Trotz Glasgow: So bleiben wir auf dem 1,5-Grad-Pfad
Die Klimakonferenz war eine Enttäuschung. Fünf Dinge, die jetzt geschehen müssen.
Von Elia Blülle, 15.11.2021
Nachdem ich am Samstag das Konferenzzentrum in Glasgow verlassen hatte, fühlte ich mich, als wäre ich gerade aus einem dystopischen Traum aufgewacht. Verstört und niedergeschlagen. Zum ersten Mal seit ich als Kind Al Gore im Fernsehen zugeschaut hatte, wie er Horrorszenarien an die Wand malte, kam sie wieder: diese schreckliche, betäubende Ohnmacht vor der Klimakrise. «Ganz ehrlich», schrieb ich einem Bekannten per SMS, der schon von mehreren Klimagipfeln als Journalist berichtet hatte. «Das waren zwei sehr schwierige Wochen. Glasgow saugte mir die Seele aus. Holy Fuck!»
Nach der Konferenz lebt das Ziel zwar noch, die durchschnittliche Erderwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen, doch die britischen Kolleginnen und Kollegen witzeln bereits, sie würden nun den Nachruf vorbereiten.
Die beiden Superemittenten Indien und China hatten in letzter Minute den wichtigen Kohleparagrafen verwässert. Anstatt vom schrittweisen Ausstieg (phase-out) aus der Kohle ist im Abkommen nun vom schrittweisen Abbau (phase-down) die Rede. Ein kleiner sprachlicher Unterschied mit grosser symbolischer Wirkung. Als der britische Präsident der Konferenz, Alok Sharma, den abgestumpften Artikel durchwinken musste, brach seine Stimme, und er verdrückte eine Träne. Viele Emotionen für einen konservativen Tory, der von sich sagt, er sei bekannt als «no drama Sharma».
Glasgow lieferte zwar einige Fortschritte, gegossen in diplomatischen Text, aber insgesamt viel zu geringe für einschneidende Veränderungen. Sogar Bundesrätin Simonetta Sommaruga, normalerweise um beschwichtigende Worte bemüht, sagte, die Konferenz habe ihr Ziel verpasst.
Im Hotel wollte ich eine Wutrede in den Laptop hacken: viele Fluchwörter und wenig Pragmatismus. Ich setzte die Kopfhörer auf und wählte in meiner Spotify-Schreib-Playlist irgendeinen dieser epischen Filmsoundtracks von Hans Zimmer aus.
Doch während des Schreibens begann ich mich zu fragen, ob nun eine Hasstirade wirklich hilft. Wohl nicht. Also versuche ich es noch einmal konstruktiv. Begleitet von jammernden Geigen und hallenden Pauken notiere ich fünf Dinge, die nun wirklich sofort geschehen müssen, damit das 1,5-Grad-Ziel auch in den nächsten 10 Jahren am Leben bleibt. Hier sind sie.
1. Das Geld an die Entwicklungsländer muss fliessen
Passende musikalische Untermalung: Hans Zimmer, «Time», 2010
Die Ungleichheit zwischen dem Globalen Süden und dem Norden ist in jeder erdenklichen Hinsicht frappant. Deutlich zeigt sich das gerade bei der Covid-Impfung: Während wir Europäer uns bereits die Boosterimpfung reinpfeifen, dümpeln die Impfquoten in Ländern wie Uganda immer noch im einstelligen Prozentbereich. Ein EU-Minister sagte auf einem Panel in Glasgow, ohne die ausgebaute Finanzhilfe aus Brüssel an die östlichen EU-Mitglieder wäre der jüngste, sehr ambitionierte EU-Klimaplan niemals zustande gekommen. An der Klimakonferenz versprachen die westlichen Länder weitere Milliarden für mehr Klimaschutz und Anpassung in den Entwicklungsländern. Diese Gelder müssen fliessen, und zwar so, dass sie nicht im Schlund von korrupten Regierungen landen, sondern tatsächlich den Menschen vor Ort helfen und Investitionen ankurbeln.
2. Die Industrienationen müssen nun vorangehen
Passende musikalische Untermalung: Die Ärzte, «Deine Schuld», 2004
Um eine Wirtschaftskrise abzuwenden, haben Regierungen in den vergangenen Monaten Billionen ausgegeben. Plötzlich gings. Und wo ist Kapital besser investiert als in der Bewahrung von Lebensqualität, Biodiversität und Menschenleben? Staaten wie die Schweiz verfügen nicht nur über die Ressourcen und Technologien, sondern auch über das Kapital für kompromisslosen und gerechten Klimaschutz. Dafür müssen sie Gelder für Innovation, Infrastruktur und Auslandsprojekte mobilisieren. Die Gelder müssen aber nicht in 5, 20 oder 30 Jahren fliessen, sondern jetzt. Sofort. Industrienationen tragen eine historische Verantwortung. Die Schwellen- und Entwicklungsländer setzten in Glasgow eine klare Botschaft ab: Wir machen beim ausgebauten Klimaschutz mit, aber geht voran!
3. Was du heute kannst verbieten, verschiebe nicht auf morgen
Passende musikalische Begleitung: DJ Bobo, «Freedom», 1995
Schädliche Technologien und Treibstoffe sollte der Staat zum Schutz seiner Bevölkerung verbieten. Das ist nicht illiberal, sondern Kern des modernen Staatsverständnisses. Wir haben Asbest, FCKW-Gase und sogar das Rauchen in Beizen verbannt. Gegen viel Widerstand. Heute kratzt das niemanden mehr. Das Einzige, was es für solche Verbote – zum Beispiel von Ölheizungen – benötigt, ist politischer Wille und kurzfristig etwas Furchtlosigkeit gegenüber der eigenen Wählerschaft.
4. Es braucht nicht weniger, sondern mehr internationale Kooperation
Passende musikalische Untermalung: Beatles, «All Together Now», 1969
In Deutschland wirbt der Kanzlerkandidat Olaf Scholz gerade für einen internationalen Klimaclub. Ein Zusammenschluss von Staaten, die bei der Umsetzung ihrer Netto-null-Ziele zusammenarbeiten sollen. Zum Beispiel, indem sie sich vor kurzfristigen Wettbewerbsnachteilen schützen – etwa durch einen CO₂-Grenzausgleich. Die Europäische Kommission hat eine solche Handelsgebühr im Sommer für die EU vorgeschlagen. Allein schon die Androhung reichte, um die Türkei auf Linie zu bringen: Sie ratifizierte in der Folge endlich das Pariser Abkommen. Es braucht diplomatisch ausgewogene Uno-Abkommen, aber auch Verträge mit harten Regeln und Strafen, die den Wandel katalysieren.
5. Unternehmen und Banken dieser Erde, profiliert euch!
Passende musikalische Untermalung: Mobb Deep, «Survival of the Fittest», 1995
70 Prozent der globalen Treibhausgasemissionen sind auf die Wirtschaftstätigkeit von 100 Konzernen zurückzuführen. Jede Firma, die in 50 Jahren noch existieren will, muss jetzt umstellen. Irgendwann kommen die Gesetze nicht mehr in Watte verpackt, sondern per Panzerfaust. Unternehmen, die sich jetzt nicht vorbereiten, gehen spätestens dann unter, wenn fossile Energieträger verboten werden: Get green, or die trying!