Aus dem letzten Jahrhundert
Melanie Winiger, Christiane Brunner, Mia Aegerter – drei Frauen, die in den 90ern Sexismus, schlüpfrige Männerwitze und Frauenhass erdulden mussten. Heute erinnern sie sich an Abgründe, die man nicht mehr für möglich halten würde. Oder?
Von Ronja Beck, 06.11.2021
Wenn du eine öffentliche Frau wirst, fällt man auf eine spezielle Art von allen Seiten über dich her. Aber du darfst dich nicht beklagen, das wird nicht gern gesehen. Du musst Humor, Distanz und ordentliche Eier haben, um einzustecken.
Es ist ein Herbsttag 1999. Doris Leuthard, 36, Ständeratskandidatin und spätere Bundesrätin, geht durch die Aargauer Gassen und verteilt mit Duschmittel gefüllte Tütchen. «Duschbad. Erfrischender Aargau», steht auf den Tütchen, darüber ein Foto von der lachenden Leuthard. «Das erregt – mindestens Aufmerksamkeit», urteilt ein Journalist der «Basler Zeitung».
Es war die «Aargauer Zeitung», welche die Kampagne schliesslich in die Unvergessenheit führte: «Der Wahl-Hit: Duschen mit Doris», lautete die Headline, die der Ex-Bundesrätin bis heute nachhängt und von der viele denken, sie hätte sie selber propagiert.
Ein PR-Knüller, findet Jahre später noch ein Journalist der «Berner Zeitung»: «Ausschlaggebend war wohl, dass viele Männer bei ‹Duschen mit Doris› gerne an die attraktive Politikerin dachten.»
Was dachte eigentlich Doris Leuthard?
«Auf dieser sexistischen Schiene wollte ich nicht fahren», kommentierte sie damals den Spruch gegenüber der «Schweizer Illustrierten». Direkt darauf folgend bekümmert sich der Artikel um Leuthards Hochzeitsnacht.
Damit: Herzlich willkommen in den 90ern.
Im Bett mit Britney
Als Kind der 90er-Jahre waren es bis vor kurzem vor allem romantische Gefühle, die in meinem Bauch aufblubberten, wenn ich an diese Zeit zurückdachte. Es gab legendäre Boybands und keine sozialen Netzwerke. Auf MTV lief noch Musik und von Massenüberwachung war keine Rede. Statt war on terror war Wirtschaftsboom. Aufbruchstimmung.
Die Welt schien fast heilig zu sein verglichen mit dem, was in den Jahrzehnten danach folgen sollte. Als am 31. Dezember 1999 die Zeiger auf zwölf lagen und die Welt wider Erwarten doch nicht unterging, schien das der perfekte letzte Schlussgong nach einer goldenen Dekade.
Was natürlich Unsinn ist. In der fiebrigen 90er-Nostalgie, die sich gerade wieder in der Mode zeigt, gehen gerne ein, zwei Dinge vergessen. In den Jugoslawienkriegen starben damals Zehntausende, Millionen blieben traumatisiert zurück. Tony Blair wurde britischer Premierminister und schloss später mit den Amerikanern einen Pakt, der viele weitere Zivilisten das Leben kosten sollte. Die Models auf den Laufstegen wurden immer dünner. «Braveheart» gewann den Oscar für den besten Film.
Und, für diese Geschichte ist das wichtig: Britney Spears wurde zum Weltstar.
Die US-amerikanische Popsängerin Britney Spears hatte mit dem Song «… Baby One More Time» 1998 ihren grossen Durchbruch. Es war der Beginn einer gigantischen Musikkarriere, auf Schritt und Tritt verfolgt und befeuert von den Medien. Von einem Fotoshooting im Bett und in Unterwäsche 1999 für das Cover des «Rolling Stone»; über den Kuss mit Madonna an einer Awardshow 2003; über die Fotos von ihr, wie sie sich 2007 in einem Coiffeur-Salon den Schädel rasiert.
Britney Spears ist an ihrem Ruhm fast zerbrochen. Sie wurde zerbrochen, von Medienberichten, die sie in den Himmel gehoben und kurz darauf auf dem Boden zerschellen lassen hatten. Ihre Geschichte, die im Zusammenhang mit der Gerichtsverhandlung um die Vormundschaft durch ihren Vater und der gefeierten Dokumentation «Framing Britney Spears» dieses Jahr neu aufgerollt wurde, zeigt in extremis, was prominente Frauen in den 90ern und im folgenden Jahrzehnt zu erwarten hatten. Und mit was für einem Frauenbild die Lesenden da eigentlich gefüttert wurden – und das nicht nur in den USA.
Hasserfüllte Berichte
Wer im Schweizer Medienarchiv zu jener Zeit zurückscrollt und über Frauen liest – notabene eine Zeit, in der hierzulande 500’000 Frauen streikten und die Gleichstellung der Frau gesetzlich verankert wurde – öffnet ein Gruselkabinett der Misogynie.
Ich wollte von bekannten Frauen in der Schweiz wissen, wie sie dieses Kabinett durchschritten haben, ohne verrückt zu werden.
Einige lehnten dankend ab: kein Interesse, keine Zeit. Andere sagten, bei ihnen hätte ihr Geschlecht keine Rolle gespielt. Eine Frau antwortet in einem Mail: «Wir leben in einem kleinen, konservativen Dorf in der Zentralschweiz.» Will heissen: Lassen wir das Vergangene doch besser vergangen sein.
(Im «Magazin» ist kürzlich ein eindrückliches Porträt über die Tennisspielerin Martina Hingis und den Umgang der Schweizer Öffentlichkeit mit ihr publiziert worden. Ich hatte sie für diesen Text hier auch angefragt; sie sagte ab.)
Drei Frauen sagten zu: Die Singer-Songwriterin Mia Aegerter; Moderatorin, Model und Schauspielerin Melanie Winiger; und die frühere SP-Politikerin und Bundesratskandidatin Christiane Brunner. Sie alle, obwohl sie in unterschiedlichen Bereichen tätig waren oder sind, erzählen von hasserfüllten Berichten und ständigen Zweifeln an ihren Kompetenzen.
Die Verletzungen von damals wirken bis heute nach. In den Frauen, die sie erlebten, die Zeuginnen wurden, die mitlasen. Und in einer Öffentlichkeit, die all dies zuliess.
Mia Aegerter: «Die erste Frage des Redaktors war: Wie viel ist sie denn bereit auszuziehen?»
Die Freiburgerin Mia Aegerter ist 23, eigentlich Sängerin und Songwriterin, als sie 2000 eine Rolle in der deutschen Daily Soap «Gute Zeiten, schlechte Zeiten» (GZSZ) ergattert. Die Sendung erreicht jeden Abend ein Millionenpublikum und gilt als Karrieresprungbrett. Quasi über Nacht wird Aegerter in Deutschland und der Schweiz bekannt. Zeitweise, so erzählt sie mir im Videocall aus ihrer Wohnung in Berlin, sei sie nur noch mit Tschäpper und Sonnenbrille einkaufen gegangen.
Am 16. Dezember 2001 zeigt der «SonntagsBlick» ein Foto von Mia Aegerter. Die Schauspielerin und ihre GZSZ-Kollegin sind darauf als Engel verkleidet. Der Journalist schreibt, Aegerter würde Weihnachten in ihrer Heimat verbringen, mit ihrem Partner: «Für ihn ist die Rock-’n’-Roll-Göre wieder der Liebesengel.»
Artikel zu Mia Aegerter von damals lesen sich wie Artikel über eine Teenagerin, nicht über eine erwachsene Frau. «Zielstrebiges Persönchen», betitelt die «Aargauer Zeitung» einen Text über das Engagement der Freiburgerin bei einer Castingshow. In einem Porträt in der «NZZ am Sonntag» fragt sich derweil die Journalistin, ob Aegerter wirklich so «beschränkt» sei, wie sie wirke: «So klein ist sie in dem riesigen Auto, eine Kindfrau, denkt man, die ganz dem Vorurteil des gehypten Girlies entspricht – sehr jung, sehr hübsch, quirlig und ein wenig beschränkt […] Was ist dran an dem schrecklichen Verdacht?»
2004 fragt der «SonntagsBlick» seine Leserinnen: «Neckische Zöpfchen, freakige Armstulpen, nackter Bauchnabel: Sieht sie nicht wie ein Teenie aus?» Hintergrund: Mia Aegerter soll bei ihrem Alter geschummelt haben. Als Beweis druckt die Zeitung ihren Heimatschein ab.
«Ich frag mich, wie sie an den rangekommen sind», sagt Aegerter.
Wenn sie die Berichte über sich las, habe sie oft eine Diskrepanz gespürt zwischen dem Bild, das sie von sich selbst hatte, und dem Bild, dass da von ihr gemacht wurde. Gross Gedanken, wie sie in den Medien dargestellt wurde, habe sie sich in den ersten Jahren ihrer Karriere aber kaum gemacht.
Das hat einen simplen Grund: «Ich bin im Popbereich gross geworden. Dort galt es als wichtig, dass man gesehen wird, Aufmerksamkeit bekommt. Das wurde gleichgesetzt mit: Man macht einen guten Job.» Es mussten Jahre vergehen, bevor sie einen, wie sie sagt, Aufarbeitungsprozess beginnen und den Sexismus von damals auch als solchen entlarven konnte. «Denn was man auch sehen muss: Die Pop- wie die Schauspielbranche waren dazumal extrem sexistisch.» Kurz gesagt: Es war Alltag, es war normal.
Mia Aegerter erzählt, wie sie vor professionellen Kooperationen jeweils gefragt wurde, ob sie eine Familie gründen wolle. «Mir wurde immer wieder suggeriert: Wenn du ein Baby bekommst, wirds schwierig mit der Karriere.» Sie fragt sich: Wurden diese Fragen auch einem Mann gestellt? «Ich glaube nicht», sagt sie heute.
Während ihrer GZSZ-Zeit erwog Aegerters Plattenfirma, mit der deutschen «Bild»-Zeitung eine Kooperation einzugehen. Die erste Frage, die der verantwortliche Redaktor an ihr Management stellte, lautete: «Wie viel ist sie denn bereit auszuziehen?» Das seis dann gewesen mit der Kooperation, sagt Aegerter.
Bei Fotoshootings wurde der Sängerin eingebläut, wie wichtig es sei, dass sie auf den Bildern sympathisch rüberkomme und bloss nicht zickig, «Das Wort zickig fiel sehr oft. Natürlich nur bei Frauen. Ein Mann, der wusste, was er wollte, war selbstbewusst. Eine Frau war zickig.»
Eine Ära der Frauenverachtung
Die Beleidigung Zicke trifft genau in den Zeitgeist der 90er gegenüber Frauen, resümiert die amerikanische Autorin und Journalistin Allison Yarrow. In ihrem Buch von 2018 mit dem bezeichnenden Titel «90s Bitch» zeigt sie detailliert, welche Bewertungen Frauen in den Medien erfuhren: Man befand sie, je nach Stimmung, für zu hässlich, zu dümmlich, zu männlich oder eben zu zickig.
Die Statistiken versprachen zu jener Zeit eine nahende Gleichberechtigung. Immerhin studierten, auch in der Schweiz, Frauen fast so häufig wie Männer, gingen vermehrt in die Politik, verhüteten häufiger, heirateten später.
Die Antwort auf diese Aufbruchstimmung – ein auch heute häufig zu beobachtendes Phänomen, wenn Frauen selbstbestimmter und öffentlich sichtbarer werden – war ein neu befeuerter Frauenhass. Ob diese Frauen in der Kultur tätig waren, in der Unterhaltung oder in der Politik, das spielte dabei keine Rolle. Es erwischte selbst – oder besser: erst recht – Frauen in Machtpositionen.
«Am Ende haben die 90er die Frauen und Mädchen nicht weitergebracht», resümiert Yarrow, lesbar frustriert, bereits in der Einleitung ihrer 416 Seiten langen Analyse. «Stattdessen war die Zeit geprägt von einem schockierenden wie beschleunigenden Versuch, sie unterzuordnen.»
Zwar wuchs auch in den 90ern eine neue feministische Bewegung heran. Geprägt von der Punkszene in den USA bildete sich eine Generation von Feministinnen, die Debatten über Gewalt, Selbstbestimmung, Rassismus anstiessen; die, befeuert von Judith Butlers subversivem Werk «Das Unbehagen der Geschlechter» die Grenzen ihrer sexuellen Identität neu ausloteten.
Doch wurde, wie Allison Yarrow schreibt, die Bewegung zu Zwecken der Kommerzialisierung gekapert. Die Spice Girls wurden mit ihrem Slogan «Girl Power» und ihren Songtexten über weibliche Selbstbestimmung zu Galionsfiguren des modernen Feminismus. Was schnell vergessen ging: Die Gruppe wurde von Männern gegründet, von Männern gemanagt, von Männern vermarktet.
Die Kommerzialisierung der Musikbranche stiess in den 90ern in neue Höhen vor. Es war die Blütezeit der Castingshows. Sängerinnen wurden nach Erfolgschancen ausgewählt und entsprechend getrimmt.
Mia Aegerter sagt, sie habe sich immer wieder gefragt, ob ihr gewisse Fragen gestellt wurden, weil die Popbranche so sexistisch war oder weil sie so kapitalistisch war. «Meistens wahrscheinlich beides», sagt sie.
Christiane Brunner: «Im Publikum sagte einer: Dieses junge Tüpfli haben wir gewählt?»
Sie sei häufig in ihrem Leben die erste Frau gewesen, sagt Christiane Brunner, 74, bei unserem Treffen in ihrer Genfer Wohnung. 1992 wird sie zur Präsidentin der Metallgewerkschaft Smuv gewählt. Männeranteil fast 100 Prozent. Sie ist die erste Frau auf diesem Posten.
Als sie nach ihrer Wahl am Smuv-Kongress nach vorne geschritten sei, erzählt Brunner heute, habe sie einen im Publikum sagen gehört: «Dieses junge Tüpfli haben wir gewählt?»
Dieses Urteil sollte sich in den kommenden Tagen, in anderen Worten, auch in den Zeitungen wiederfinden.
Der Journalist vom «Bund» beginnt seine Berichterstattung zur Wahl so: «Sie ist klein und zierlich und ist den Umgang mit Hammer und Schweissgerät nicht gewohnt.» Die «Schweizer Illustrierte» schafft es ihrerseits, im ersten Satz Grösse und Gewicht von Christiane Brunner zu beziffern. Zweiter Satz: «Sie blondiert ihr Haar.»
Christiane Brunner ist Anwältin, Gewerkschafterin, SP-Politikerin und eine der prägendsten Schweizer Frauen der 90er.
Sie war ausserdem: eine der treibenden Kräfte hinter dem Frauenstreik vom 14. Juni 1991.
«Ça va pas, t'es folle!», «Du bist verrückt!», hätten ihr Gewerkschaftskollegen auf die Streikidee entgegnet. Als die Idee zum konkreten Plan wurde, hiess es: Du bist schuld, wenns nicht klappt. Sie hätte Albträume gehabt, von leeren Strassen geträumt, sagt Brunner.
Die leeren Strassen blieben ein Traum. Am Ende beteiligten sich eine geschätzte halbe Millionen Frauen am Streik.
Christiane Brunner ist es auch zu verdanken, dass zum zweiten Mal in der Geschichte der Schweiz eine Frau in den Bundesrat einzog. Auch wenn es nicht, wie geplant, sie selber war.
Ihre Kandidatur 1993 war gekennzeichnet von einem an den Ohren herbeigezogenen Skandal. Genau, wie es der «Blick» Wochen zuvor in einem Text mit dem Titel «Haben Sie keine Angst vor einer Schlammschlacht?» vorhergesagt – oder vielmehr: angekündigt – hatte.
Einen Monat später berichtete dieselbe Zeitung dann vor der Bundesratswahl von «anonymen Anwürfen» gegen Christiane Brunner, «die ihre persönliche Integrität für das Bundesamt in Frage stellen». Titel der Geschichte: «Wer wettet noch auf Christiane Brunner?» Es ging dabei um, wenig überraschend, ihr Privat- und Sexualleben.
«Männerfantasien», wie Brunner heute wie damals nüchtern kommentiert.
Es ist der Anfang einer Treibjagd. Die Schweizer Presse, auch die SRG, berichteten intensiv über die angeblichen privaten Eskapaden Brunners, die ein anonymer Briefeschreiber den Medien gesteckt hatte. Dabei wirkte neben Sexismus auch elitärer Dünkel gegen die Gewerkschafterin mit: Man nannte sie, unter anderem, eine «Serviertochter».
Obwohl die Spekulationen den eigentlich geschützten privaten Bereich betrafen, dominierten sie die Debatte. Konservative Parlamentarier forderten Brunner zur Unbedenklichkeitserklärung auf. «Das war eine schwierige Zeit für mich. Ich wusste dazumal nicht, wie ich mich wehren sollte», sagt sie heute.
Sie gibt Strafanzeige auf gegen die anonymen Verfasser des Briefes und sieht sich zu einer Pressekonferenz gezwungen, an der sie die Vorwürfe negiert. Eine angebliche Abtreibung kommentiert sie bewusst nicht. Ein SRF-Journalist befindet: «Geschickt stellt sie die Attacken gegen sie als Angriffe gegen die Frau dar.»
Stellt sie so dar?
Allison Yarrow, die die Misogynie der 90er seziert hat, widmet einen zentralen Teil ihres Buches einer Frau, die ebenfalls in die oberste politische Riege einzog: Hillary Clinton. Als erste First Lady mit eigener Karriere erlangte die Anwältin schon vor ihrem Einzug ins Weisse Haus globale Strahlkraft. Und sah sich ebenso lange mit harter Kritik an ihrem politischen Willen, ihrer Rolle als Ehefrau und ihrem Äusseren konfrontiert.
Ihr politisches Engagement liess Beobachter öffentlich befürchten, sie würde ihre Grenzen als First Lady übertreten. Gemeint war: ihre Grenzen als Frau.
Die Fachliteratur zu Frauen in Führungs- und Machtpositionen (oder in der Arbeitswelt grundsätzlich) ist ernüchternd. Die Arbeit von Frauen wird – von Männern wie von Frauen – strenger bewertet, gute Arbeit wird seltener anerkannt, Fehler fallen schneller auf die Frau zurück als auf den Mann. Dabei tragen Kommentatoren jeglichen Geschlechts die Misogynie weiter: Dass Hillary Clinton nach Bekanntwerden einer Affäre ihres Mannes mit seiner Praktikantin zu ihm steht, deuten sie als ein kalkuliertes Klammern an die Macht. Eine «Times»-Kolumnistin will Hillary Clinton nicht mehr als Feministin sehen, nachdem was «sie sich von ihrem Mann hatte gefallen lassen».
Am 3. März 1993 wählt die Bundesversammlung SP-Nationalrat Francis Matthey in den Bundesrat. Er nimmt die Wahl nach einigem Zögern nicht an. Christiane Brunner tritt erneut an, im Rahmen einer Doppelkandidatur mit ihrer Parteikollegin Ruth Dreifuss. Am Abend vor der Wahl ist Brunner klar, dass sie verlieren wird. Und so schreibt sie ihre Rede, die sie danach halten wird. Gewählt wird Ruth Dreifuss.
Melanie Winiger: «Nö-ö, in diese Schublade gehör ich nicht»
Mal soll sie ein «Sex-Faktor» gewesen sein, dann wieder «abgehalftert». Journalisten nannten sie «Göre» und attestierten ihr ein «Minimum an Intelligenz». Dauerbrenner: «frech».
Als die 17-jährige Melanie Winiger 1996 die Miss-Schweiz-Wahl gewann, tat sich vor ihr nicht nur eine Landschaft voller Werbeaufträge auf. Es prasselte gleichzeitig ein Potpourri an abwertenden, sexistischen oder auch rassistischen Bezeichnungen auf sie ein – jahrelang.
Eine Auswahl an Headlines zwischen 1997 und 2006:
«Hatte Melanie Schönheits-Bonus?»
«Eine wunderbar wandelbare Göre»
«Mädchen für alle»
«Ganz schön frech»
«Melanie ganz scharf»
«Sex-Faktor Melanie»
Wie hält man das aus?
«Ich glaube, der einzige Grund, warum ich damals nicht durchgedreht bin, war meine Auffangstation – meine Eltern und meine Freunde», sagt Melanie Winiger bei unserem Treffen im Büro ihrer Agentur in Zürich.
Es scheint, als hätte die Tatsache, dass Melanie Winiger durch eine Misswahl bekannt wurde, bei den Journalisten die letzten Zügel reissen lassen. Melanie Winiger bleibt cool, als ich mit ihr spiegle, wie über sie geschrieben wurde. «Das sind alles Schublädli, in die mich die Leute reinstecken wollten. Vielleicht hat mich geschützt, dass ich einfach immer fand: Nö-ö, in diese Schublade gehör ich nicht.»
Ein Thema, dass Journalisten bei Melanie Winiger Interview für Interview immer wieder abklopften, waren die Männer. Immer wieder sollte Melanie Winiger zu ihren Flirts, Partnern oder Männern generell Stellung nehmen: Was sie an ihnen attraktiv fände, wie ihr Traummann aussehe, was für sie ein No-Go sei. Besonders wichtig: Mit wem sie sich trifft oder von wem sie sich gerade getrennt hat.
«Bis heute wird in Texten über mich immer noch eine Schlaufe über meine Ex-Partner gedreht», sagt Winiger. «Who cares? Ich habe mich noch nie über einen Mann von mir definiert.»
Es ist erst fünf Jahre her, als die «Schweizer Illustrierte» einen diffamierenden Text über Melanie Winiger und ihre Ex-Partner veröffentlicht, basierend auf Aussagen von anonymisierten Quellen. Die Headline ist eine rassistisch lesbare Betitelung von Winiger. Die Schauspielerin schaltet, wie sie erzählt, zum ersten Mal und bisher letzten Mal wegen eines Artikels über sie einen Anwalt ein. Die «Schweizer Illustrierte» entfernt den Beitrag und entschuldigt sich öffentlich bei Winiger für den Text mit «herabsetzenden und persönlichkeitsverletzenden Passagen».
Die intensive und oft despektierliche Berichterstattung sei gewiss nicht immer einfach gewesen, sagt Winiger in unserem Gespräch. «Es ist nicht so, als wäre ich auf Öl durch die letzten 25 Jahre gerutscht. Was mich sehr verletzt hat, war die Sache mit meinem Sohn.»
2003, Melanie Winigers Sohn ist noch keine 2 Jahre alt, fragt die Journalistin der «Schweizer Illustrierten» in einem Interview, ob sie als Mutter auch schon an ihre Grenzen gekommen sei. Winiger antwortet: «Absolut, ja. Ich habe manchmal wirklich die Schnauze voll von Noël.»
Wenige Tage später packt der «SonntagsBlick» das Zitat in eine Headline und will von anderen prominenten Müttern wissen: «Ist das skandalös oder ehrlich?» Einige Frauen stärken Winiger den Rücken. Andere, so steht es im Text, sollen ob ihrer ehrlichen Äusserung «erschrocken» sein.
«Ich steh immer noch zu der Aussage und find sie immer noch nicht schlimm», sagt Winiger. Bis heute würde sie in Artikeln zu angeblichen Rabenmüttern aufgeführt. «Hier zeigt sich mal wieder ein gesellschaftliches Problem. Uns wird vorgegeben, wie eine Mutter sein soll. Aber die Mutter gibt es schlicht nicht.»
Dass Frauen mit Kindern eine eigene Person bleiben, dass sie manchmal müde, wütend oder gelangweilt sind, wird ihnen bis heute oft nicht zugestanden. Dass sie Karriere machen können, wurde in den 90ern noch mehr als heute kaum für möglich gehalten.
Den Rabenmüttern oder bad moms widmet Autorin Allison Yarrow ein ganzes Kapitel. Anhand von Frauen, die Kinder und Karriere nicht als Widerspruch behandelten – wie zum Beispiel die Staatsanwältin Marcia Clark, Hauptanklägerin im Prozess gegen O. J. Simpson –, zeigt sie eine Geisteshaltung auf, deren Folgen auch Melanie Winiger am eigenen Leib zu spüren bekam. Yarrow schreibt: «Wenn Frauen in ihrem Job erfolgreich waren, wurde angenommen, dass sie ihre Kinder vernachlässigten.» Und vor allem: Die Medien stachelten die öffentliche Empörung skrupellos an.
Im ersten Schweizer Bericht zur Uno-Frauenrechtskonvention CEDAW, veröffentlicht 2001, steht: «Medien und Werbung verbreiten häufig noch ein stereotypes Bild von Frau und Mann und tragen damit dazu bei, die traditionellen Rollen aufrechtzuerhalten und die tatsächliche Vielfalt der Rollen von Frauen und Mädchen zu negieren.»
(Ratifiziert hat die Schweiz CEDAW, das wichtigste völkerrechtliche Übereinkommen gegen die Diskriminierung von Frauen als einer der letzten Staaten Europas 1997. Fast 20 Jahre, nachdem die Konvention aufgesetzt worden war.)
Keine Überraschung hier.
24 Stunden auf Sendung
Die 90er-Jahre waren für die Medien eine Zeit der grossen Transformationen. Das 24-Stunden-Fernsehen nahm in den USA mit dem Zweiten Golfkrieg seinen Anfang. Ein bis heute andauerndes Zeitalter der permanenten Beschallung begann und schuf sehr viel Sendezeit, die auch nach Kriegsende gefüllt werden wollte.
Allison Yarrow schreibt dazu: «Dieses fortlaufende, süchtig machende Format produzierte eine nicht nachlassende Fixierung auf öffentliche Persönlichkeiten und Menschen, die für Nachrichten sorgten. Am stärksten aber produzierte es eine Fixierung auf Frauen, die an Macht oder Prominenz gelangten.»
In Europa war diese Zeit gezeichnet von erstarkten privaten Fernsehsendern und – befeuert durch medienwirksame Ereignisse wie die Scheidung von Prinzessin Diana (auch sie eine Betroffene offen sexistischer Berichterstattung) oder die Affäre von Bill Clinton – ein immer schamloseres Verhandeln von privaten Angelegenheiten in der öffentlichen Presselandschaft. Es begann ein neues Ausloten der Grenzen des Erträglichen. Und die schienen bei Frauen besonders dehnbar.
Nach dem Interview in der «Schweizer Illustrierten» mit der Frage zu ihrem Sohn entscheidet sich Melanie Winiger, gewisse Fragen zu ihrem Privatleben, vor allem zu ihrem Sohn, nicht mehr zu beantworten.
Was bis heute hängen bleibt
Im Spätsommer 2021, ich habe bereits ein erstes Gespräch für diese Geschichte geführt, schreibt mir ein Arbeitskollege: «Vielleicht bin ich übersensibilisiert, aber das tut richtig weh beim Lesen.»
Seiner Nachricht ist ein «Blick»-Artikel angehängt, Titel: «Francine Jordi über Krebs, Kinder und Männer».
Klingt – interessant.
Zwei Journalisten haben mit der Schlagersängerin ein Interview geführt. Sie stellen Fragen wie:
«Hand aufs Herz: Haben Sie im Gesicht nicht nachgeholfen?»
Oder:
«Mit 44 könnten Sie grundsätzlich noch ein Kind bekommen – auch ohne Mann an Ihrer Seite. Es gibt auch andere Wege. Wäre das keine Option?»
Das Interview bringt eine Erkenntnis, die gar keine Erkenntnis ist, weil wir es ja eigentlich längst wissen: Die 90er haben sich nie wirklich verabschiedet.
Auch heute wird an einem Tag über den Frauenstreik geschrieben und am anderen über die «sinnlichen Lippen» einer gewaltig erfolgreichen Autorin. Journalisten üben sich noch immer in abwertenden Beschreibungen, bezeichnen Femizide als «Eifersuchtsdramen» und stellen Interviewpartnerinnen Fragen, die sie einem Mann kaum stellen würden.
Die Verachtung von Frauen hängt in den Zeitungen, wie sie in den Köpfen hängt.
«Da ist diese tief sitzende Misogynie, die wir alle für eine lange Zeit aufgesogen haben», sagte in diesem Jahr Jennifer Baumgardner, Autorin und wichtige Vertreterin der dritten feministischen Welle in den USA, gegenüber einem kanadischen Magazin. «Oberflächlich spüren wir es vielleicht nicht, aber tief drinnen in uns ist dieses Gefühl von: ‹Wenn jemand verletzt wird oder wenn Hillary nicht gewinnt oder wenn eine Frau vergewaltigt wird, dann ist das ihr Problem.› Mit ihr stimmt was nicht.»
Frauen, die heute in der Blüte ihres Lebens, ihrer Karriere stehen, sind in einer Zeit sozialisiert worden, in der Frauen härter verurteilt wurden als Männer. Weil sie Frauen waren. Auch wenn uns «Girl Power» darüber hinwegtäuschen wollte und es vielen nicht mehr bewusst ist: Power und Prominenz bei Frauen war ungern gesehen und wurde nicht selten hart abgestraft.
Kein Wunder, überlegen sich heute noch Frauen häufiger als Männer, ob sie sich öffentlich zu einem Thema äussern sollen oder nicht. Das belastet. Und durch das Internet und im Speziellen die sozialen Netzwerke haben wir ein neues Vehikel, über welches Flutwellen des Hasses auf Frauen niedergehen. Auf Frauen deutlich häufiger als auf Männer, wie Untersuchungen zeigen.
Hat sich eigentlich irgendwas zum Besseren gewandelt?
Mia Aegerter sagt, dass sie bei ihrem jetzigen Musikverlag zum ersten Mal einer Frau als Verantwortlicher gegenübersass. «Das fühlte sich ganz anders an. Dieses Mal ging es wirklich nur um meine Arbeit. Das war ein Gefühl, das ich bis dahin gar nicht gekannt hatte.»
Für Christiane Brunner ist wichtig, dass heute die Misogynie beim Namen genannt wird. «Damals haben wir Wörter wie ‹sexuelle Belästigung› nicht gekannt. Für mich hätte das einen grossen Unterschied gemacht.»
Wir haben heute Frauen, wo früher noch keine waren – auch wenn sie an vielen Orten noch fehlen. Wir haben die richtigen Wörter – auch wenn häufig noch die falschen gebraucht werden, wenn wir über Frauen schreiben.
«Wir haben noch viel Arbeit zu leisten», sagt Melanie Winiger.
«Frau Winiger, zum Schluss unseres Gespräches will ich Ihnen noch die wichtigste Frage stellen», sage ich: «Wie sieht Ihr Traummann aus?»
Melanie Winiger lacht aus voller Brust. «Alsooo … es ist eine Frau!»