Betteln um Vernunft
Trotz der erneuten Corona-Notlage gibt es gute Gründe, von einem Impfzwang abzusehen. Aber warum können wir darüber noch nicht einmal eine Debatte führen?
Von Daniel Binswanger, 13.11.2021
Die Schweizer Impfwoche, die gerade hinter uns liegt, war begrüssenswert, aber ihr Nutzen wird begrenzt bleiben. Die Behörden lassen sich nicht entmutigen – und recht haben sie: Jede Impfung zählt! Darum zu kämpfen lohnt, obschon das Verhältnis von Aufwand und Ertrag wohl sehr ernüchternd ausfallen wird. Allerdings steht, je zäher sich das Prozedere gestaltet und je bedrohlicher die Epidemie erneut verläuft, eine immer quälendere Frage im Raum: Warum zum Teufel gibt es keinen Impfzwang?
Man verstehe mich nicht falsch. Dieser Kommentar ist kein Plädoyer für den Impfzwang. Er bleibt trotz der akuten Bedrohungslage weiterhin kaum vorstellbar. Zum einen erscheint er auf den ersten Blick als nicht vereinbar mit den Grundlagen unseres Rechtsverständnisses. Zum anderen wäre er gar nicht zu implementieren. Wir sehen ja gerade, welch heftige Abwehrreaktionen die Zertifikatspflicht teilweise auslöst. Man stelle sich vor, was los wäre, wenn die Behörden eine Impfpflicht mit polizeilichen Zwangsmassnahmen durchzusetzen versuchten. Das ändert jedoch nichts daran, dass die Undenkbarkeit eines Impfzwangs erklärungsbedürftig ist. Sehr erklärungsbedürftig.
Die aktuelle Situation hat etwas Surreales. Es herrscht höchste Alarmstufe, und es ist zweifelsfrei erwiesen, was neue, hohe Opferzahlen und massive volkswirtschaftliche Schäden verhindern kann: impfen. Die Behörden aber haben kein besseres Mittel, als vor ihren Bürgern auf den Knien zu rutschen und sie anzuflehen, doch bitte, bitte Vernunft anzunehmen. Ist ein solches Regierungshandeln rational?
In der SRF-Diskussionssendung «Club» vom letzten Dienstag wurde die Schieflage plastisch greifbar. Lukas Engelberger, der Basler Gesundheitsdirektor und Präsident der Gesundheitsdirektorenkonferenz, wurde durch Isabelle Noth, Professorin für Seelsorge und Religionspsychologie, an den Rand seiner Nehmerqualitäten gebracht – mit einer salbungsvollen Attacke auf die Schulmedizin verlieh sie ihrem Verständnis für die Impfgegner Ausdruck. «Wenn das jetzt schiefgeht», replizierte Engelberger mit ungewohnter Schärfe, «dann werden entweder wieder sehr viele Leute sterben und wir werden zuschauen, oder es wird Milliarden kosten.» Die Durchimpfungsrate betrifft existenzielle staatliche Interessen. Weshalb fällt es den Staaten so schwer, diese Interessen zu schützen?
Man mag es ja sogar als positiv empfinden, jedenfalls sofern man es schafft, über Intensivstationen und Krematorien hinwegzuschauen. Aus anarchistischer oder «freiheitlicher» Perspektive mag es begrüssenswert erscheinen, wenn der Staat selbst in einer schweren Notsituation machtlos und passiv bleibt, seine Hände duldsam in den Schoss legen muss. Aber man sollte sich nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Form der Zurückhaltung in keiner Weise die Regel ist. Im Normalfall verteidigen politische Gemeinschaften ihre vitalen Interessen durchaus mit Zwangsmitteln – und handeln schon aus nichtigeren Gründen, als es die gravierenden Folgen der Covid-Krise sind.
Das zeigt zum Beispiel die Tatsache, dass der Impfzwang alles andere ist als eine exotische Horrorfantasie. In der Schweiz existiert er zwar momentan nicht, aber auch bei uns gibt es immer wieder die Debatte, ob ein Masern-Impfobligatorium nicht sinnvoll wäre. Frankreich, Italien und Deutschland – Länder mit einem anderen Staatsverständnis als die Schweiz, aber sicherlich keine finsteren Diktaturen – haben alle in den letzten Jahren die obligatorische Masernimpfung eingeführt. Wenn man Masernimpfungen erzwingen kann – weshalb soll es dann ein Tabubruch sein, dasselbe bei den Covid-Impfungen zu tun?
Diese Frage ist umso drängender, als die Masern im Vergleich zu Covid wie ein völlig vernachlässigbares Problem erscheinen. Frankreich zum Beispiel hat das Obligatorium für Masernimpfungen eingeführt für alle Kinder, die nach dem 1. Januar 2018 geboren sind. Der Grund? Zwischen 2008 und 2016 steckten sich 24’000 Französinnen mit Masern an und zehn starben daran. Zehn Todesfälle in acht Jahren waren Grund genug für staatlichen Zwang. Die Tausenden von Toten hingegen, die Frankreich wohl allein diesen Winter wieder zu beklagen haben wird und die durch eine Durchimpfung zum grössten Teil hätten vermieden werden können, sollen ein Covid-Impfobligatorium nicht rechtfertigen? Es ist grotesker Verhältnisblödsinn.
Man kann sicherlich ein paar relativierende Argumente geltend machen, zum Beispiel, dass die Covid-Impfung schwerer erträglich ist als die Masernimpfung oder dass die besten Impfstoffe auf der neuartigen mRNA-Technik beruhen, deren Einsatz theoretisch mit mehr Unwägbarkeiten verbunden ist und vor der sich die Leute deshalb mehr fürchten. Der Grundwiderspruch bleibt dennoch bestehen: Bei anderen Krankheiten greifen demokratische Staaten bedenkenlos zum Impfzwang. Warum ist er bei Covid tabu?
Interessant ist auch der Vergleich zur Terrorismusbekämpfung. Natürlich sind die beiden Problemfelder – Pandemieprävention und Verhinderung von terroristischen Anschlägen – nur begrenzt vergleichbar, sowohl was die Natur der Bedrohung als auch was die Art der zu treffenden Massnahmen betrifft. Dennoch sind die Parallelen offenkundig: In beiden Fällen sollen Todesopfer durch die Einschränkung von Grundrechten verhindert werden. Terrorismusopfer hatte die Schweiz in den letzten Jahren praktisch gar keine zu beklagen. Letztes Jahr gab es ein Todesopfer bei einer Messerattacke in Morges und eine Verletzte bei einem Vorfall in Lugano. Ansonsten? Nichts.
Dennoch entschloss man sich dieses Jahr mit der Einführung des äusserst weit gehenden Gesetzes über polizeiliche Massnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus zu sehr einschneidenden Eingriffen in die Grundrechte. Warum tut man dies zur Verhinderung von Bedrohungen, die zwar existieren, sich bisher aber beinahe gar nie konkretisiert haben – und hält gleichzeitig den Grundrechtseingriff eines Impfzwangs zur potenziellen Verhinderung von Tausenden von Todesfällen für vollkommen undiskutabel? Man kann wohl Gründe geltend machen, weshalb im Feld des Terrorismus die Abwägung eine andere sein muss. Das Missverhältnis erscheint dennoch krass.
Schliesslich und endlich: Weil die Durchimpfungsrate tief ist, droht uns diesen Winter wieder ein Teil-Lockdown. Auch ein Untersagen von Grossveranstaltungen, ein Versammlungsverbot, die Schliessung von Kulturstätten und Fitnessstudios oder welche Formen dieser Teil-Lockdown auch immer annehmen könnte, stellen massive Eingriffe in die Grundrechte dar. Sind sie so viel weniger gravierend als der Zwang zu einer Impfung? Könnte nicht allein schon der drohende Lockdown das Impfobligatorium rechtfertigen in einer vernünftigen staatsrechtlichen Abwägung?
Sicherlich: Diese Fragen sind nicht einfach zu beantworten. Dass die erzwungene Verabreichung eines Impfstoffes als massiver Eingriff in die körperliche Unversehrtheit und in die Entscheidungsautonomie über medizinische Behandlungen betrachtet werden muss, ist evident. Dennoch wäre eine konsequente Durchimpfung heute unbestreitbar die vernünftigste Handlungsoption. Was ist los mit unseren Demokratien, dass wir darüber noch nicht einmal eine Debatte führen können?
Die konkrete Antwort dürfte simpel sein: Der Terror des Irrationalismus ist zu stark. Eine wild entschlossene Minderheit würde so heftigen Widerstand leisten, dass es gar keinen Sinn hat, die Diskussion zu beginnen. Das ist ein sehr ernüchternder Befund. Und sollte uns nicht nur im Feld der Pandemiepolitik für die Zukunft ernste Sorgen machen.
Illustration: Alex Solman