch einmal auf. Schottland sei ein relativ kleines Land mit nur 5,5 Millionen Einwohnern, und dennoch könne es mit gutem Beispiel vorangehen, sagte Sturgeon. «Es gab noch nie einen wichtigeren Zeitpunkt, dies zu tun.»
Viele Entwicklungsländer ertrinken gerade in Schulden. Die Pandemie hat sie hart getroffen. Dutzende von ihnen stehen vor schmerzhaften Sparrunden. Impfungen fehlen. Die globale Ungleichheit hat zugenommen.
Noch einmal haben die am wenigsten entwickelten und am meisten bedrohten Staaten in Glasgow eine bittere Pille geschluckt. Oft werden sie das nicht mehr tun.
Die von den Industriestaaten befürchteten Haftungsklagen kommen. Eine Koalition von Inselstaaten, angeführt von Antigua und Barbuda sowie Tuvalu, hat letzte Woche angekündigt, vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag die Hauptverursacher der Klimakrise auf Schadenersatz zu verklagen.
In Glasgow im Fokus der Medien stand der Kenianer Mohamed Adow von der Denkfabrik Power Shift Africa; der Mann, der sagte, die Bedürfnisse der ärmsten Menschen würden auf dem Altar des Egoismus geopfert.
Als am letzten Freitag absehbar wurde, dass der geforderte Fonds für Klimaschäden abstürzen würde, umkreisten ihn vor dem Pressezentrum in Glasgow Dutzende Journalistinnen: «Wir gehen mit leeren Händen, aber moralisch gestärkt und mit der Hoffnung, den Schwung beizubehalten», diktierte er ihnen in die Aufnahmegeräte. «Klimaschäden stehen nun endgültig auf der politischen Agenda.»
Die Familie von Adow hat 2000 fast ihre gesamte Kuhherde verloren. In Kenia grassierte damals eine Dürre. Adow half bei der Verteilung von Lebensmittelpaketen an hungernde Menschen, wohl wissend, dass die Vorräte nur bis zur nächsten Dürreperiode reichen.
«Im Norden von Kenia hat es früher nur alle zehn Jahre eine Dürre gegeben», schreibt Adow in einem Text für «Foreign Affairs». «Aber in den letzten paar Jahrzehnten hat deren Intensität und Häufigkeit aufgrund der Klimaerwärmung stark zugenommen. Dürreperioden treten jetzt alle zwei bis drei Jahre auf, und sie werden wahrscheinlich noch häufiger.»
Der ägyptische Präsident Abdel Fattah al-Sisi hat unlängst angekündigt, die nächste Klimakonferenz müsse ein radikaler Wendepunkt im Namen der afrikanischen Länder werden. Im nächsten Herbst treffen sich die Minister aller Länder mit ihren Diplomaten zu weiteren Verhandlungen.
In Ägypten. Einem afrikanischen Land. Mit einer ganz anderen Agenda als Glasgow.
In einer früheren Version schrieben wir, das die schottische Regierungschefin einer Stiftung 1,2 Milliarden Franken offeriert hat – richtig sind 1,2 Millionen Franken. Wir entschuldigen uns für den Fehler.