Das bisschen Axt im Bein
Ein Roman aus dem Nachlass von Simone de Beauvoir erzählt von einer Kindheitsfreundschaft und dem schmerzhaften Moment, in dem man lernt, dass Liebe nicht immer gerecht ist.
Von Theresa Hein (Text) und Uli Knörzer (Illustration), 18.11.2021
Sylvie Lepage, 13 Jahre alt, ist gestresst. Ihre beste Freundin, das Mass ihrer Dinge, «ihre» Andrée ist schlecht gelaunt, «wegen nichts; wegen allem», deswegen war sie auch gehässig und hat behauptet, Sylvie könne nicht schreiben – und das zielt, wenn man weiss, wie gern das Mädchen schreibt, ziemlich unter die Gürtellinie.
Es sind die frühen Zwanzigerjahre in Paris. Die Erinnerungen an den Ersten Weltkrieg, in dem die Brioches und die Milch – wenn überhaupt – durch Suppe und hartes Brot ersetzt wurden, sind noch frisch. Es ist eine Zeit, in der schon kleine Mädchen einander höflich siezen, in der Zunge rausstrecken als Akt der Rebellion gilt und junge Frauen immer noch darauf vorbereitet werden, doch möglichst wirtschaftlich zu heiraten.
Da kann man schon mal schlecht gelaunt sein.
Andrée jedenfalls hat es einfach satt, sie wäre gern erwachsen, das erklärt sie auf dem Nachhauseweg von der privaten katholischen Mädchenschule ihrer gleichaltrigen Freundin, der Erzählerin Sylvie des Romans «Die Unzertrennlichen», nachdem sie sich bei ihr entschuldigt hat:
«Ich bin es leid, ein Kind zu sein», sagte sie unvermittelt. «Finden Sie nicht, dass das einfach kein Ende nimmt?» Ich sah sie erstaunt an; Andrée war viel freier als ich, und ich wünschte mir, obwohl mein Zuhause nicht fröhlich war, überhaupt nicht, älter zu werden. Der Gedanke, dass ich schon dreizehn Jahre alt war, erschreckte mich.
Sylvie ist ein vernünftiges Mädchen, das an Gott glaubt, kein anderes Ziel hat, als ihre Mutter stolz zu machen und Klassenbeste zu sein. Sie merkt gar nicht, dass in ihrem Leben etwas gefehlt haben könnte, bis sie neun Jahre alt wird und ein faszinierendes neues Kind in die Klasse kommt: Andrée Gallard. Diese Andrée trifft Sylvie wie ein Streichholzkopf das Rote auf der Schachtel.
Auch, weil sie alles ist, was Sylvie nicht ist: gewitzt, frech und selbstbewusst, darf sie mit ihren neun Jahren sogar schon alleine nach Hause gehen, weil ihre Mutter sieben Kinder hat und meint, die müssten lernen, auf sich selbst aufzupassen. Andrée kommt aus einer angesehenen Familie; umso verwirrter ist Sylvie, dass es bei Gallards zu Hause weniger streng zuzugehen scheint als bei ihr selbst. Zur Faszination trägt auch bei, dass Andrée Sylvie einiges an Lebenserfahrung voraushat: Einmal fing ihr Kleid beim Kartoffelrösten Feuer, und ihr ganzer Oberschenkel verbrannte bis auf den Knochen, wie Andrée stolz erzählt. Worauf Simone de Beauvoir ihre Erzählerin Sylvie neidisch ihr eigenes kleines Leben Revue passieren lässt: «Plötzlich kam es mir vor, als hätte ich überhaupt noch nie etwas erlebt.»
Hier ein anderer Name, dort eine Schwester mehr
Das klingt deshalb so lustig und aufrichtig nach einer Neunjährigen, weil der Roman, wie beinahe alles, was Simone de Beauvoir in ihrem Leben schrieb, zutiefst autobiografisch ist. Sie hat sich keine grosse Mühe gegeben, die Protagonistinnen zu verfremden, ein anderer Name hier, ein paar Geschwister mehr oder weniger da, und schon stand das von ihr Erlebte in Romanform auf Papier: «Die Unzertrennlichen».
Vorlage für Andrée im realen Leben war Simone de Beauvoirs Kindheitsfreundin Élisabeth Lacoin, genannt Zaza. Die Gefühle, die Simone de Beauvoir im ersten Band ihrer Memoiren schildert, beschreibt sie im Roman beinahe gleich. Etwa, wenn sie nicht nur beunruhigt, sondern kurz vor dem Verzweifeln ist, weil ihre Freundin nach den Sommerferien ein paar Tage zu spät in die Schule kommt und sie schon fürchtet, sie für immer verloren zu haben; in den Ausflügen auf das Landgut der Familie Gallard, die Sylvie ebenso beeindrucken wie die Ausflüge Simones zu Zazas Familie; oder in der Figur des Studenten Pascal, in den sich Andrée später verliebt und in dem unschwer Simone de Beauvoirs Studienkollege Maurice Merleau-Ponty zu erkennen ist.
Sogar die Szene, in der Simone de Beauvoirs Freundin Zaza sich aus Protest gegen ihre Eltern die Axt ins Bein haut, um einem besonders lästigen Besuch durch Krankheit zu entgehen, findet beinahe unverändert Eingang in den Roman – als Ausdruck von Andrées starkem Willen und Selbstbestimmtheit. Als Sylvie ihre Freundin entsetzt bittet, ihr zu sagen, dass sie sich doch hoffentlich nicht aus diesem banalen Grund die Axt ins Bein gehauen habe, noch dazu mit Absicht, antwortet Andrée triumphierend: «Ich bin zwei Wochen ans Bett gefesselt.»
Was für eine geniale Freundin.
Und nicht nur das. Aus der bedingungslosen Anerkennung der kleinen Sylvie gegenüber Andrée wird Liebe.
Im Vorwort gibt Simone de Beauvoirs Erbin und Adoptivtochter, Sylvie Le Bon de Beauvoir, keine Begründung dafür, warum der Roman erst jetzt veröffentlicht wird. Angeblich soll Jean-Paul Sartre seiner Lebensgefährtin de Beauvoir von der Veröffentlichung in den Fünfzigerjahren abgeraten haben. Von einem Skandal ist dieser Roman dennoch weit entfernt: Wer die «Memoiren» gelesen hat, dem bietet der neue alte Roman nun kaum etwas Neues; auch dort schrieb sie von der Liebe zu ihrer Freundin Zaza, wenn auch wesentlich knapper, mit mehr Raum für Doppeldeutigkeit.
Im Roman «Die Unzertrennlichen» macht Simone de Beauvoir für ihr Alter Ego Sylvie nun jedoch keinen Unterschied zwischen dieser und jener Liebe, Mann und Frau, Freundin oder Partner; wenn sie liebt, dann liebt sie, und dieser Klarheit verdankt der Roman nicht nur, dass er so zeitgemäss ist, sondern auch seine Schönheit.
Weinbrand gegen Schüchternheit
Für die Szene der Liebesbeichte im Roman wählt Simone de Beauvoir den sichersten und gemütlichsten Ort und Zeitpunkt, den man sich vorstellen kann: eine Küche im Landgut der Familie Gallard, in der die beiden Freundinnen ungestört einen Kuchen backen. Die Mädchen essen in Weinbrand eingelegte Kirschen, und Andrée erzählt Sylvie von ihrem ersten Kuss mit einem gewissen Bernard:
«Bernard ist der einzige Mensch auf der Welt, der mich um meiner selbst willen geliebt hat, genau so, wie ich war, und weil ich es war», sagte sie scheu.
«Und ich?», fragte ich. Die Worte waren mir einfach so herausgerutscht. Ich war empört über so viel Ungerechtigkeit. Andrée sah mich überrascht an.
«Sie?»
«Habe ich Sie denn nicht um Ihrer selbst willen gemocht?»
«Natürlich», sagte Andrée unsicher.
Die Wärme des Alkohols und meine Entrüstung flössten mir Mut ein; ich hatte Lust, Andrée diese Dinge zu sagen, die man nur in Büchern sagt.
«Sie haben es nie erfahren, aber seit dem Tag, an dem ich Sie kennenlernte, waren Sie alles für mich», sagte ich. «Ich hatte beschlossen, dass ich, wenn Sie sterben sollten, gleich darauf auch sterben würde.»
Ich redete in der Vergangenheit und versuchte möglichst unbeteiligt zu klingen. Andrée sah mich weiter verblüfft an. «Ich dachte, dass nur Ihre Bücher und das Lernen Ihnen wirklich etwas bedeuteten.»
«Zuerst kamen Sie», sagte ich. «Ich hätte auf alles verzichtet, um Sie nicht zu verlieren.»
Sie schwieg, und ich fragte: «Haben Sie es nicht geahnt?»
Diese Beichte verändert, anders als man meinen könnte, nicht den Umgang zwischen den beiden Freundinnen. Das Gespräch endet, als Andrée die Ofenklappe öffnet und erklärt, der Kuchen sei fertig. Die Freundschaft bleibt bestehen, nur für Sylvie ändert sich alles; schliesslich muss sie erleben, dass lieben nicht automatisch bedeutet, dass man zurückgeliebt wird, und dass man Liebe nicht so gerecht aufteilen kann wie den Kuchen im Ofen.
Ab diesem Abend, so erzählt Sylvie später, bedeutet Andrée ihr ein kleines bisschen weniger: «Sie war immer noch ungeheuer wichtig für mich, doch mittlerweile gab es auch noch den Rest der Welt, und mich selbst: Sie war nicht mehr alles.»
Das Entlieben verläuft parallel zum Erwachsenwerden. Es ist der Scheitelpunkt des Romans, an dem sich die Entwicklungen der beiden Freundinnen überkreuzen und die eine sich streckt und aufgeht, während die andere in sich zusammenfällt: Ab dieser Beichte ist Sylvie frei, sich weiterzuentwickeln, am Leben zu lernen, sie besucht die Sorbonne, arrangiert sich damit, dass sie nicht mehr an Gott glaubt, und führt kluge Diskussionen mit Andrées Verehrer Pascal über Glück und Unglück. Andrée dagegen bleibt gefangen in den Heiratsplänen ihrer Mutter für die Töchter und in ihrem strengen Glauben.
Es ist ein wahnsinnig eleganter, beinahe unbemerkter Kniff der Autorin: Ab dem Moment, in dem Sylvie aufhört, um jeden Preis zu lieben, beginnt sie zu wachsen. Man nennt das Emanzipation.
Am Sterbebett nur noch erschöpft
Es ist keine Bitterkeit in diesem Prozess. Simone de Beauvoir war am Boden zerstört, als ihre Freundin Zaza im Alter von 21 Jahren starb, an ihrer unaufrichtigen Umgebung, da war sich Simone de Beauvoir sicher, weil ihre Eltern die Verlobung mit dem Mann, den Zaza liebte, verhinderten.
Das Problem an postumen Veröffentlichungen ist, dass man nicht einfach bei Simone de Beauvoir in Paris anrufen kann und fragen, wie viel Absicht darin lag, die Überkreuz-Entwicklung der beiden Frauenfiguren in «Die Unzertrennlichen» derart herauszustellen. Und man kann sie auch nicht fragen, wie viel davon einfach ihrer eigenen Spiegelerfahrung mit Zaza entsprang. So muss man sich mit den Memoiren zufriedengeben, in denen sie schreibt: «Zusammen haben wir beide gegen das zähflüssige Schicksal gekämpft, das uns zu verschlingen drohte, und lange Zeit habe ich gedacht, ich hätte am Ende meine Freiheit mit ihrem Tode bezahlt.»
Es gibt keine Garantie auf Glück, das weiss Simone de Beauvoir, und in einem Brief an Sartre schrieb sie einmal, es gebe nur Bedingungen, von denen man im Leben umgeben ist, manche widrig, andere günstig. Unter diesen Bedingungen müsse man sein Glück «machen».
Sylvie, die Heldin des Romans, die eigentlich in den ersten zwei Dritteln des Buches als Erzählerin vor allem deswegen da zu sein scheint, damit wir einen Blick auf Andrée erhaschen können, hat das rechtzeitig begriffen. Vielleicht schon an jenem Abend beim Kuchenbacken und Weinbrandkirschenessen; unbemerkt wird sie in jenem Moment auch für die Leser zur interessanteren Figur. Ihre Freundin Andrée dagegen gibt sich in einer Szene des Romans, in der sie im Krankenbett mit dem Tod kämpft, im Fieber auch noch selbst die Schuld an ihrem Leben, wenn sie zu ihrer Mutter sagt: «Seien Sie nicht traurig. In allen Familien gibt es Ausschuss: Dieser Ausschuss war ich.»
«Ich konnte mir auf der Welt nichts Besseres denken»
So ähnlich lautete auch in echt einer der Sätze, die Zaza auf dem Sterbebett von sich gab. Für jemanden wie Simone de Beauvoir, die davon überzeugt war, dass es im Leben nicht darauf ankam, als wer man auf die Welt kam, sondern was man mit diesem «wer» anstellte, muss das ein harter Schlag gewesen sein.
In ihren Memoiren schrieb Simone de Beauvoir über ihre Liebe zu Zaza: «Die Bewunderung, die ich ihr entgegenbrachte, setzte meinen eigenen Wert in meinen Augen nicht herab. Liebe ist nicht Neid. Ich konnte mir auf der Welt nichts Besseres denken, als ich selbst zu sein und Zaza zu lieben.»
Zazas Tod bleibt Simone de Beauvoir zeit ihres Lebens unbegreiflich, das schreibt auch die Adoptivtochter im Vorwort zum Roman «Die Unzertrennlichen». Fünf Mal habe die Schriftstellerin auf verschiedene Weisen vergeblich versucht, Zaza wiederauferstehen zu lassen. Eine Passage in ihrem mit dem Prix Goncourt ausgezeichneten Roman «Les Mandarins», die von der Freundin handelte, wurde gestrichen, die Jugendromane blieben unveröffentlicht. Endlich, beim sechsten Anlauf, machte sie 1958 im ersten Teil ihrer Memoiren Zaza der Öffentlichkeit bekannt. Einer der zuvor gelungenen, aber zurückgehaltenen Anläufe ist nun die Veröffentlichung von «Die Unzertrennlichen».
Dieses Buch ist wirklich keine grosse Überraschung, dafür die einmalige Erzählung einer Erkenntnis, die man so zusammenfassen könnte: Wer einmal so geliebt hat, wie Simone de Beauvoir Zaza, wie Sylvie Andrée, wer von jemandem so fasziniert und umgeworfen wurde und doch die Kraft hat, sich dabei selbst nicht aufzugeben, der kann sich glücklich schätzen.
Simone de Beauvoir: «Die Unzertrennlichen». Aus dem Französischen von Amelie Thoma. Rowohlt, Hamburg 2021. 144 Seiten, ca. 32 Franken.
Simone de Beauvoir: «Memoiren einer Tochter aus gutem Hause». Aus dem Französischen von Eva Rechel-Mertens. Rowohlt, Hamburg 2014. 496 Seiten, ca. 19 Franken.
Alois Prinz: «Das Leben der Simone de Beauvoir». Suhrkamp, Berlin 2021. 303 Seiten, ca. 35 Franken.